TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/11 W204 2216118-1

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Veröffentlicht am 11.08.2021
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Entscheidungsdatum

11.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z5
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs4
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z4
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W204 2216118-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des M XXXX K XXXX , geb. am XXXX 1999, StA. Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.02.2019, Zl. 1075467302/190184795, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt I. folgender Satz angefügt wird:

„Gemäß § 9 Abs. 4 AsylG wird Ihnen die Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter entzogen.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 26.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 02.02.2016 in Bezug auf den Status des Asylberechtigten abgewiesen. Gleichzeitig wurde dem damals minderjährigen BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

I.2. Die befristet erteilte Aufenthaltsberechtigung wurde nach einem entsprechenden Antrag des BF mit Bescheid vom 02.02.2017 um zwei Jahre verlängert.

I.3. Nachdem der BF einen Antrag auf weitere Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung gestellt hatte, wurde der BF am 21.02.2019 vom zur Entscheidung berufenen Organwalter des BFA im Beisein eines Dolmetschers der Sprache Dari niederschriftlich einvernommen und zu seiner Situation in Österreich und einer möglichen Rückkehr nach Afghanistan befragt. Der BF gab an, es gebe in Afghanistan keine Arbeit, das Leben sei schwer.

I.4. Mit Bescheid vom 22.02.2019, dem BF am 27.02.2019 durch Hinterlegung zugestellt, wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA aus, dass sich die subjektive Situation des BF geändert habe, weil er nunmehr wieder Kontakt zu seiner (Kern-)Familie habe. Er könne sich im Gegensatz zum Zeitpunkt der Zuerkennung seinen Lebensunterhalt in Herat oder Mazar-e Sharif verdienen, wo er bei seinen Familienangehörigen leben könne. Der BF sei auch mittlerweile volljährig und habe eine Menge an Erfahrungen gesammelt, die ihm eine Wiedereingliederung erleichterten.

I.5. Mit Verfahrensanordnung vom 22.02.2019 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.6. Am 12.03.2019 erhob der BF gegen den unter I.4. genannten Bescheid Beschwerde in vollem Umfang und beantragte, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, den Bescheid ersatzlos zu beheben, die befristete Aufenthaltsberechtigung des BF um weitere zwei Jahre zu verlängern, in eventu das Verfahren bis zur Entscheidung eines vom VwGH eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahrens auszusetzen.

I.7. Am 18.03.2019 langte die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein, wobei das BFA auf die Durchführung und Teilnahme an einer Verhandlung verzichtete und die Abweisung der Beschwerde beantragte.

I.8. Ohne Durchführung einer Verhandlung wurde die Beschwerde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31.07.2019, W204 2216118-1/2E, als unbegründet abgewiesen (im Folgenden: Vorerkenntnis).

I.9. Mit Beschluss vom 05.03.2020, E 3400/2019-11, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde ab.

I.10. Infolge einer erhobenen Revision wurde das Vorerkenntnis vom Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 17.11.2020, Ra 2020/19/0233, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

I.11. Am 19.02.2021 zeigte die im Spruch genannte Vertreterin ihre Bevollmächtigung an und legte mehrere Integrationsunterlagen vor.

I.12. Am 22.02.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu seiner Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, seinen Familienangehörigen, seinen Rückkehrbefürchtungen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt.

I.12. Am 02.03.2021 und am 28.07.2021 nahm der BF Stellung zu aktuellen Länderinformationen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Befragung des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 22.02.2021;

-        Einsicht in die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen;

-        Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.

II. Feststellungen:

II.1. Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen M XXXX K XXXX und das Geburtsdatum XXXX 1999. Seine Identität steht nicht fest. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitischen Islam. Seine Muttersprache ist Dari. Der BF beherrscht Dari und Farsi in Wort und Schrift.

Der BF wurde in Qom im Iran geboren. Er übersiedelte mit seiner Familie im Alter von etwa zehn Jahren nach Mazar-e Sharif. Dort lebte er bis zu seiner Ausreise nach Europa über den Iran im März 2015. Der BF lebte vor seiner Reise nach Europa nicht ein bis zwei Jahre im Iran. Seine Familie kommt ursprünglich aus der Provinz Bamyan. Der BF besuchte im Iran und in Afghanistan für vier Jahre die Schule und arbeitete in Afghanistan zwei bis drei Jahre als Hilfsarbeiter im Baubereich.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert. Er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF leidet weder an chronischen oder akuten Krankheiten noch an anderen Leiden oder Gebrechen. Er befindet sich nicht in Therapie und nimmt aktuell auch keine Medikamente ein. Er ist gesund und arbeitsfähig.

II.2. Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der befristeten Aufenthaltsberechtigung:

Der BF stellte am 26.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der in Bezug auf den Status des Asylberechtigten rechtskräftig abgewiesen wurde. In Bezug auf den Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde dem Antrag mit Bescheid vom 02.02.2016 stattgegeben und dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 02.02.2017 erteilt.

Begründend führte das BFA aus, es seien keine Umstände amtsbekannt, dass in Afghanistan eine solch extreme Gefährdungslage bestünde, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehre, einer Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre, oder eine derartige humanitäre Katastrophe vorherrschte, dass das Überleben sämtlicher dort lebender Personen mangels Nahrung und Wohnraum tatsächlich in Frage gestellt wäre. Eine Rückführung nach Afghanistan erscheine derzeit jedoch nicht zumutbar, weil sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle. Dies ergebe sich aus den allgemeinen Länderfeststellungen des BFA. Das BFA beurteilte die Angaben des BF als glaubwürdig und ging daher davon aus, dass der BF minderjährig sei und keinen Kontakt zu seiner Familie habe und er nicht wisse, wo sich diese aufhalte. Das BFA ging aufgrund der Aussage des BF davon aus, dass außer der Kernfamilie keine Verwandten des BF in Afghanistan lebten.

Entgegen seinen Angaben im Verfahren auf internationalen Schutz lebten bereits damals nicht nur die Eltern und Geschwister des BF in Afghanistan, sondern auch zumindest eine Tante und zwei Onkel väterlicherseits sowie zwei Onkel mütterlicherseits jeweils mit ihren Familien. Ein Onkel mütterlicherseits lebte in Bamyan, ein Onkel mütterlicherseits in Mazar-e Sharif. Die Onkel und Tanten väterlicherseits lebten bis auf einen ebenfalls in Mazar-e Sharif. Der andere Onkel wohnte in Herat. Der BF war entgegen seinen Angaben und den darauf basierenden Annahmen des BFA in ständigem Kontakt mit seinen (nahen und entfernten) Verwandten. Der BF wusste damals entgegen seinen Angaben auch den Aufenthaltsort seiner Eltern und Geschwister. Hätte das BFA diese Umstände bereits im Verfahren auf internationalen Schutz gekannt, hätte es dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt.

Am 29.12.2016 stellte der BF einen ersten Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung, dem mit Bescheid vom 02.02.2017, dem BF am 07.02.2017 durch Hinterlegung zugestellt, stattgegeben wurde.

Am 22.01.2019 stellte der BF einen weiteren Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.

II.3. Zu Änderungen beim BF seit der Zuerkennung und der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung:

Der BF ist seit 01.01.2017 volljährig. Er ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Der BF war bei Zuerkennung des subsidiären Schutzes minderjährig und bei Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung erst seit wenigen Wochen volljährig. Im Vergleich zum Zeitpunkt der Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung ist er nunmehr wesentlich älter, erfahrener und verfügt über eine nennenswerte Berufserfahrung als Volljähriger (siehe auch II.5.). Der BF hat zudem eigene Ersparnisse in Höhe von zumindest € 8.000, die er zum Zeitpunkt der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung noch nicht hatte.

Der BF hat jedenfalls seit einem Zeitpunkt nach der Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung wieder Kontakt zu seiner Familie. Diese lebt in Mazar-e Sharif und ist nicht in die Türkei ausgewandert.

II.4. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Die Eltern des BF, seine drei Brüder und zwei Schwestern leben in Mazar-e Sharif. Seine Geschwister besuchen die Schule. Eine seiner Schwestern ist verheiratet. In Mazar-e Sharif, Herat und Bamyan leben weiters die unter II.2. erwähnten Onkel und Tanten mit deren Familien. Die Familienangehörigen sind nicht in die Türkei gereist.

Weiters leben im Iran zwei Tanten und ein Onkel väterlicherseits sowie zwei Tanten mütterlicherseits jeweils mit ihren Familien. Eine dort lebende Cousine ist seit 2016 die Verlobte des BF.

Der BF kann bei einer Rückkehr nach Afghanistan von seinen Angehörigen organisatorisch und finanziell unterstützt werden. Der BF kann bei seiner Familie wohnen. Der BF verfügt über eigenes Erspartes und kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Dem BF wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in die Provinzhauptstadt Bamyans oder nach Mazar-e Sharif kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Kabul und Mazar-e Sharif sind über den Luftweg sicher erreichbar. Bamyan kann von Kabul aus über die Provinz Parwan erreicht werden.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den oben erwähnten Gebieten Afghanistans kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und dort einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten. Der BF kann auf das große Unterstützungsnetzwerk seiner Familie zurückgreifen und bei seinen Familienangehörigen wohnen. Der BF kann sein Erspartes für eine Wiederansiedlung in Afghanistan verwenden.

Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

II.5. Zum (Privat-) Leben des BF in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit dem 26.06.2015 in Österreich auf. Er ist seitdem durchgehend rechtmäßig aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG sowie seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter aufhältig.

Der BF absolvierte in Österreich mehrere Deutschkurse bis zum Niveau B1. Er hat das ÖSD Zertifikat A2 bestanden. Er wohnt mit drei aus Afghanistan stammenden Freunden in einer Mietwohnung. Der BF ist kein Mitglied in einem Verein und er betätigte sich während seines Aufenthalts nicht ehrenamtlich. Er hat keine österreichischen Freunde und es leben keine Familienangehörigen im Bundesgebiet. Er stand von 30.07.2018 bis 07.08.2019 und steht seit 20.01.2020 in einem unbefristeten Dienstverhältnis zur F XXXX B XXXX GesmbH & Co KG. Der Bruttomonatslohn beträgt derzeit € XXXX zuzüglich je 5% Schmutz-/Erschwerniszulage.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

II.6. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 (LIB);

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR);

-        UNHCR: Afghanistan, Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Flight, Relocation or Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, December 2019;

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 (EASO 2019);

-        EASO Country Guidance Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO 2020);

-        EASO Bericht Afghanistan Networks (EASO Netzwerke);

-        EASO: Afghanistan - Key-socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020) (EASO Indikatoren);

-        EASO: Afghanistan - Security Situation (September 2020) (EASO Security);

-        EASO: Afghanistan - State Structure and Security Forces (August 2020) (EASO State);

-        EASO: Afghanistan - Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) (August 2020) (EASO AGEs);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat) und

-        Ecoi.net-Themedossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif (ecoi).

II.6.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel Politische Lage). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktszentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten (LIB, Kapitel Sicherheitslage). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Vorfälle, inkludierend 3.035 Tote und 5.785 Verletzten, was einem Rückgang von 15% zur Vorjahresperiode aber auch der niedrigsten Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 entspricht. Dieser allgemeine Rückgang ist auf einen Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordanschläge von AGEs zurückzuführen. Im ersten Quartal 2021 stieg die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Jahres 2020 um 29 % auf 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1 210 Verletzte). Die Hauptursachen für zivile Opfer im ersten Quartal 2021 waren Bodeneinsätze (38 %), improvisierte Sprengsätze (IEDS; ohne Selbstmordattentate) (31 %) und gezielte Tötungen (19 %). Laut UNAMA waren AEGs im Berichtszeitraum für 61 % der zivilen Opfer verantwortlich, während die Verwendung von improvisierten Sprengsätze durch AEGs im Vergleich zum ersten Quartal 2020 um 117 % zugenommen hat (EASO Security 2021, 1.4.1.). Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel Sicherheitsbehörden).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen). Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. High-Profile Angriffe (HPAs) ereigneten sich insbesondere in der Hauptstadtregion. Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet, wobei die afghanische Regierung daran weder beteiligt war noch von ihr unterzeichnet wurde. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen ist von der Einhaltung der Taliban an ihren Teil der Abmachung abhängig. Die Taliban haben im Abkommen unter anderem zugesichert, terroristischen Gruppierungen keine Zuflucht zu gewähren und innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

Die Taliban haben jedoch die politische Krise aufgrund der Präsidentschaftswahl als Vorwand genutzt, den Einstieg in die Verhandlungen hinauszuzögern. Außerdem werfen sie der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess). Diese Angriffe der Taliban richten sich gegen die ANDSF und nicht gegen internationale Kräfte (EASO Security 2021, 1.3.). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat allerdings trotzdem nicht nachgelassen (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

II.6.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant (LIB, Kapitel Armut und Lebensmittelunsicherheit).

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tägliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft).

Die Lage am afghanischen Arbeitsmarkt, der vom Agrarsektor dominiert wird, bleibt angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Es treten viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, der nicht in der Lage ist, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig, um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, allerdings beratende Unterstützung, die auch Rückkehrende in Anspruch nehmen können (LIB, Kapitel Arbeitsmarkt).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020 Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). In den ländlichen Gebieten leben bis zu 60% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, in den urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel Armut und Lebensmittelunsicherheit).

Afghanistan ist weit von einem Wohlfahrtsstaat entfernt. Afghanen rechnen auch nicht mit staatlicher Unterstützung. Die fehlende staatliche Unterstützung wird von verschiedenen Netzwerken ersetzt und kompensiert (LIB, Kapitel Sozialbeihilfen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Versicherungen).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungssicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden. Im ersten Halbjahr 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 blieben auf einem Niveau, das 11 % über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Die Lebensmittelpreise blieben aufgrund der höheren Preise für importierte Lebensmittel im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch (Stand März 2021). Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt (LIB, Kapitel Covid-19).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO Indikatoren, Kapitel 2.4.1.).

Zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts durch COVID-19 gibt es keine offiziellen Regierungsstatistiken, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat. Die afghanische Regierung warnt vor einer Steigerung der Arbeitslosigkeit um 40%. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen habe in einer Befragung bis Juli 2020 84% angegeben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Fall einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten, bei einer vierwöchigen Quarantäne steigt diese Zahl auf 98%. Insgesamt ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen negativ betroffen sind (LIB, Kapitel Covid-19).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. 2019 waren 10,2 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, während 11,3 Millionen humanitäre Hilfe benötigen (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, Kapitel Bank- und Finanzwesen).

II.6.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.1.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung dafür ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis oder Tazkira. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist allerdings sichergestellt, weniger dagegen auf der Ebene von Distrikten und Dörfern. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Das ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sowie auch spezialisierte Kliniken sind grundsätzlich verfügbar. Außerdem werden sie als in der afghanischen Gesellschaft als schutzbedürftig betrachtet und werden als Teil der Familie gepflegt (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).

II.6.3.1. COVID-19

Der erste offizielle Fall in Afghanistan wurde Ende Februar 2020 festgestellt. Nach einer Umfrage des afghanischen Gesundheitsministeriums hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel Covid-19).

Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Bevölkerung unabhängig von etwaigen Ausgangsbeschränkungen dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel Covid-19).

Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. 53% der Bevölkerung haben nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten (LIB, Kapitel Covid-19).

II.6.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel Ethnische Gruppen).

Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul getrieben. Wichtige Merkmale der Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, sie sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten. Die Lage der Hazara, die während der Taliban –Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt und teils sozial diskriminiert. Sie neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansicht dazu, liberal zu sein. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara – an. In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB, Kapitel Ethnische Minderheiten, Hazara).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen (LIB, Kapitel Kapitel Ethnische Minderheiten, Hazara).

Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB, Kapitel Kapitel Ethnische Minderheiten, Hazara).

II.6.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel Religionsfreiheit).

Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 - 19% geschätzt. Zu der schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und die Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten). 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten, die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen, dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen (LIB, Kapitel Religionsfreiheit).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige schiitische Muslime bekleiden höhere Regierungsposten. Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25-30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB, Kapitel Religionsfreiheit).

II.6.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

II.6.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit).

Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit).

Nach Schließung einiger Grenzübergänge aufgrund der COVID-19 Pandemie sind nunmehr alle Grenzübergänge wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen. Auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt. Ebenso verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führ zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit).

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. In Kabul ist die Fluktuation aufgrund verschiedener Faktoren größer, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht, dass man seine Nachbarn nicht mehr kenne (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel Meldewesen).

II.6.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und –pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt. Sie bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami bekannt ist. Diese Gruppe ist gegen den US-Taliban Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Laut dem unabhängigen Afghanistan-Experten Borhan Osman rekrutieren die Taliban in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos, in Madrassas und ethnisch paschtunisch ausgebildet sind. Die Rekrutierung erfolgt normalerweise über die Militärkommission der Gruppe und den Einsatz in Moscheen sowie über persönliche Netzwerke und Familien von Kämpfern, von denen viele motiviert sind, "die westlichen Institutionen und Werte, die die afghanische Regierung ihren Verbündeten abgenommen hat, zutiefst zu verabscheuen". Anstatt Gehälter zu zahlen, übernehmen die Taliban die Kosten (EASO AGEs, 2.4.). Die Taliban Kämpfer werden von einem Bericht in zwei Kategorien eingeteilt. Einerseits professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Islamischer Staat (IS/Daesh) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Der IS bezeichnet sich in Afghanistan selbst als Khorosan Zweig des IS. Die Stärke des ISKP variiert zwischen 2.500 und 4.000, bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern. Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. In letzter Zeit geriet der ISKP unter großem Druck und verlor auch seine Hochburg in Ostafghanistan. Er soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKO hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfern reduziert (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Verlust des Territoriums ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Der ISKP ist mit den Taliban verfeindet und betrachtet diese als Abtrünnige. Während die Taliban ihre Angriffe auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Al-Qaida:

Al-Qaida und ihr regionaler Zweig, Al-Qaida auf dem indischen Subkontinent operieren trotz wiederholter Behauptungen der Taliban, dass die Gruppe keine Präsenz im Land habe, weiterhin in ganz Afghanistan und sind nach Angaben des Long War Journal in mindestens 21 der 34 Provinzen Afghanistans aktiv (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Während in der Vergangenheit sowohl Al-Qaida als auch die Taliban immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten, bestritten die Taliban kürzlich, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit, zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert. Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

II.6.9. Provinzen und Städte

II.6.9.1. Herkunftsprovinz Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. In der Provinz Balkh leben 1.509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Balkh).

Balkh zählte zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen. Ziel der Anschläge sind Sicherheitskräfte, es fallen ihnen jedoch auch Zivilisten zum Opfer. Im Jahr 2020 gab es 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate). Ungeachtet der Friedensgespräche finden weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt. Es kommt zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren oder Sicherheitsposten. Auch in Mazar-e Sharif kommt es wiederholt zu IED-Anschlägen sowie Angriffen auf bzw. die Tötung von Sicherheitskräften. Zudem wird von der Entführung und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Balkh). Die Präsenz der Taliban in der Provinz Balkh ist im Vergleich zu anderen nördlichen Regionen gestiegen. Laut einer Umfrage stehen 51,13% der Provinz unter Kontrolle der Taliban, wobei sie keinen der Distrikte in Balkh vollständig kontrollieren (EASO Security 2021, 2.5.2.).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

Im Jahr 2020 zählte die Provinz nach Angaben des UN Generalsekretärs zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Balkh). Das Konfliktmuster im Distrikt Mazar-e Sharif, zu dem auch die Provinzhauptstadt gehört, unterschied sich vom allgemeinen Muster in der Provinz Balkh und in den verschiedenen Distrikten. Auch Mazar-e Sharif war einer der Bezirke in der Provinz Balkh, in denen eine geringere Anzahl von Vorfällen gemeldet wurde (EASO Security 2021, 2.5.3.1.).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt sowie im Distrikt Marmul findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

II.6.9.2. Bamyan

Bamyan gilt als die „inoffizielle Hazara-Hauptstadt“ Afghanistans und ist Teil des sogenannten Hazarajat. Nach den Hazara sind Tadschiken und Paschtunen die zweit- und drittgrößte ethnische Gruppe in Bamyan. Etwa 90% der Bewohner von Bamyan sind Schiiten. Die Provinz hat etwa 495.557 Einwohner. Die Provinz ist über einen Flughaften erreichbar. Mit Mai 2021 gibt es keine kommerziellen Flüge von und nach Bamyan. Ein moderner Flughafen ist geplant, aber noch nicht gebaut. Am Boden kann Bamyan von Kabul aus entweder über die Fernstraße Kabul-Bamyan, über die Provinz (Maidan) Wardak oder über Parwan erreicht werden (LIB, Kapitel Sicherheitslage Bamyan).

Die Provinz Bamyan gilt seit einigen Jahren als eine der sichersten Regionen des Landes und hat in den letzten Jahren keine direkten Kämpfe erlebt. Es gibt jedoch Bedenken wegen offensiver Angriffe der Taliban aus einem Distrikt der Nachbarprovinz Baghlan. Im Jahr 2020 gab es 96 zivile Opfer (22 Todesopfer und 74 Verletzte) in der Provinz Bamyan. Dies entspricht einer Steigerung von 1.820% gegenüber 2019. Hauptursache waren improvisierte Sprengkörper, nicht explodierte Kampfmittel bzw. Landminen und gezielte Tötungen. Im September 2020 wurde von Talibanangriffen auf einen Sicherheitsposten der Regierungskräfte bzw. eine Spezialeinheit der Polizei im Distrikt Shebar berichtet. Der Angriff auf den Sicherheitsposten erfolgte nach einem Besuch von Präsident Ashraf Ghani in der Provinz. Die Talibankämpfer waren aus dem benachbarten Baghlan nach Bamyan gekommen. Im November 2020 gab es die größten Anschläge seit dem Sturz des Taliban Regimes 2001, bei dem 17 Personen getötet und über 50 weitere verletzt wurden. Niemand bekannte sich zu dem Anschlag, die Taliban bestritten eine Beteiligung (LIB, Kapitel Sicherheitslage Bamyan).

In der Provinz Bamyan findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

II.6.9.3. Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist die Provinzhauptstadt von Balkh, einer ethnisch vielfältigen Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt wird. Sie hat 484.492 Einwohner und steht unter Kontrolle der afghanischen Regierung (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Balkh).

Das Niveau an willkürlicher Gewalt ist in der Stadt Mazar-e Sharif so gering, dass für Zivilisten an sich nicht die Gefahr besteht, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, III; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

Mazar-e Sharif ist über die Autobahn sowie über einen Flughafen (mit nationalen und internationalen Anbindungen) legal zu erreichen (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Erreichbarkeit). Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 5).

Mazar-e Sharif gilt als Industriezentrum mit großen Fertigungsbetrieben und einer Vielzahl von kleinen und mittleren Unternehmen, welche Kunsthandwerk und Teppiche anbieten. Balkh ist landwirtschaftlich eine der produktivsten Regionen Afghanistans wobei Landwirtschaft und Viehzucht die Distrikte der Provinz dominieren. Die Arbeitsmarktsituation ist auch In Mazar-e Sharif eine der größten Herausforderungen. Auf Stellenausschreibungen melden sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne sehr viele Bewerber und ohne Kontakte ist es schwer einen Arbeitsplatz zu finden. In den Distrikten ist die Anzahl der Arbeitslosen hoch. Die meisten Arbeitssuchenden begeben sich nach Mazar-e Sharif, um Arbeit zu finden. In Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Verfügung. Auch eine Person, die in Mazar-e Sharif keine Familie hat, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden. Des Weiteren gibt es in Mazar-e Sharif eine Anzahl von Hotels sowie Gast- oder Teehäusern, welche unter anderem von Tagelöhnern zur Übernachtung benutzt werden (LIB, Kapitel 22). Mazar-e Sharif gilt im Vergleich zu Herat oder Kabul als wirtschaftlich relativ stabiler. Die größte Gruppe von Arbeitern in der Stadt Mazar-e Sharif sind im Dienstleistungsbereich und als Verkäufer tätig (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Gegenwärtig gibt es in Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren (LIB, Kapitel COVID-19).

Die Unterkunftssituation stellt sich in Mazar-e Sharif, wie in den anderen Städten Afghanistans auch, für Rückkehrer und Binnenflüchtlinge als schwierig dar. Viele Menschen der städtischen Population lebt in Slums oder nichtadäquaten Unterkünften. In Mazar-e Sharif besteht grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum, wie beispielsweise in Teehäusern, zu mieten. In Mazar-e Sharif sind die Häuser zu 66,5% im Eigentum der dort lebenden, während etwa 24,5% ihre Unterkunft mieten (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 5).

Die in der Stadt Mazar-e Scharif und Umgebung befindlichen Orte, an denen die Mehrheit der IDPs und Rückkehrerinnen letztlich unterkommen, teilt UNHCR in drei Kategorien ein: Die erste Kategorie ist das Stadtzentrum, wo die Lebenshaltungskosten vergleichsweise hoch sind. In der zweiten Kategorie befinden sich längerfristige und dauerhafte Siedlungen bzw. Stätten („sites“), welche sich in den Vororten oder am Stadtrand

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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