TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/11 W107 2177410-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.08.2021
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Entscheidungsdatum

11.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W107 2177410-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Sibyll BÖCK über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.10.2017, ZI. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.04.2021 und 15.06.2021, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger Afghanistans, reiste schlepperunterstützt und unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 17.10.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 15.11.2015 wurde der Beschwerdeführer von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seiner Identität, seiner Reiseroute, seinem Fluchtgrund und allfälligen Rückkehrgefährdungen befragt. Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er seine Heimat aufgrund von Feindschaften verlassen habe. Sein Bruder habe eine Beziehung zu einem Mädchen geführt, welches mit einem anderen Mann verlobt gewesen sei. Der Vater dieses Mädchens habe seine Tochter bei einem Spiel an diesen Mann, den Cousin väterlicherseits (vs) eines Kommandanten namens XXXX verloren. Sein Bruder sei mit dem Mädchen geflüchtet; nun fürchte er um sein Leben. Er sei 2011 von Griechenland nach Afghanistan abgeschoben worden, habe dort aber wegen seiner Feindschaften nicht bleiben können und hätte erneut die Flucht ergriffen. In Österreich habe er eine Schwester namens XXXX und einen Bruder namens XXXX .

3. Am 10.08.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA, belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Hierbei gab er zusammengefasst an, aus der Provinz Panjshir, Distrikt XXXX , Dorf XXXX zu stammen. Er sei Tadschike und sunnitischer Moslem, verheiratet mit XXXX , die mit dem gemeinsamen 10-jährigen Sohn namens XXXX bei deren Vater in Kabul leben. Sein Vater, XXXX , sei ca. 76 Jahre alt und lebe gemeinsam mit seiner Mutter XXXX im Heimatdorf. Sein Vater arbeite noch ab und zu in der Landwirtschaft und seine Mutter sei Hausfrau. Seine Schwester XXXX , ca. 30 Jahre alt, lebe seit ungefähr viereinhalb Jahren in Österreich, sei legal eingereist und habe Asylstatus. Er und sein Bruder XXXX , ungefähr 37 Jahre alt, seien in einer Asyl-Unterkunft in Österreich. In Afghanistan würden noch Onkel und Tanten sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits leben.

Er gab an, die Taliban hätten die Tadschiken töten wollen, deswegen sei er mitsamt seiner Familie vor 21 Jahren nach Pakistan und dann weiter in den Iran gezogen, wo sie 10 Jahre verbracht hätten. Unter der afghanischen Regierung mit Präsidenten Karzai seien sie dann nach Afghanistan zurückgekehrt und hätten ein Jahr in Kabul gelebt. Aufgrund der Probleme seines Bruders sei er gezwungen gewesen, erneut zu fliehen. Sein Bruder sei mit seiner nunmehrigen Ehefrau im Iran geblieben und er selbst sei weiter nach Griechenland geflohen. Von Ende 2007 bis Ende 2014 sei er in Griechenland gewesen. Von dort sei er wieder nach Afghanistan abgeschoben worden und habe zehn Tage in Herat verbracht. Sein Schwiegervater habe seine schlepperunterstützte Ausreise finanziert, weil sein Leben in Afghanistan in Gefahr gewesen sei. Er habe ungefähr noch ein Jahr mit seinem Bruder und seiner Ehefrau im Iran verbracht und sei danach nach Österreich ausgereist.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, sein Bruder habe sich nach der Rückkehr der Familie in Afghanistan in eine Frau namens XXXX verliebt. Diese sei jedoch bereits der Familie des Generals XXXX nämlich dem Kommandanten XXXX versprochen gewesen. Sein Bruder und XXXX seien unerlaubt zusammen weggelaufen und die Familie des Generals hätte die Familie des Beschwerdeführers deswegen bedroht. Diese Familie sei sehr wohlhabend und habe großen Einfluss, vor allem in Kabul und in Panjshir. Aufgrund der Bedrohung seien seine Eltern und seine Schwester zurück nach Panjshir geflohen und der Beschwerdeführer sei gemeinsam mit seinem Bruder und XXXX nach Pakistan ausgereist. Dort hätten sein Bruder und XXXX geheiratet und seien gemeinsam mit dem Beschwerdeführer weiter in den Iran gezogen. Auch der Schwiegervater des Beschwerdeführers sei bedroht worden, weshalb dieser ihm nunmehr den Kontakt zu seiner Ehefrau verbiete. Persönlich sei der Beschwerdeführer jedoch nicht bedroht worden, nur seiner Familie habe man gesagt, dass man ihn, seinen Bruder und XXXX ermorden werde. Der Bruder von XXXX sei bereits aus Rache ermordet worden. Sein Vater lebe im Haus seines Bruders im Dorf XXXX , Panjshir.

Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung der Diakonie über den Besuch eines Deutschkurses vom 25.04.2017 bis 22.06.2017, eine Teilnahmebestätigung von StartWien über die Teilnahme am Infomodul „Gesundheit“ am 08.06.2017, eine Kursbestätigung der Diakonie über den erfolgreichen Abschluss des Kurses A0, ein Empfehlungsschreiben von Donauquartier vom 08.08.2017 und eine Bestätigung über die Mitgliedschaft FitInn vom 07.01.2016, vor.

4. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid vom 20.10.2017, ZI. XXXX , wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 iVm § 11 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.), ab. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt; gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Antragstellers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch den damaligen Rechtsvertreter, vollumfängliche Beschwerde.

6. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

7. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.10.2020 wurde der Beschwerdeführer vom Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme in Kenntnis gesetzt und diesem eine Gesamtaktualisierung des Länderinformationsblatts zu Afghanistan vom 13.11.2019 (mit Kurzinformationen bis einschließlich 21.07.2020) mit der Möglichkeit zur Stellungnahme übermittelt.

8. Mit Stellungnahme vom 12.11.2020 gab der Beschwerdeführer u.a. bekannt, da sein Sohn XXXX bei einer Explosion in Kabul ums Leben gekommen sei und es ihm seither psychisch sehr schlecht gehe. Seine Ehefrau sei mittlerweile gemeinsam mit seiner Mutter in den Iran gezogen.

9. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.04.2021 in Anwesenheit des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters, eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie eines länderkundigen Sachverständigen (im Folgenden: SV) eine öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Rahmen welcher der Beschwerdeführer zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen, zu seinem Fluchtgrund und seiner Lebenssituation in Österreich befragt wurde. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen. Die Beschwerdeverhandlung wurde zwecks Vorlage beauftragter Beweismittel auf den 15.06.2021 vertagt.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte die öffentliche, mündliche Beschwerdeverhandlung am 15.06.2021 im Anwesenheit des Beschwerdeführers, seines Rechtsvertreters, eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie eines länderkundigen SV fort. Vertreter der belangten Behörde sind nicht erschienen. Die Einvernahme von XXXX als Zeugin erging mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.06.2021. Außerdem wurde der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , als Zeuge einvernommen.

In die Verhandlung wurde zudem auf die aktuellste, am Tag der Verhandlung den Parteien elektronisch verfügbare Version des Länderinformationsblatts zu Afghanistan (Stand 01.04.2021), welche mit Ladung dem Beschwerdeführer bzw. seinem Rechtsvertreter schriftlich übermittelt wurden, verwiesen.

Der länderkundige SV erstattete im Rahmen der mündlichen Verhandlung ein mündliches Gutachten zum Fluchtvorbringen im Lichte seines bisherigen Vorbringens. Den Parteien wurde in der Verhandlung die Gelegenheit gegeben, zum Gutachten des SV Stellung zu nehmen und Fragen an den SV zu stellen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt, insbesondere durch Einsicht in die im Verfahren vorgelegten Dokumente, Unterlagen und Befragungsprotokolle, Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, Einvernahme von zwei Zeugen, Erstattung eines mündlichen Gutachtens des länderkundigen Sachverständigen, Einsicht in die ins Verfahren eingebrachten Länderberichte, in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Fluchtvorbringen:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angeführten Namen und ist volljähriger Staatsangehöriger von Afghanistan. Seine Muttersprache ist Dari. Er kann in Dari lesen und schreiben. Zudem spricht er noch Deutsch und Griechisch, wobei er nur auf Deutsch lesen und etwas schreiben kann (VP, 29.04.2021, S.3). Der Beschwerdeführer ist der Volksgruppe der Tadschiken zugehörig und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensgemeinschaft des Islam. Der Beschwerdeführer verfügt über keine Tazkira (VP, 29.04.2021, S 13).

Der Beschwerdeführer ist in der afghanischen Provinz Panjshir, Distrikt XXXX , in XXXX , im Tal XXXX geboren und lebte dort gemeinsam mit seinen Eltern (Vater: XXXX und Mutter: XXXX ), seinem älteren Bruder ( XXXX ) und seiner jüngeren Schwester ( XXXX ) in einem durchschnittlich großen Haus, welches - auch aktuell noch - dem Vater gehört. Die Familie besitzt im Heimatdorf zwei landwirtschaftliche Grundstücke, die Ernte diente dem Eigenbedarf (VP, 29.04.2021, S 5). Es ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt, wer aktuell im Haus lebt und wer die Grundstücke bewirtschaftet.

Im Alter von etwa fünf Jahren zog der Beschwerdeführer mit seiner Familie wegen besserer Arbeitsmöglichkeiten nach Kabul, wo er drei Jahre die Schule besuchte und sein Vater als Altwarenhändler arbeitete. Das Geschäft ging gut. Als der Beschwerdeführer etwa acht oder neun Jahre alt war, im Jahr 2001, zog die Familie aufgrund der Einnahme Kabuls durch die Taliban nach Pakistan, XXXX , wohnte im Camp „Babu“ und zog nach einigen Tagen weiter in den Iran, nach XXXX ; sie wohnten dort in einem Mietshaus; der Beschwerdeführer arbeitete als Maler, ebenso sein Vater und sein Bruder. Sie mieteten ein Geschäft, später arbeiteten sie auf selbständiger Basis. Der Beschwerdeführer war im Iran auch als Tischler tätig.

Als in Afghanistan Präsident XXXX an die Macht kam, ging die Familie wieder zurück nach Kabul und wohnte an der alten Adresse. Der Beschwerdeführer war etwa 14/15 Jahre alt (VP S. 5). Dieser ging dann für zwei Monate in das Heimatdorf nach Panjsher, fand aber keine Beschäftigung und kehrte zurück nach Kabul. Anschließend heiratete er XXXX in Kabul traditionell vor einem Mullah in der Moschee XXXX und lebte dort bis zu seiner Ausreise (VP, 29.04.2021, S 5f). Sein Bruder XXXX (Beschwerdeführer zu W107 2177216-1) war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet (VP S. 6). Eine Woche nach der Flucht des Bruders XXXX mit dem Mädchen XXXX aus Kabul nach Pakistan ging auch der Beschwerdeführer nach Pakistan, seine Ehefrau XXXX blieb in Kabul, XXXX , bei deren Eltern und Geschwistern. Der Beschwerdeführer blieb etwa acht Tage in Pakistan und reiste dann illegal in den Iran, dort wohnte er bei seinem Bruder XXXX und dessen nunmehrige – in Pakistan geheiratete - Ehefrau XXXX , blieb dort vier Jahre und arbeitete als Maler sowie als Verkäufer. Ende 2008 ging der Beschwerdeführer nach Griechenland und blieb 3 Jahre - bis 2011- in Athen, arbeitete als Maler und Tischler sowie in einem Olivengarten in Kreta. Er stellte in Griechenland einen Asylantrag, wurde aber abgeschoben – vorher war er sechs Monate inhaftiert - und kehrte im Frühling 2011 zurück nach Afghanistan, Kabul (VP S. 7, 8). Vom Flughafen Kabul fuhr der Beschwerdeführer mit einem Kleinbus direkt nach Herat, blieb dort drei Tage, anschließend reiste er in den Iran, nach XXXX , und wohnte vier Jahre bei seinem Bruder XXXX . In Folge flüchtete er, im Alter von etwa 33 Jahren, gemeinsam mit seinem Bruder XXXX und seiner Frau XXXX über die Türkei nach Griechenland und Nordmazedonien nach Österreich, wo er am 17.10.2015 einen Asylantrag stellte (VP S. 8).

Die Eltern des Beschwerdeführers gingen nach der Flucht des Beschwerdeführers und dessen Bruders zurück in das Heimatsdorf nach Panjshir und lebten etwa fünf Jahre gemeinsam mit der Schwester des Beschwerdeführers in deren Haus (VP S. 6), nach Ende des Talibanregimes zogen alle drei wieder nach Kabul und lebten von den Ersparnissen aus dem Iran. Die Eltern des Beschwerdeführers haben Afghanistan vor vier Jahren in Richtung Iran verlassen (VP, 29.04.2021, S 6). Die Ehefrau des Beschwerdeführers lebt aktuell – nach dem Tod des gemeinsamen Sohnes (OZ 7- seit einem Jahr gemeinsam mit den Eltern des Beschwerdeführers in XXXX , Iran. Der Beschwerdeführer hat mit ihnen regelmäßig telefonischen Kontakt. Die Eltern seiner Ehefrau sowie die Schwiegermutter seines Bruders XXXX leben nach wie vor in Kabul (VP, 29.04.2021, S 13). Die Ausreise des Beschwerdeführers wurde von seinem Schwiegervater finanziert (BFA-Akt, niederschriftliche Einvernahme vom 10.08.2017, S 5). Der Beschwerdeführer hat eine Tante ms in Pakistan und einen Onkel ms in Afghanistan (VP S. 13).

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Sohn des Beschwerdeführers bei einem Anschlag zu Tode gekommen ist (VP S. 9).

Das vom Beschwerdeführer über Auftrag des Bundesverwaltungsgerichts vorgelegte Dokument zur Todesbescheinigung des Sohnes des Beschwerdeführers im Original ist unvollständig. Es fehlt der rechte obere Teil des Dokuments. Zudem fehlt in der dafür vorgesehenen Rubrik der Stempel/ die Unterschrift des zuständigen Staatssicherheitsdienstes. In der Rubrik, betitelt mit „„Die Bestätigung der Polizeisicherheitskommandantur durch Unterschrift oder Stempel“ steht nach Übersetzung durch den Dolmetscher und den länderkundigen Sachverständigen (wörtlich):
„Gemäß der Bestätigung des Emergency Spitals wird der Tod von XXXX -Jan, Sohn von XXXX , bestätigt“.

Als Datum ist angeführt „01.12.92“. Mit den gutachterlichen Ausführungen wird festgestellt, dass die ersten zwei Ziffern des Jahres 1300 nicht immer ausgeschrieben werden (VP 15.06.2021, S.4). Die Rubrik mit dem Titel „Bestätigung des Provinzamtes“ ist leer. Eine Unterschrift/Stempel eines Beamten des Provinzamtes fehlt. Teile des Dokuments sind abgerissen (VP S. 4).

Der Bruder des Beschwerdeführers XXXX (Beschwerdeführer zu W107 2177216-1) flüchtete mit einem Mädchen, das dem Kommandanten XXXX der zur Familie des Generals XXXX gehört, versprochen war (VP S. 10). Der Bruder des Beschwerdeführers und das Mädchen namens XXXX waren Nachbarn in Kabul, sie lebten in nebeneinander befindlichen Häusern (VP S. 7) und verliebten sich ineinander, woraufhin diese gemeinsam aus Afghanistan flüchteten.

Der Beschwerdeführer kennt weder den Kommandanten XXXX noch General XXXX persönlich, er hat diese och nie gesehen (VP S.11). Kommandant XXXX ist einer der mächtigsten Kommandanten der Jamir Islami (VP S. 9), er ist einflussreicher Mann in Afghanistan, verfügt über eigenes Personal und Sicherheitsfirmen (VP S. 8, 9); er ist 2020 gestorben (VP S. 9). General XXXX und Kommandant XXXX sind (bzw. war) in der Regierung beteiligt, General XXXX stammte aus dem Heimatdistrikt des Beschwerdeführers, aus Panjsher.

Mit dem länderkundigen Sachverständigen wird festgestellt wie folgt (wörtlich, auszugsweise):

„ XXXX und sein Verwandter XXXX sind die mächtigsten Männer Afghanistans. XXXX –er ist 2020 verstorben - war einer der mächtigsten Kommandanten des Landes. Wenn der BF angibt, dass er nach Ausreise seines Bruders mit der Verlobten von XXXX noch eine Woche in Afghanistan gewesen ist, hätte XXXX bzw. XXXX mit seinen bewaffneten Leuten sofort das Haus, wo der BF und sein Bruder gewohnt haben, überfallen, das Haus in Brand gesteckt oder den BF und seinen Vater ins Gefängnis gesteckt oder auch beseitigt. Auch heute kann General XXXX sogar Generäle und Minister in Afghanistan beseitigen, wenn er diese wollte. Wenn tatsächlich der BF von XXXX und XXXX gesucht worden wäre, hätten sie den BF auch im Iran ausfindig gemacht, da XXXX und XXXX mit dem iranischen Staatsicherheitsdienst eng zusammenarbeiten und sie sind mit der iranischen Regierung und den iranischen Sicherheitsbehörden in bester Beziehung. Im Zentral-und mittelasiatischen Raum ist privater Austausch zwischen Geheimdiensten üblich. Das heißt, der iranische Geheimdienst hätte den BF an den General XXXX ausgeliefert.“

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Z1, die Ehefrau des Bruders des Beschwerdeführers, Kommandant XXXX kennt; sie weiß nicht, wie dieser aussieht (VP S. 9).

Mit dem länderkundigen Sachverständigen wird zum Thema „Ehrverletzung und Blutfeindschaft“ folgendes festgestellt (wörtlich, auszugsweise):

„Wenn jemand die Verlobte einer Person, besonders eines Kommandanten entführt bzw. die Frau mit jemand anderem weggeht, verstoßt diese gegen die afghanische und islamische Tradition. Das heißt, die Verlobe oder die Frau einer Person ist dessen Ehre. Wenn seine Ehre, sprich Verlobte, mit jemandem anderen wegläuft oder geschändet wird, verdient zuerst der Mann, der die Frau überredet hat, den Tod, dann die Frau. Das heißt, diese Ehrenverletzung kommt einer Blutfeindschaft gleich und die betroffene Person versucht, Blutrache zu nehmen.

Davon sind aber alle engsten Mitglieder der „Täterfamilie betroffen. Für den Kommandanten XXXX und XXXX ist die Ausführung einer Blutrache eine Sache von Minuten. Wenn der BF behauptet, dass XXXX und XXXX auch ihn ins Visier genommen haben wegen seinem Bruder, dann hätten die Leute der beiden Kommandanten sofort das Haus der Familie des BF umzingelt, entweder das Haus in Brand gesteckt oder auf alle Fälle Familienmitglieder, die sich im Haus befunden hätten, getötet.

[….]

Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass der Vater des BF mit seiner Frau und seiner Tochter (Schwester des BF) nach der Flucht seines Sohnes wieder nach Panjshir in sein Heimatdorf zurückgekehrt ist und fünf Jahre dort gelebt hat. XXXX und XXXX stammen aus Panjshir und ihre Hauptstützpunkte sind auch in Panjshir. Sie brauchen nur den Dorfältesten des Dorfes, wo sich der Vater aufhält, benachrichtigen, den Vater des BF und seine Familie in einem Sack verpackt zu XXXX oder dessen Stützpunkt zu bringen. In einem Konflikt der Blutrache oder Ehrverletzung sind auch die Frauen betroffen. Das bedeutet, der Vater des BF müsste unter Umständen seine Tochter als Kompensation dem Kommandanten geben. Wenn eine Schwester des BF, so wie er angegeben hat in der Verhandlung am 29.04.2021, mit seinem Vater nach Panjshir gegangen ist, dann wäre sie ein Mittel der Kompensation, die bei einer Blutrache auch als Lösung für das Problem eingesetzt wird. Das heißt, der Vater des BF müsste unter Umständen dieses Mädchen mit dem Kommandanten verheiraten.

[….]

Mit sieben oder acht Jahren werden Mädchen versprochen und werden noch behalten, sobald sie ins heiratsfähige Alter kommen, werden sie übergeben. Ich möchte darauf hinweisen, dass der Vater des Mädchens auf alle Fälle das Weglaufen des Mädchens aus dem Haus dem Kommandant XXXX gemeldet hätte, denn sonst wäre er auf alle Fälle von XXXX bestraft worden. Wenn er aber gemeldet hätte, dass das Mädchen weggelaufen ist, wäre er verschont worden.

[….]

Eine derartige Vereinbarung wäre in jedem Fall zu verurteilen als bestialischer Akt, egal von welcher Person, es kommt jedoch bedauerlicherweise in Afghanistan vor. Es heißt nicht, dass das Mädchen unbedingt mit dem Kommandanten verheiratet wird, dem das Mädchen entführt wurde, sondern es kann auch mit einem Familienmitglied dieser Personen verheiratet werden, in jedem Fall dient das Mädchen als Sklavin in dessen Haus.“

Es kann nicht festgestellt werden, dass sich die Schwester des Beschwerdeführers, XXXX , in Österreich aufhält (VP S. 10). Eine durchgeführte ZMR Abfrage blieb ohne Erfolg.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat jemals einer konkret gegen seine Person gerichteten Bedrohung oder Verfolgung aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Gesinnung ausgesetzt gewesen wäre oder ihm im Falle seiner Rückkehr eine solche droht.

1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer hält sich seit 2015 durchgehend im Bundesgebiet auf. Er besuchte mehrere Deutschkurse, zuletzt einen A1 Kurs, Zertifikate bestandener Deutschprüfungen legte er nicht vor. Der Beschwerdeführer spricht mäßig Deutsch (VP, 15.06.2021, S.13). Eine Bestätigung über die Absolvierung eines Werte- und Orientierungskurses wurde nicht vorgelegt.

Der Beschwerdeführer besuchte das Info-Modul für Flüchtlinge zum Thema „Gesundheit“ von StartWien. Seine Freizeit verbringt der Beschwerdeführer überwiegend gemeinsam mit anderen Personen, darunter Araber, Türken und auch Österreicher, geht mit diesen in den Park oder unternimmt sportliche Aktivitäten. Ansonsten schaut der Beschwerdeführer zuhause YouTube-Videos, um seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Der Beschwerdeführer verfügt über eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio „FitInn“, ist aber nicht Mitglied in einem Verein.

Der Beschwerdeführer lebt aktuell mit einem Freund namens XXXX , Afghane, in einer privaten Wohnung, bezahlt diesem EUR 200,- Miete und bezieht nach wie vor Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung (VP, 15.06.2021, S. 12). Er bekommt auch Geld von türkischen Freunden.

Der Beschwerdeführer arbeitete für seinen ehemaligen Unterkunftgeber Donauquartier, indem er Aufgaben, wie das Transportieren von Möbeln (BFA-Akt, Empfehlungsschreiben Donauquartier vom 08.08.2017), übernahm. Der Beschwerdeführer ist darüber hinaus nicht ehrenamtlich tätig geworden. Er erkundigte sich mehrmals bei Firmen im Baubereich, bei Restaurants oder Friseursalons für eine Arbeitsstelle, bis dato ist es nicht zu einer Anstellung gekommen (VP, 15.06.2021, S. 12). Nicht festgestellt werden konnte, dass der Beschwerdeführer zwei Monate einer gemeldeten Tätigkeit in einem Großmarkt in Wien nachging (VP 15.06.2021, S.14).

Dem Beschwerdeführer liegt eine bedingte Einstellungszusage als Maler (im Falle eines positiven Asylbescheides oder bei einer Asylstatusänderung mit Arbeitserlaubnis im Malergewerbe) der Firma XXXX GmbH (./1) datiert mit 28.04.2021, vor. Als monatliches Bruttogehalt sind EUR XXXX ,- auf Vollzeitbasis festgehalten. Festgestellt wird, dass bereits im Rahmen der ersten mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 29.04.2021 eine Einstellungszusage derselben Firma, datiert mit 18.11.2020, jedoch ohne Gehaltszusage, vorgelegt wurde.

In Österreich lebt der Bruder des Beschwerdeführers, XXXX , sowie dessen Frau XXXX und deren gemeinsame Kinder. Der Ehefrau des Bruders wurde mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 22.01.2018 der Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 zuerkannt, dem Beschwerdeführer und den gemeinsamen drei Kindern wurde der (erstreckte) Asylstatus im Familienverfahren gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG zuerkannt (VP, 15.06.2021, S. 10; BVwG vom 22.01.2018, w107 2177218-1 et.al.).

Besonders verfestige Sozialkontakte zu diesen oder anderen in Österreich lebenden Personen wurden weder behauptet, noch sind welche hervorgekommen. Der Beschwerdeführer lebt in keiner finanziellen Abhängigkeit, ist auf sich alleine gestellt und bekommt finanzielle Unterstützung in Form der Grundversorgung durch die Caritas (VP S. 12).

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Er ist gesund (VP S. 3), leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung oder sonstigen Beeinträchtigungen und ist arbeitsfähig.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers – Afghanistan:

Bezogen auf die Situation des Beschwerdeführers sind folgende Länderfeststellungen als relevant zu werten (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021):

Länderspezifische Anmerkungen

COVID-19:

Aktueller Stand der COVID-19 Krise in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).

Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.03.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonimische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maß- nahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der CO- VID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druck- platten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.01.2021). Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

ÖffentlichkeitswirksameAngriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen dieANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexerAngriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen dieANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (NYT 26.3.2020; vgl. TN 26.3.2020; BBC 25.3.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 27.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Die Taliban distanzierten sich von dem Angriff (NYT 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020). Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge (AIHRC 28.1.2021).

Kabul

Letzte Änderung: 25.03.2021

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Suro -bi/Sarobi (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463 Personen (NSIA 1.6.2020).

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-2021 (NSIA 1.6.2020). Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten und Schätzungen reichen von 3,5 Millionen bis zu möglichen 6,5 Millionen Einwohnern (AAN 19.3.2019; vgl. IGC 13.2.2020). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 10.3.2019) – zählte, aufgrund iihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horziontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschicken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vgl. NPS Kabul o.D.).

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).

Der Highway zwischen Kabul und Kandarhar gilt als unsicher (TN 7.7.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.2.2019; vgl. UNOCHA 23.2.2020) und kontrollieren Teile der Straße und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.1.2020; vgl. EASO 9.2020).

Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt" gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).

Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019) und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 7.7.2020a).

In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern" (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne" (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft" entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Ein

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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