TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/25 W158 2192321-1

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Veröffentlicht am 25.08.2021
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Entscheidungsdatum

25.08.2021

Norm

AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W158 2192321-1/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Yoko KUROKI-HASENÖHRL über die Beschwerde des G XXXX R XXXX H XXXX , geb. XXXX , StA Afghanistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.03.2019 zu Recht

A)

Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheids wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

G XXXX R XXXX H XXXX wird gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

Der Beschwerde wird hinsichtlich den Spruchpunkten V. und VI. des angefochtenen Bescheids stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Zum Verfahrensgang wird um Wiederholungen zu vermeiden auf das Vorerkenntnis vom 17.04.2019 zu W158 2192321-1/12E verwiesen, mit dem das Verfahren in Bezug auf den Antrag auf internationalen Schutz eingestellt, die Beschwerde teils als unbegründet abgewiesen sowie die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt, demzufolge dem BF ein Aufenthaltstitel erteilt und die übrigen Spruchpunkte ersatzlos behoben wurden.

I.2. Infolge einer dagegen erhobenen außerordentlichen Amtsrevision hob der Verwaltungsgerichtshof diese Entscheidung soweit damit die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung festgestellt wurde und die davon abhängigen Spruchpunkte mit Erkenntnis vom 22.08.2019 zu Ra 2019/21/0149 auf, da sich die Interessensabwägung im Vorerkenntnis nicht innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Grundsätzen bewegt habe.

I.3. In weiterer Folge wurden am 24.02.2020, am 20.01.2021, am 23.02.2021 und am 09.06.2021 weitere Integrationsunterlagen vorgelegt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle und die vom BF vorgelegten Unterlagen;

-        Befragung des BF und seines Lehrherren im Rahmen einer öffentlich mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 20.03.2019;

-        Einsicht in das Strafregister, das Melderegister und das Grundversorgungssystem.

II. Feststellungen:

Der BF führt den Namen G XXXX R XXXX H XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Die Identität kann nicht festgestellt werden.

Der BF wurde in Kabul geboren, besuchte zwölf Jahre die Schule und verfügt über einen afghanischen Universitätsabschluss.

Der BF befindet sich seit dem 01.12.2015 durchgehend im Bundesgebiet. Er besuchte in Österreich mehrere Deutschkurse und hat am 11.07.2017 die Deutschprüfung des ÖIF auf dem Niveau B1 erfolgreich bestanden. Am 31.03.2017 absolvierte er die Prüfung des ÖSD auf dem Niveau A2 erfolgreich. Der BF hat die Übergangsstufe an AHS für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch absolviert. Seit dem 12.07.2017 absolvierte der BF eine Lehre als Metalltechniker bei der N XXXX – T XXXX GmbH. Dort arbeitet er in einem Vierpersonen Team und wird für seine große Genauigkeit geschätzt. Der BF half bei den zweiwöchigen „MÜKIS Muhlviertler Kinderspiele“ freiwillig beim Aufbau, während des Festes als Ordner und beim Wegräumen. Im Jahr 2016 leistete er 34,5 Stunden Remunerationstätigkeiten für den Tourismusverband XXXX . Er hat einen Erste-Hilfe-Grundkurs absolviert und ist seit Juli 2016 als freiwilliger Mitarbeiter im Roten Kreuz XXXX im Bereich Realistische Unfalldarstellung tätig.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten. Er bezieht seit Februar 2018 keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Er lebte in einer Wohngemeinschaft bei einer Österreicherin und lebte danach bis Februar 2021 mit einem afghanischen Freund in einer Wohnung. Der BF hat in Österreich zahlreiche intensive soziale Kontakte zu Österreichern geschlossen. Mit diesen verbringt er seine Freizeit und besucht am Wochenende gelegentlich eine Bar oder eine Diskothek oder spielt mit seinen Freunden Karten.

Der BF hat die Berufsschule im Schuljahr 2020/21 erfolgreich abgeschlossen und die Berufsschulpflicht damit erfüllt. Die vierte Klasse hat der BF mit gutem Erfolg abgeschlossen. Er besuchte seit November 2020 mehrere Kurse in Vorbereitung auf die Lehrabschlussprüfung. Diese hat er am 22.02.2021 bestanden. In weiterer Folge hat er eine Veranstaltung zur „EURO-Norm-Prüfung für Elektro, MIG, MAG, WIG und Autogen. EN ISO 9606-1/2 akkr. Zertifikatsprüfung“ besucht und es wurde für ihn in seinem Lehrbetrieb eine Beschäftigungsbewilligung von 02.06.2021 bis 01.06.2022 für eine Ganztagesbeschäftigung im Ausmaß von 38,5 Stunden pro Woche mit einem monatlichen Entgelt von XXXX brutto erteilt.

Der BF hat in Österreich die Lenkberechtigung für die Klassen AM/B im Dezember 2020 erworben. Er beherrscht Englisch auf dem Niveau B1.

III. Beweiswürdigung:

III.1. Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und dem Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts.

III.2. Die Feststellungen zur Nationalität, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit des BF, zu seinen Sprachkenntnissen, zu seiner Herkunft und seiner Schulbildung in Afghanistan beruhen auf den glaubhaften Angaben des BF während des gesamten Verfahrens. Aufgrund dieser hat auch bereits das BFA entsprechende Feststellungen getroffen. Sie wurden auch bereits dem Vorerkenntnis zugrunde gelegt, zumal sie im Beschwerdeverfahren nicht bestritten wurden. Es besteht daher kein Grund sie nicht auch der nunmehrigen Entscheidung zugrunde zu legen.

III.3. Die Feststellungen zum durchgehenden Aufenthalt des BF seit 01.12.2015 sowie zum Privat- und Familienleben des BF beruhen im Wesentlichen auf dem unstrittigen Akteninhalt, den glaubhaften Aussagen des BF und den unbedenklichen Dokumenten, die die Aussage des BF bestätigen. Der BF konnte im Rahmen der Beschwerdeverhandlung eindrucksvoll seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellen (S. 3f VP). Die Feststellungen zur Lehre des BF beruhen gleichfalls auf den vorgelegten Dokumenten wie auch der Aussage seines Lehrherren.

Die strafrechtliche Unbescholtenheit konnte aufgrund eines aktuellen Strafregisterauszugs festgestellt werden. Die Feststellung, dass der BF seit Februar 2018 und somit bereits seit mehr als drei Jahren keine Leistungen mehr aus der Grundversorgung bezieht, basiert auf einem Auszug aus dem GVS-System. Der BF konnte anlässlich der mündlichen Verhandlung ferner glaubhaft darlegen, dass er nach der Entlassung aus der Grundversorgung zuerst in einer Wohngemeinschaft bei einer Österreicherin wohnte und sich danach eine Wohnung mit einem Landsmann teilte (S. 4 VP). Aus dem ZMR ergibt sich, dass er seit Februar 2021 aus dieser Wohnung ausgezogen ist.

Der BF legte anlässlich der Beschwerdeverhandlung seine umfassende Integration in die österreichische Gesellschaft und Kultur überzeugend dar. Das zeigt sich etwa daran, dass er angab, es bereite ihm, außer dass seine Kollegen Dialekt sprechen und er daher manchmal nicht alles versteht, nichts Schwierigkeiten am Leben in Österreich (S. 4 VP). Die Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich der BF in der österreichischen Gesellschaft und Kultur angekommen fühlt und sich diese (jedenfalls bis zu einem gewissen Grad) auch zu eigen gemacht hat. Das bestätigen etwa auch die zahlreich vorgelegten Empfehlungsschreiben. Auch der BF bestätigte glaubhaft in der Beschwerdeverhandlung, dass er stets mit seinen Freunden die Freizeit verbringe und er am Wochenende mit ihnen Bars oder Diskotheken besuche (S. 5 VP). Diese freundschaftlichen Beziehungen gehen somit auch weit über ein „typisches Privatleben“ hinaus, wie es im Rahmen einer Berufstätigkeit entsteht, zumal der BF auch bei anderen Organisationen freiwillig tätig ist und sich seine Freundschaften nicht allein auf den beruflichen Bereich beschränken (S. 5 VP).

Auch der Zeuge bestätigte dieses Bild des BF als einen verlässlichen, engagierten und in Österreich „angekommenen“ jungen Mann (S. 5f VP). So legte der Zeuge dar, dass ihm der BF bereits bei einer Lehrlingsmesse unter vielen anderen jungen Männern in Erinnerung geblieben ist unter anderem dadurch wie er die nähere Umgebung erklärte (S. 5f VP). Wie die Vorlage der Beschäftigungsbewilligung zeigt, hat der BF in seinem Lehrbetrieb derart überzeugt, dass er auch nach positivem Abschluss der Lehre dort weiter beschäftigt wird.

Im gegenständlichen Fall hat sich somit ergeben, dass beim BF mittlerweile eine besonders gelungene und nachhaltige Integrationsverfestigung im Bundesgebiet vorliegt. Der BF hat nachgewiesen, dass er sprachlich, sozial und wirtschaftlich bestens in die österreichische Gesellschaft integriert ist.

IV. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, was im gegenständlichen Verfahren nicht der Fall ist.

IV.1. Zu Spruchpunkt A)

Einleitend ist klarstellend festzuhalten, dass Verfahrensgegenstand nur mehr die Fragen der Rückkehrentscheidung, der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Frist zur freiwilligen Ausreise sind. Alle anderen Punkte sind rechtskräftig abgeschlossen.

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG nicht erteilt wird. Infolge der rechtskräftigen Erledigung dieser Spruchpunkte ist daher grundsätzlich eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (§ 52 Abs. 2 Z 2 FPG), zumal der BF kein begünstigter Drittstaatsangehöriger ist und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt.

Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben eingegriffen, ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei ist unter Bedachtnahme auf die in § 9 Abs. 2 BFA-VG aufgezählten Kriterien begründet abzusprechen, ob diese zulässig ist. Bei der Prüfung der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung ist somit eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien, vorzunehmen. Dabei sind die Umstände des Einzelfalles unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen.

Es leben keine Familienangehörigen des BF im Bundesgebiet, die Rückkehrentscheidung kann den BF daher nicht in seinem Recht auf Familienleben verletzen. Es ist daher nur ein Eingriff und dessen Rechtfertigung in das von Art. 8 EMRK geschützte Privatleben zu prüfen.

Dabei ist im konkreten Fall zunächst zu beachten, dass durch die vom Verwaltungsgerichtshof in seiner aufhebenden Entscheidung geäußerte Rechtsanschauung klargestellt ist, dass die Interessenabwägung – bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des Vorerkenntnisses im April 2019 –zu Lasten des BF ausgehen hätte müssen (VwGH 16.05.2019, Ra 2019/21/0110). An diese Rechtsanschauung ist das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 63 Abs. 1 VwGG gebunden; eine Ausnahme bildet der Fall einer wesentlichen Änderung der Sach- und Rechtslage. Davon kann daher nur dann abgegangen werden, wenn in dem mittlerweile verstrichenen Zeitraum eine derart maßgebliche Änderung der diesbezüglichen Verhältnisse eingetreten ist, dass es zu einer anderen Entscheidung kommen darf (VwGH 25.03.2021, Ra 2020/21/0480).

Derartige maßgebliche Änderungen sind nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts im vorliegenden Fall aber aus folgenden Gründen eingetreten:

Einerseits ist das die Aufenthaltsdauer von mittlerweile deutlich über fünf Jahren. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis insbesondere auf die damals relativ kurze Aufenthaltsdauer verwiesen und dass in solchen Konstellationen eine außergewöhnliche Situation vorliegen müsste, um eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklären zu können (VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0149, Rn 8f). Während der BF zum Zeitpunkt des Vorerkenntnisses aber gerade erst einmal dreieinhalb Jahre im Bundesgebiet aufhältig war, hält sich der BF mittlerweile deutlich mehr als fünf Jahre im Bundesgebiet auf. Die vom Verwaltungsgerichtshof im aufhebenden Erkenntnis betonte notwendige außergewöhnliche Konstellation wird von ihm aber im Wesentlichen nur bei Aufenthalten bis zu etwa fünf Jahren als erforderlich angesehen (statt vieler VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0158 mwN). Dagegen nimmt mit der Dauer des Aufenthalts das persönliche Interesse des Fremden zu, allerdings ist die bloße Aufenthaltsdauer alleine nicht maßgeblich, sondern es ist vor allem anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit die in Österreich verbrachte Zeit genützt worden ist, sich beruflich und sozial zu integrieren. Das gilt auch bei einem etwas mehr als fünfjährigen Aufenthalt (VwGH 07.10.2020, Ra 2020/14/0414; 05.10.2020, Ra 2020/19/0330; 28.09.2020, Ra 2020/20/0348).

Eine außergewöhnliche Konstellation, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Aufhebung tragend gestützt hat, muss daher im vorliegenden Fall nicht mehr vorliegen. Vielmehr ist der lange Aufenthalt des BF im Bundesgebiet zu seinen Gunsten zu werten, da er (zumindest teilweise) auf ein Behördenverschulden zurückzuführen ist, zumal sowohl das BFA als auch das Bundesverwaltungsgericht die ihnen zustehende Entscheidungsfrist (teils erheblich) überschritten haben (§ 9 Abs. 2 Z 9 BFA-VG).

Der BF hat im Bundesgebiet bis zum Vorerkenntnis – wie auch bereits der Verwaltungsgerichtshof in Rn 8 seiner Entscheidung ausdrücklich anerkannte – besondere Anstrengungen gezeigt, um sich in Österreich sprachlich, beruflich und sozial zu integrieren. Auch danach hat der BF die Zeit weiterhin genutzt um sich in allen Bereichen im Bundesgebiet zu integrieren. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die berufliche Integration des BF. So war er nicht nur in der Berufsschule sehr erfolgreich und hat die Lehre abgeschlossen, sondern wurde und wird auch von seinem früheren Lehrbetrieb weiterbeschäftigt, sodass er seit mittlerweile mehr als dreieinhalb Jahren selbsterhaltungsfähig ist und keine Leistungen aus der Grundversorgung mehr bezieht. Auch sonst hat sich der BF umfassend im Bundesgebiet integriert und etwa seit dem Vorerkenntnis auch den Führerschein bestanden.

Nicht übersehen wird dabei auch, dass der rechtmäßige Aufenthalt des BF nur auf dem – zurückgezogenen – Antrag auf internationalen Schutz beruht und damit unsicher war, was im Rahmen der Interessensabwägung ebenfalls zu berücksichtigen ist (§ 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG). Nichtsdestotrotz durfte der BF zumindest im Zeitraum zwischen der Erlassung des Vorerkenntnisses und der aufhebenden Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs von einem rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet ausgehen, auch wenn die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts rechtswidrig war und die Aufhebung des Verwaltungsgerichtshofs ex tunc wirkt (VwGH 15.06.2021, Ra 2020/08/0025).

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann auch der Frage, ob sich der Fremde bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine Existenzgrundlage schaffen kann, im Rahmen der Interessenabwägung unter dem Gesichtspunkt der Bindungen zum Heimatstaat (§ 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG) Bedeutung zukommen (VwGH 07.06.2021, Ra 2021/18/0167). Im Gegensatz zum Zeitpunkt des Vorerkenntnisses hat sich insofern die Lage in Afghanistan verschlechtert. Nach aktuellsten Medienberichten haben die Taliban mittlerweile die Kontrolle über gesamt Afghanistan. Innerhalb der Städte, auch beziehungsweise besonders Kabul, ist nicht nur die Sicherheitslage angespannt, sondern auch die wirtschaftliche Lage, zumal viele vor den Taliban in die Städte geflüchtet sind. Es steigt daher der wirtschaftliche Druck auf die Städte Afghanistans, was auch Auswirkungen auf den ohnehin angespannten Arbeitsmarkt hat. Der BF stammt aus Kabul und hat im Bundesgebiet eine Lehre abgeschlossen. Trotz seiner Ausbildung wird er aufgrund der derzeitigen Sicherheits- und Versorgungslage nicht in der Lage sein, seine grundlegenden Bedürfnisse zu stillen. Ohne eine detaillierte Prüfung durchzuführen, würde die Situation daher derzeit wohl die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten rechtfertigen, jedenfalls sind die erschwerten Bedingungen zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Darin liegt im Übrigen auch eine maßgebliche Änderung seit der aufhebenden Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs.

Im Rahmen der Abwägung spricht daher für den BF dessen Aufenthalt im Bundesgebiet seit deutlich mehr als fünf Jahren, seine während dieser Zeit erlangte umfassende Integration in allen Lebensbereichen, seine langjährige Selbsterhaltungsfähigkeit im Bundesgebiet, die Schwierigkeiten bei der Sicherung der Existenzgrundlage in Afghanistan, der Umstand, dass die Länge des Aufenthalts des BF (zumindest teils) auf ein Verschulden der Behörden zurückzuführen ist und dass der BF zwischen dem Vorerkenntnis und dessen Aufhebung von einem rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet ausgehen durfte. Dagegen, den BF den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen spricht das hohe öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen, der Umstand, dass sich der BF (die meiste Zeit) der Unsicherheit seines Aufenthaltsstatus bewusst sein musste und die Bindungen des BF zu seinem Herkunftsstaat durch dessen dortiges Aufwachsen und dem Aufenthalt seiner Familie dort.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts führt diese Abwägung daher dazu, dass die privaten Interessen des BF die öffentlichen überwiegen. Die Rückkehrentscheidung ist daher als unzulässig zu erklären. Wie oben bereits festgehalten widerspricht diese Entscheidung auch nicht der Bindungswirkung des aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofs, zumal sich seitdem mehrere entscheidungswesentliche Faktoren in relevanter Weise geändert haben. Zunächst ist das die Aufenthaltsdauer, die nun nach den Leitlinien des Verwaltungsgerichtshofs nicht mehr als kurz zu bezeichnen ist, sodass keine „außergewöhnliche Konstellation“ mehr vorliegen muss. Weiters ist das die weitergehende Integration seit dem Vorerkenntnis sowie die verschlechterte Sicherheits- und Versorgungslage und die damit einhergehenden größeren Schwierigkeiten bei der Sicherung der Existenzgrundlage, was die Bindungen zum Herkunftsstaat des BF schwächt.

Die drohenden Verletzungen des Privat- und Familienlebens beruhen auf Umständen, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides war daher (erneut) stattzugeben und festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Es ist daher nach § 58 Abs. 2 AsylG von Amts wegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG zu prüfen. Nach dessen Abs. 1 ist eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen, wenn dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 1) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird (Z 2). Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist nach § 55 Abs. 2 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung“ zu erteilen

Die Geringfügigkeitsgrenze des § 5 Abs. 2 ASVG beträgt nach § 2 Z 1 Aufwertung und Anpassung nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz, dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz, dem Bauern-Sozialversicherungsgesetz, dem Beamten-Kranken- und Unfallversicherungsgesetz sowie dem Bundespflegegeldgesetz für das Kalenderjahr 2021, BGBl. II Nr. 576/2020 € 475,86. Der Bruttomonatsverdienst des BF übersteigt diesen Betrag bei weitem, sodass dem BF eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen ist.

Aufgrund der auf Dauer unzulässigen Rückkehrentscheidung und dem erteilten Aufenthaltstitel liegen die Voraussetzungen für die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und eine Fristsetzung für eine freiwillige Ausreise aus dem österreichischen Bundesgebiet nicht mehr vor. Die Spruchpunkte V. und VI. waren daher aufzuheben.

IV.2. Zu Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Maßgeblich ist hier allein eine Interessensabwägung nach Art. 8 EMRK, die aber nach dem Verwaltungsgerichtshof – im Allgemeinen – nicht revisibel ist (VwGH 21.07.2021, Ra 2021/18/0243). Ebenfalls geklärt sind die Fragen zur Bindungswirkung von aufhebenden Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofs und wann von der Rechtsanschauung abgegangen werden kann (siehe dazu die oben zitierte Judikatur und weiters etwa VwGH 13.07.2021, Ra 2021/01/0061). Die vorliegende Entscheidung hält sich auch im Rahmen dieser Judikatur.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltsdauer Deutschkenntnisse Ersatzentscheidung Integration Interessenabwägung Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Selbsterhaltungsfähigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W158.2192321.1.00

Im RIS seit

14.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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