TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/31 W135 2192815-1

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Veröffentlicht am 31.08.2021
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Entscheidungsdatum

31.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §31 Abs1

Spruch


W135 2192796-1/15E

W135 2192815-1/16E

W135 2192814-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Ivona GRUBESIC über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX und 3.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.03.2018, Zahlen 1. XXXX , 2. XXXX und 3. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 31.05.2021:

A)

Die Verfahren werden wegen Zurückziehung der Beschwerden gemäß § 28 Abs. 1 iVm § 31 Abs. 1 VwGVG eingestellt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Ivona GRUBESIC über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX und 3.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen die Spruchpunkte II. bis IV. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.03.2018, Zahlen 1. XXXX , 2. XXXX und 3. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 31.05.2021 zu Recht:

A)

I. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und XXXX , XXXX und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 werden XXXX , XXXX und XXXX befristete Aufenthaltsberechtigungen als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von einem Jahr erteilt.

III. Die Spruchpunkte III. und IV. der Bescheide vom 08.03.2018 werden aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Erstbeschwerdeführer ist der Ehegatte der Zweitbeschwerdeführerin. Die Drittbeschwerdeführerin ist die Ehefrau des Bruders des Erstbeschwerdeführers und somit die Schwägerin des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige Afghanistans. Die Beschwerdeführer reisten illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 31.10.2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführer wurden am 01.11.2015 von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes befragt. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer an, er sei mit der Zweitbeschwerdeführerin traditionell verheiratet. Ihr Heimatort sei der Distrikt XXXX in der Provinz Ghazni und ihre Muttersprache sei Dari. Der Erstbeschwerdeführer habe in Afghanistan drei Jahre die Grundschule besucht und habe dort als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft gearbeitet. Die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen gaben an, in Afghanistan keine Schule besucht zu haben und Hausfrauen gewesen zu seien. Die Beschwerdeführer gaben an, die finanzielle Situation ihrer Familie sei schlecht gewesen. Die Beschwerdeführer hätten bereits vor drei Jahren den Beschluss zur Ausreise aus Afghanistan gefasst. Vor zwei Jahren seien sie nach Pakistan geflohen und hätten sich dort im Jahr 2014 für eine Dauer von elf Monaten aufgehalten. Dann seien sie in den Iran weitergereist und hätten sich dort von Anfang 2015 bis Oktober 2015 aufgehalten. Im Oktober 2015 seien sie dann nach Europa geflohen.

Im Rahmen der Erstbefragung gab der Erstbeschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, sein Bruder und dessen Söhne seien in Afghanistan von den Taliban getötet worden. Er habe Angst um sich und seine Familie gehabt. Aus diesem Grund seien sie nach Pakistan geflohen. In Pakistan habe er jedoch nicht arbeiten können und habe auch die Sprache nicht verstanden. Im Iran habe er keine Dokumente mehr gehabt und auch dort habe er nicht arbeiten können. Die Zweitbeschwerdeführerin gab zu ihren Fluchtgründen befragt an, in Afghanistan sei Krieg und sie habe Angst um ihr Leben gehabt. Es sei in Afghanistan nicht sicher gewesen. Auch die Drittbeschwerdeführerin gab zu ihren Fluchtgründen befragt an, sie habe Afghanistan verlassen, weil dort Krieg herrsche. Ihr Ehemann und ihre beiden Kinder seien von den Taliban umgebracht worden. Sie habe Angst, dass sie ebenfalls umgebracht werden würde.

Am 12.12.2017 wurden die Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA oder belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer an, er sei am XXXX in Ghazni, Distrikt XXXX im XXXX in Afghanistan geboren worden. Mit 15 Jahren habe er eine Zeit lang im Iran als Bauarbeiter gearbeitet. Nach seiner Rückkehr nach Afghanistan habe er geheiratet und als Bauarbeiter, sowie als Arbeiter bei Tiefbohrungen gearbeitet. Die Zweitbeschwerdeführerin gab an, sie komme aus demselben Distrikt wie ihr Ehemann, jedoch aus dem Dorf XXXX . Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin hätten vor ungefähr 24 Jahren in XXXX traditionell geheiratet. Die Beschwerdeführer gaben allesamt in der Einvernahme an, sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islams zu bekennen und der Volksgruppe der Hazara zugehörig zu sein. Die Eltern des Erstbeschwerdeführer seien bereits verstorben, sein einziger Bruder sei vor sieben Jahren getötet worden. Der Vater der Zweitbeschwerdeführerin sei verstorben, die Mutter würde mit zwei Halbbrüdern der Zweitbeschwerdeführerin in Kabul leben. Auch gab die Zweitbeschwerdeführerin an, sie habe drei Schwestern und zwei Halbschwestern. Die Drittbeschwerdeführerin gab zu ihrem Familienleben befragt an, sie sei verwitwet. Ihr Ehemann und Bruder des Erstbeschwerdeführers sei vor sie Jahren verstorben. Ihr Ehemann sei afghanischer Staatsbürger gewesen und sie habe sechs Jahre mit ihm zusammengelebt. Ihre beiden Söhne seien wie ihr Mann getötet worden, sie seien drei und fünf Jahre alt und beide afghanische Staatsbürger gewesen. Auch die Eltern der Drittbeschwerdeführerin seien bereits verstorben. Nach dem Tod ihrer Familie habe sie beim Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführerin zunächst in einem Haus in XXXX , dann in Kabul gelebt.

Im Rahmen der Einvernahme legten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin Bestätigungen gemeinnütziger Arbeit in der Gemeinde XXXX sowie bei der Volkshilfe vor.

Mit Bescheiden des BFA vom 08.03.2018 wurden die Anträge der Erst- bis Drittbeschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan (II.) abgewiesen, den Beschwerdeführern Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gegen sie Rückkehrentscheidungen erlassen, festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (III.) und die Frist für ihre freiwillige Ausreise mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (IV.).

Die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten wurde im Wesentlichen damit begründet, dass keine maßgebliche Verfolgung der Beschwerdeführer durch die Taliban glaubhaft gemacht werden konnte. Auch habe die Drittbeschwerdeführerin die Ermordung ihres Ehemannes und ihrer beiden Söhne durch die Taliban nicht glaubhaft machen können. Doch selbst unter der Annahme der Glaubhaftigkeit des Vorbringens würde keine wohlbegründete Furcht vorliegen, da zwischen dem für die Flucht ausschlaggebenden Vorkommnis der Ermordung und der Ausreise aus Afghanistan kein zeitlicher Zusammenhang bestehe. Zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ausgeführt, es sei den Beschwerdeführern nicht zumutbar in ihre Heimatprovinz Ghazni zurückzukehren. Jedoch sei es den Beschwerdeführern möglich, sich eine neue Existenz in Mazar-e Sharif oder Herat aufzubauen.

Mit Verfahrensanordnungen vom 13.03.2018 wurde den Erst- bis Drittbeschwerdeführern eine Rechtsberatung für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

Gegen die Bescheide vom 08.03.2018 richten sich die jeweils fristgerecht eingebrachten Beschwerden, in denen die Beschwerdeführer durch ihre Rechtsvertretung im Wesentlichen ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, mangelhafte Feststellungen, unschlüssige Beweiswürdigung und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend machen. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan sei ernsthaft zu befürchten, dass die Beschwerdeführer aufgrund mangelnder familiärer Unterstützung, ausreichender Mittel für den Lebensunterhalt sowie vor dem Hintergrund der prekären Sicherheitslage in eine lebensbedrohliche Lage geraten würden.

Die Beschwerden samt den Verwaltungsakten langten am 16.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Verfahren wurden der Gerichtsabteilung W164 zugewiesen.

Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.01.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren abgenommen und der Gerichtsabteilung W135 neu zugewiesen.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 31.05.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher die Erst- bis Drittbeschwerdeführer in Anwesenheit eines Dolmetschers und ihrer Rechtsvertretung neuerlich zu den Fluchtgründen und Situation bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat befragt wurden. Es nahm kein Vertreter des BFA an der Verhandlung teil. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung gab der Erstbeschwerdeführer an, sein Name und Geburtsdatum seien falsch protokolliert worden. Sein richtiger Name laute XXXX und sein richtiges Geburtsdatum sei der XXXX .

Im Zuge der mündlichen Verhandlung gab die Rechtsvertretung nach Rücksprache mit den Erst- bis Drittbeschwerdeführern zu Protokoll, dass die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der jeweils angefochtenen Bescheide zurückgezogen werden.

Mit Schriftsatz vom 17.06.2021 legten die Beschwerdeführer, vertreten durch die BBU, Unterlagen zu ihrer Integration in Österreich vor.

Im Schriftsatz vom 23.08.2021 brachten die Beschwerdeführer, vertreten durch die BBU, im Wesentlichen vor, dass nach der Machtübernahme durch die Taliban für Rückkehrer in ganz Afghanistan ein reales Risiko einer unmenschlichen Behandlung unabhängig von deren persönlichen Voraussetzungen bestehe und sei vor diesem Hintergrund auch eine innerstaatliche Fluchtalternative undenkbar. Aufgrund der dramatischen Lageverschlechterung in Afghanistan würden die Voraussetzungen für die Zuerkennung der subsidiären Schutzberechtigung vorliegen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Die Zweitbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Die Drittbeschwerdeführerin führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren.

Der Erstbeschwerdeführer ist der Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin, die Drittbeschwerdeführerin ist die Ehefrau des Bruders des Erstbeschwerdeführers und somit die Schwägerin des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige Afghanistans, Angehörige der Volksgruppe der Hazara, bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam und sprechen Dari als Muttersprache.

Alle Beschwerdeführer sind in Ghazni, Distrikt XXXX geboren. Der Erstbeschwerdeführer hat ein Jahr die Schule besucht und hat keine berufliche Ausbildung. Der Erstbeschwerdeführer hat in Afghanistan als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft, bei Tiefbohrungen, als Bauarbeiter und als Fliesenleger gearbeitet. Im Iran hat der Erstbeschwerdeführer als Bauarbeiter gearbeitet. Die Zweitbeschwerdeführerin und die Drittbeschwerdeführerin sind nicht zur Schule gegangen, haben keinen Beruf erlernt und sind vor ihrer Ausreise aus Afghanistan Hausfrauen gewesen.

Die Beschwerdeführer haben Afghanistan 2012 gemeinsam verlassen und sind nach Pakistan gegangen. Von Pakistan sind die Beschwerdeführer in den Iran weitergereist und sind von dort im Oktober 2015 in Richtung Europa ausgereist. Die Beschwerdeführer reisten unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten am 31.10.2015 ihre Anträge auf internationalen Schutz.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Situation der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Eine Aufenthaltnahme im Herkunftsstaat würde aktuell für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, in Bezug auf die aktuellen Entwicklungen unter besonderer Berücksichtigung der Kurzinformationen (KI) der Staatendokumentation vom 19.07.2021, 02.08.2021, insbesondere aber vom 17.08.2021 und vom 20.08.2021 (LIB), weiters auf der UNHCR-POSITION ZUR RÜCKKEHR NACH AFGHANISTAN August 2021, sowie auf folgenden Medienberichten und Zeitungsartikeln zu den aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage in Afghanistan:

orf.at 17.06.2021: Mehr als 20 Spezialkräfte in Afghanistan getötet (im Folgenden: orf.at

17.06.2021); https://orf.at/stories/3217730/

orf.at 21.06.2021: Taliban setzen Eroberungszug fort (im Folgenden: orf.at 21.06.2021); https://orf.at/stories/3218260/

ARD tagesschau 09.07.2021: Taliban nehmen wichtige Handelsorte ein (im Folgenden: ARD

tagesschau 09.07.2021); https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-taliban-155.html

TheGuardian.com 31.07.2021: Herat residents fear Taliban in their homes and workplaces as it masses outside city (im Folgenden: TheGuardian.com 31.07.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/jul/31/herat-residents-fear-taliban-in-theirhomes- and-workplaces-as-it-masses-outside-city

DerStandard.at 31.07.2021: Taliban greifen afghanische Provinzhauptstädte an (im Folgenden: DerStandard.at 31.07.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128604362/taliban-greifenafghanischeprovinzhauptstaedte-an

CNN 02.08.2021: Taliban take over TV station in strategic city as US airstrikes pound key positions in Afghanistan (im Folgenden: CNN 02.08.2021); https://edition.cnn.com/2021/08/02/asia/afghanistan-us-airstrikes-taliban-intl/index.html

TheGuardian.com 03.08.2021: Taliban on brink of taking key Afghan city as residents told to flee (im Folgenden: TheGuardian.com 03.08.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/aug/03/fears-for-afghan-city-of-lashkar-gah-asfierce-clashes-continue

TheGuardian.com 01.08.2021: Resurgent Taliban escalates nationwide offensive in Afghanistan (im Folgenden: TheGuardian.com 01.08.2021); https://www.theguardian.com/world/2021/aug/01/resurgent-taliban-escalates-nationwideoffensive-in-afghanistan

DerStandard.at 04.08.2021: Taliban reklamieren Autobombenanschlag mit 13 Toten in Afghanistan für sich (im Folgenden: DerStandard.at 04.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128677528/taliban-reklamierenautobombenanschlag- mit-13-toten-in-afghanistan-fuer-sich

DiePresse.com 06.08.2021: Taliban ermorden Sprecher der afghanischen Regierung (im Folgenden: DiePresse.com 06.08.2021); https://www.diepresse.com/6017901/taliban-ermorden-sprecher-der-afghanischenregierung

DerStandard.at 08.08.2021: Taliban erobern Kundus und zwei weitere afghanische Provinzhauptstädte (im Folgenden DerStandard.at 08.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128769336/schwere-kaempfe-im-zentrum-vonnordafghanischer-stadt-kunduz

FAZ.net 08.08.2021: Eine Provinzhauptstadt fällt nach der nächsten (im Folgenden FAZ.net

08.08.2021); https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/taliban-auf-vormarsch-in-afghanistan-kunduseingenommen-17476107.html#void

orf.at 07.08.2021: Taliban erobern zweite afghanische Provinzhauptstadt (im Folgenden: orf.at 07.08.2021); https://orf.at/stories/3223979/

orf.at 08.08.2021: Taliban erobern weitere Provinzhauptstädte (im Folgenden: orf.at 08.08.2021); https://orf.at/stories/3224061/

kurier.at 11.08.2021: Taliban haben Flughafen und große Militärbasis eingenommen (im

Folgenden: kurier.at 11.08.2021); https://kurier.at/politik/ausland/us-geheimdienste-rechnen-mit-baldigem-fall-vonkabul/401469196

DerStandard.at 11.08.2021: Niederlande und Deutschland stoppen Abschiebungen nach

Afghanistan wegen Taliban-Vormarschs (im Folgenden: DerStandard.at 11.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128854309/niederlande-und-deutschland-setzenabschiebungen-nach-afghanistan-aus

DieZeit.de 11.08.2021: Hunderte afghanische Sicherheitskräfte ergeben sich den Taliban (im

Folgenden: DieZeit.de 11.08.2021); https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-08/afghanistan-taliban-soldaten-ergeben-sichkundus

orf.at 12.08.2021: Taliban bringen Herat unter ihre Kontrolle (im Folgenden: orf.at 12.08.2021); https://orf.at/stories/3224653/

orf.at 10.08.2021: EU-Botschafter in Kabul: Afghanistan-Abschiebungen aussetzen (im

Folgenden: orf.at 10.08.2021 Abschiebungen); https://orf.at/stories/3224334/

DerStandard.at 10.08.2021: EU-Botschafter in Kabul fordern Stopp der Abschiebungen nach

Afghanistan (im Folgenden: DerStandard.at 10.08.2021); https://www.derstandard.at/story/2000128824067/eu-botschafter-in-kabul-fordertabschiebe-stopp-nach-afghanistan

orf.at 11.08.2021: Kabul wird laut Geheimdiensten bald fallen (im Folgenden: orf.at 11.08.2021 Vormarsch); https://orf.at/stories/3224411/

BBC, 16.08.2021: Afghanistan: Life in Kabul after the Taliban victory (im Folgenden: BBC 16.08.2021); https://www.bbc.com/news/world-asia-58232815

AP News, 17.08.2021: EXPLAINER: The Taliban takeover, what's next for Afghanistan (im Folgenden AP News 17.08.2021); https://apnews.com/article/taliban-takeover-afghanistan-what-to-know-1a74c9cd866866f196c478aba21b60b6;

Afghanistan Analysts Network, 17.08.2021: Afghanistan Has a New Government: What Will the Country's New Normal Look Like? (im Folgenden: AAN 17.08.2021); https://www.afghan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/afghanistan-has-a-new-government-the-country-wonders-what-the-new-normal-will-look-like/

CNN, 16.08.2021: Calm and fear on the streets of Kabul as jubilant Taliban celebrate their victory (im Folgenden: CNN 16.08.2021) https://edition.cnn.com/2021/08/16/middleeast/kabul-streets-taliban-regime-intl/index.html

ORF.at, 16.08.2021: „Krieg in Afghanistan ist vorbei“, (im Folgenden orf.at 16.08.2021); https://orf.at/stories/3225020/

BBC, 17.08.2021: Afghanistan: Will it become haven for terror with the Taliban in power? (im Folgenden: BBC 17.08.2021); https://www.bbc.com/news/world-asia-58232041

Allgemeine Sicherheitslage

Militärischer Vormarsch der Taliban und Machtübernahme durch die Taliban

Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert. Es kam zu einem Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden, sowie zu verstärkten Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen (LIB, Kapitel Politische Lage).

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung. Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte und verstärkten den Druck in allen Regionen des Landes, darunter auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Im Zeitraum 01.05.2021 bis Anfang Juni 2021 eroberten die Taliban mindestens 12 Distrikte (LIB, Kapitel Politische Lage). Mitte Juni töteten die Taliban aus dem Hinterhalt mehr als 20 Spezialkräfte der afghanischen Regierung beim Versuch, den Distrikt Dawlat Abad in der Provinz Faryab zurückzuerobern (orf.at 17.06.2021). Am 21.06.2021 nahmen die Taliban innerhalb von 24 Stunden weitere acht Bezirke in den Provinzen Takhar, Baghlan und Balkh ein. Lokale Medien berichteten über Taliban-Kämpfer am Rande der Stadt Mazar-e Sharif. Örtliche Politiker riefen Zivilisten auf, sich zu bewaffnen und mit den Sicherheitskräften gegen die Islamisten zu kämpfen (orf.at 21.06.2021).

Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat, sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh, wurden im Juli durch die Taliban erobert (KI 19.07.2021). Der für den Handel mit dem Iran bedeutende afghanisch-iranische Grenzübergang Islam Qala in der Provinz Herat fiel Berichten zufolge ohne Widerstand der dort stationierten Sicherheitskräfte an die Taliban. Zudem brachten die Taliban auch den afghanisch-turkmenischen Grenzübergang bei Torghundi im Norden der Provinz Herat unter ihre Kontrolle (ARD tagesschau 09.07.2021). Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak. Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden. Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt (KI 19.07.2021). Mitte Juli 2021 kontrollierten die Taliban nach Einschätzung des Long War Journals bereits 223 der 407 Distrikte in Afghanistan, während es zum Stichtag 3.6.2021 erst 90 Distrikte waren, welche unter der Kontrolle der Taliban standen (KI 19.07.2021).

Am 25.07.2021 verhängte die afghanische Regierung eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22.00 und 4.00 Uhr (KI 02.08.2021).

Die Taliban umzingelten fast alle größeren Städte Afghanistans. Die USA befürchteten, dass die Hauptstadt Kabul innerhalb von Monaten fallen könnte (orf.at 13.07.2021). Ende Juli / Anfang August 2021 kämpften die Regierungstruppen gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar (KI 02.08.2021). In Lashkar Gah in der Provinz Helmand wurde am 31.07.2021 in verschiedenen Stadtbezirken gekämpft, nachdem die Taliban die Stadt vier Tage zuvor angegriffen hatten. Regierungstruppen flogen unter anderem einen Luftangriff, bei dem ein Krankenhaus mit zehn Betten zerstört wurde (TheGuardian.com 31.07.2021; DerStandard.at 31.07.2021). Berichten zufolge übernahmen die Taliban in der Stadt Lashkar Gah einen Fernsehsender (CNN 02.08.2021). Am 03.08.2021 befanden sich mit Ausnahme eines Bezirkes alle Stadtteile der Stadt Lashkar Gah unter der Kontrolle der Taliban. Die Bewohner der Stadt wurden aufgefordert, die Stadt zu verlassen (TheGuardian.com 03.08.2021).

In der Stadt Herat tobten die Kämpfe nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt (Der Standard.at 31.07.2021). Die Taliban errichteten am Rande der Stadt Herat einen Checkpoint, wodurch sich Herat (Stadt) im Belagerungszustand befand (TheGuardian.com 31.07.2021). Am 12.08.2021 nahmen die Taliban schließlich Herat ein (orf.at 12.08.2021). In Kandahar drangen die Taliban bis ins Zentrum vor. Am 31.07.2021 schlugen mindestens drei Raketen am Flughafen von Kandahar ein (TheGuardian.com 31.07.2021). Ziel dieses von den Taliban verübten Anschlages war die Vereitelung von Luftangriffen der afghanischen Regierungstruppen (TheGuardian.com 01.08.2021). Seit 01.08.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (KI 02.08.2021). Zum Stichtag 2.8.2021 kontrollierten die Taliban einige der südlichen Außenbezirke von Kandahar (CNN 02.08.2021). Am 03.08.2021 wurde Kabul (Stadt) von einem Autobombenanschlag, einer Reihe kleinerer Explosionen und Schusswechseln zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften erschüttert. Die Autobombe zielte auf die Residenz des Verteidigungsministers (TheGuardian.com 03.08.2021). Am 04.08.2021 wurden bei einem Bombenangriff in Kabul drei Menschen verletzt (DerStandard.at 04.08.2021).

Zwei Tage später nahmen die Taliban am 06.08.2021 im Kampf gegen die afghanische Regierung mit Zaranj (Provinz Nimroz) erstmals eine Provinzhauptstadt ein. Die Taliban besetzten den Gouverneurspalast, das Polizeipräsidium und einen Posten nahe der iranischen Grenze (DiePresse.com 06.08.2021). Die Stadt fiel praktisch kampflos an die Taliban (DerStandard.at 08.08.2021). Schon vor den Angriffen der Taliban legten die meisten afghanischen Sicherheitskräfte ihre Waffen nieder und flohen (FAZ.net 08.08.2021). Am selben Tag ermordeten die Taliban den Regierungssprecher beim Freitagsgebet (DiePresse.com 06.08.2021).

Am 07.08.2021 eroberten die Taliban mit Sheberghan in der Provinz Jawzjan eine weitere Provinzhauptstadt innerhalb von 24 Stunden (orf.at 07.08.2021). Nur einen Tag später nahmen die Taliban am 08.08.2021 drei weitere Provinzhauptstädte ein: Sar-e Pul (Provinz Sar-e Pul), Kunduz (Provinz Kunduz) und Taloqan (Provinz Takhar). Damit brachten die Taliban innerhalb von drei Tagen fünf Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle (orf.at 08.08.2021). Nach Angaben des Verteidigungsministeriums starteten die afghanischen Truppen am 08.08.2021 eine Offensive zur Rückeroberung wichtiger Einrichtungen in Kunduz (DerStandard.at 08.08.2021). Am 11.08.2021 erlangten die Taliban auch die Kontrolle über den Flughafen in Kunduz und die Militärbasis bei Kunduz (kurier.at 11.08.2021; DerStandard.at 11.08.2021), nachdem hunderte afghanische Sicherheitskräfte vor den Taliban kapitulierten (DieZeit.de 11.08.2021). Am 09.08.2021 eroberten die Taliban mit Aybak (Provinz Samangan) die sechste Provinzhauptstadt (DerStandard.at 09.08.2021). Berichten zufolge fiel am 10.08.2021 die Provinzhauptstadt Farah (Provinz Farah) an die Taliban. Nach Angaben lokaler Behördenvertreter nahmen die Islamisten die wichtigsten Einrichtungen der Regierung in der Stadt ein, darunter den Gouverneurssitz und das Gefängnis der Stadt (DerStandard.at 10.08.2021; orf.at 10.08.2021 Farah). Auch von einer Eroberung der Provinzhauptstädte Faizabad (Provinz Badakhshan) und Pul-i-Khumri (Provinz Baghlan) durch die Taliban wurde berichtet (orf.at 11.08.2021 Vormarsch).

Auch in den großen Städten Herat, Lashkar Gah und Kandahar wurden die Regierungstruppen von den Taliban weiter bedrängt. Der amerikanische Präsident Joe Biden ordnete Medienberichten zufolge Luftangriffe an, um den weiteren Vormarsch der Aufständischen aufzuhalten (FAZ.net 08.08.2021). Nachdem sich zunächst auch Mazar-e Sharif im Belagerungszustand befand (orf.at 11.08.2021 Vormarsch) und mehrere Tage lang Kämpfe ausgetragen wurden (DieZeit.de 11.08.2021), wurde die Stadt am 14.08.2021 offenbar kampflos von den Taliban eingenommen (orf.at 14.08.2021).

Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen. (KI 02.08.2021)

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (KI 17.08.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden. (KI 17.08.2021)

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen. (KI 17.08.2021)

Es ist noch schwer abzuschätzen, wie die Taliban sich an der Macht verhalten werden (BBC 16.08.2021). Entsprechend herrscht auch in der Bevölkerung Besorgnis. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul versuchten mehr als 10.000 Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, über den Flughafen Kabul das Land zu verlassen (AP News, BBC 16.08.2021/B). Die Mehrheit ist jedoch nicht auf der Flucht, sondern befindet sich abwartend zuhause (AAN 17.08.2021). Befürchtet werden chaotische Zustände oder die Rückkehr zu unterdrückenden und gewaltvollen Verhältnissen wie unter der ersten Talibanherrschaft vom 1996 bis 2001. Der moderate Anstrich, den sich die Taliban zuletzt zu geben versuchten, wird mit Skepsis betrachtet (AP News 17.08.2021, CNN 16.08.2021, ORF 16.08.2021). Die moderaten Aussagen der Führungsspitze und die Gewaltakte, die sich vor Ort ereignen, liegen weit auseinander (BBC 17.08.2021).

Momentan beraten die Taliban in Doha über die zukünftige Ausgestaltung der Regierung. Der Übergang von einer kriegstreibenden, auch zu terroristischen Maßnahmen greifenden, zu einer regierenden Gruppierung wird nach Einschätzung des Afghanistan Analysts Network schwierig (AAN 17.08.2021). Die Taliban gaben an, mit anderen Fraktionen, darunter auch Vertreter der vorhergehenden Regierung, eine „inklusive islamische Regierung“ bilden zu wollen. Islamisches Recht solle durchgesetzt werden, jedoch nach Jahrzehnten des Krieges wieder normales Leben in Sicherheit zurückkehren. Ein beunruhigendes Zeichen für jene, die eine Rückkehr zu Gewalt und Unterdrückung befürchte, ist die geplante Rückbenennung Afghanistan in „Islamisches Emirat Afghanistan“ (AP News 17.08.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. (KI 17.08.2021)

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban. (KI 17.08.2021)

Zivile Opfer

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. (KI 02.08.2021)

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. (LIB, Sicherheitslage)

Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (KI 02.08.2021).

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen. So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams und zehn Minenräumer getötet. Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan. (KI 19.07.2021)

Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandahar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (KI 2.8.2021; HRW 30.7.2021). Einem aktuellen Bericht der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) zufolge haben die Taliban seit dem 16. Juli mindestens 40 Menschen im Bezirk Spin Boldak in der Provinz Kandahar getötet (CNN 2.8.2021).

Die Taliban gingen zuletzt brutal gegen Zivilisten vor. Die EU-Kommission wirft den Taliban Kriegsverbrechen vor. Zivilisten würden willkürlich getötet, ohne jedes Gerichtsverfahren, Frauen würden wieder ausgepeitscht vor den Augen der Öffentlichkeit (ARD tagesschau 5.8.2021). Aus Gebieten, die die Taliban eingenommen haben, werden Massenhinrichtungen gemeldet. Eine Frauenrechtlerin wurde erschossen (DerStandard.at 10.8.2021). Im vergangenen Monat wurden mehr als tausend Zivilisten während der Offensive der Taliban getötet. Zu den Opfern zählten insbesondere Aktivisten, Journalisten, Beamte, Richter und Personen, die sich für einen liberalen islamischen Staat einsetzten (DiePresse.com 6.8.2021). Einem Statement von UNICEF vom 9.8.2021 zufolge wurden in den letzten 72 Stunden mindestens 27 Kinder getötet und 136 Kinder verletzt (UNICEF 9.8.2021).

Es kommt in ganz Afghanistan zu willkürlicher Gewalt. Für Zivilisten besteht die Gefahr, von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit betroffen zu sein.

Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen. (LIB, Ethnische Gruppen)

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime. Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50% der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. (LIB, Paschtunen)

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben. (LIB, Paschtunen)

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. (LIB, Paschtunen)

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet. (LIB, Paschtunen)

Tadschiken

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. (LIB, Tadschiken)

Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst. (LIB, Tadschiken)

Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert. (LIB, Tadschiken)

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. (LIB, Religionsfreiheit)

Situation für Rückkehrer

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf. (KI 17.08.2021)

Kurzinformation der Staatendokumentation vom 20.08.2021:

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen: Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).

UNHCR-POSITION ZUR RÜCKKEHR NACH AFGHANISTAN August 2021 (auszugsweise):

Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert.

1. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten.

2 .Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern.

3. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.

[….]

Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. [….]

[….]

Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.

Laut Stellungnahme der afghanischen Behörde für Flugsicherheit, den afghanischen Luftraum in der Zivilluftfahrt zu meiden, da dieser nur für militärische Flüge freigegeben ist, ist keine Stadt in Afghanistan derzeit erreichbar.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person der Beschwerdeführer:

Die Feststellungen zu den Namen und den Geburtsdaten der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin ergeben sich aus ihren dahingehend übereinstimmenden Angaben in der Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in der Einvernahme vor dem BFA und in der Beschwerde. Die Feststellungen zu dem Namen und dem Geburtsdatum des Erstbeschwerdeführers ergeben sich aus dessen Angaben in der mündlichen Verhandlung.

Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität der Beschwerdeführer (Namen und Geburtsdaten) getroffen wurden, gelten diese ausschließlich für die Identifizierung der Beschwerdeführer im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit sowie Herkunft der Beschwerdeführer gründen sich auf ihren diesbezüglich glaubhaften Angaben; das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen – im gesamten Verfahren gleich gebliebenen – Aussagen der Beschwerdeführer zu zweifeln.

Die Angaben der Beschwerdeführer zu ihrem Familienstand, ihrer Ausreise aus Afghanistan und ihrer Einreise nach Österreich gründen sich auf ihren eigenen Angaben, an denen für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund zum Zweifeln besteht.

Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.

2.2. Zur Situation der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Die Feststellung, dass eine Rückkehr in den Herkunftsstaat Afghanistan für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen aktuell eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde, ergibt sich aus den diesbezüglichen Feststellungen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat.

2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die oben zitierten notorischen Berichte. Im Hinblick auf die aktuellen sicherheitsrelevanten Ereignisse, die zur Machtübernahme der Taliban in Afghanistan geführt haben, wurden u.a. auch aktuelle Medienberichte zur Lage in Afghanistan herangezogen. Diese herangezogenen Quellen zeichnen ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche, weshalb im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass besteht, an der Richtigkeit der herangezogenen Informationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Berichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zu I. A) Einstellung der Verfahren über die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide

Gemäß § 17 VwGVG iVm § 13 Abs. 7 AVG können Anbringen in jeder Lage des Verfahrens zurückgezogen werden. Wird eine Beschwerde zurückgezogen, kommt eine meritorische Entscheidung über die Beschwerde durch das BVwG nicht mehr in Betracht und der Bescheid wird rechtskräftig (vgl. dazu Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht10 (2014) RZ 742).

In welchen Fällen das Verfahren einzustellen ist, regelt das VwGVG nicht. Die Einstellung steht nach allgemeinem Verständnis am Ende jener Verfahren, in denen ein Erledigungsanspruch nach Beschwerdeeinbringung verloren geht, worunter auch der Fall der Zurückziehung der Beschwerde zu subsumieren ist (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren2 [2019] § 28 VwGVG, Anm. 5).

Die Annahme, eine Partei ziehe die von ihr erhobene Beschwerde zurück, ist nur dann zulässig, wenn die entsprechende Erklärung keinen Zweifel daran offenlässt und ein Willensmangel ausgeschlossen werden kann (vgl. VwGH 27.04.2016, Ra 2015/10/0111). Maßgebend ist das Vorliegen einer in dieser Richtung eindeutigen Erklärung (vgl. VwGH 22.11.2005, 2005/05/0320).

Eine solche Erklärung liegt im gegenständlichen Fall vor: Die Beschwerdeführer haben durch ihre Rechtsberaterin in der mündlichen Verhandlung am 31.05.2021 die Zurückziehung der Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide klar zum Ausdruck gebracht (vgl. Seite 21 des Verhandlungsprotokolls). Einer Sachentscheidung durch das Gericht ist damit die Grundlage entzogen.

Eine bloß formlose Beendigung (etwa durch Einstellung mittels Aktenvermerk) eines nach dem VwGVG vom Verwaltungsgericht geführten Verfahrens kommt nicht in Betracht, handelt es sich doch bei der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, ein bei ihm anhängiges Verfahren nicht weiterzuführen, um eine Entscheidung iSd. § 31 Abs. 1 VwGVG. Eine Verfahrenseinstellung ist unter anderem dann vorzunehmen, wenn die Beschwerde rechtswirksam zurückgezogen wurde (VwGH 29.04.2015, Fr. 2014/20/0047).

Da die Beschwerdeführer die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide ausdrücklich zurückgezogen haben, waren die Beschwerdeverfahren mit Beschluss einzustellen.

3.2. Zu II. A)

3.2.1. Zur Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten:

Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ist der Status des subsidiär Schutzberechtigten einem Fremdem zuzuerkennen, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wenn dieser in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, oder dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 2 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG ist die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach Abs. 1 mit der abweisenden Entscheidung nach § 3 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 zu verbinden.

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG 2005 sind Anträge auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offensteht.

Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. Letzteres wurde wiederum durch das Protokoll Nr. 6 beziehungsweise Nr. 13 zur Abschaffung der Todesstrafe hinfällig. Gemäß Art 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher Behandlung oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Der Fremde hat das Bestehen einer aktuellen, also im Fall seiner Abschiebung in den von seinem Antrag erfassten Staat dort gegebenen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten oder infolge nicht ausreichenden Funktionier

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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