TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/29 W203 2200273-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.07.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

29.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AVG §68 Abs1
BFA-VG §21 Abs3 Satz1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W203 2200273-2/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER über die Beschwerde des iranischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Erstaufnahmestelle Ost, vom 20.05.2021, Zl. 1109684705/210277215, zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und der bekämpfte Bescheid wird aufgehoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1.Der Beschwerdeführer stellte am 26.03.2016 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Am 26.03.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass er wegen seiner Konvertierung zum Christentum in Iran große Probleme bekommen habe und deswegen auch im Gefängnis gewesen wäre. Im Falle seiner Rückkehr fürchte er, mit dem Tod bestraft zu werden.

2. Am 29.03.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Der Beschwerdeführer brachte - befragt zu seinem Fluchtgrund - im Wesentlichen vor, dass er im Iran Christen kennengelernt und in der Folge eine Hauskirche besucht habe, weswegen er Probleme bekommen habe und deshalb den Iran habe verlassen müssen. Befragt, welcher christlichen Glaubensrichtung er sich zugehörig fühle, meinte der Beschwerdeführer, dass er sich zur römisch-katholischen Kirche bekenne. In Österreich besuche er jeden Mittwoch und Sonntag einen Taufvorbereitungskurs bzw. die Kirche.

Mit Schriftsatz vom 11.05.2018 legte der Beschwerdeführer der belangten Behörde einen ihm von der (Erz-)Diözese am 10.05.2018 ausgestellten Taufschein vor.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Iran (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Iran zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

In der Bescheidbegründung traf das Bundesamt Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers und zur Lage in seinem Herkunftsstaat und führte aus, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht vorliege, da der Beschwerdeführer keine Verfolgung glaubhaft gemacht habe. Es bestünden auch keine stichhaltigen Gründe, die gegen seine Abschiebung nach Iran sprächen. Im Falle der Rückkehr drohe im keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer erfülle auch nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Iran. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der Beschwerdeführer bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Der Beschwerdeführer habe nicht glaubhaft darlegen können, dass er sich aus tiefer, innerer Überzeugung dem Christentum zugewendet habe, sodass das Bundesamt davon ausgehe, dass die von ihm behauptete Konversion zum Christentum als Scheinkonversion zu deuten sei.

Subsidiärer Schutz wurde dem Beschwerdeführer mit der Begründung nicht zuerkannt, dass diesem im Falle seiner Rückkehr in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Iran nicht drohe.

Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 08.06.2018 zugestellt.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde.

5. Am 09.12.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, in deren Rahmen der Beschwerdeführer insbesondere nochmals zu seinen Fluchtgründen, einer möglichen Rückkehr in seinen Herkunftsstaat sowie zu seinem Leben in Österreich einvernommen wurde. Im Zuge dieser Beschwerdeverhandlung wurden auch zwei Zeugen zur religiösen Einstellung des Beschwerdeführers und zur Ausübung derselben befragt. Das Bundesamt nahm an dieser Beschwerdeverhandlung nicht teil. Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes wurde in der mündlichen Beschwerdeverhandlung das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Iran vom 14.06.2019 in das Verfahren eingebracht und mit dem Beschwerdeführer erörtert.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.02.2020, Zl: W233 2200273-1/31E wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Begründend wurde angeführt, der Beschwerdeführer habe nicht glaubhaft darlegen können, dass er sich aus tiefer innerer Überzeugung dem Christentum zugewendet habe. Die von ihm behauptete Konversion sei als Scheinkonversion zu deuten, die lediglich der Erlangung des Status eines Asylberechtigten dienen solle.

6. Gegen das Erkenntnis des BVwG erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof und machte die Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte geltend.

7. Der Verfassungsgerichtshof lehnte die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 07.06.2021, E 1501/2020-19, ab.

8. Mit Bescheid des BFA vom 24.09.2020, Zl:1109684705/200704990, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen sowie die Abschiebung nach Iran für zulässig erklärt. Weiters wurde ein Einreiseverbot von 2 Jahren erlassen.

9. Der Ausreiseverpflichtung entzog sich der Beschwerdeführer, indem er unter Umgehung der Grenzkontrollen illegal nach Deutschland reiste, wo er am 21.07.2020 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz stellte (Wiederaufnahmeersuchen gem. Art. 18 1d Dublin III VO). Am 26.02.2021 wurde der Beschwerdeführer von Deutschland nach Österreich als zuständigem Staat nach den Bestimmungen der Dublin III-VO überstellt.

Gegenständliches Verfahren:

10. Am 05.05.2021 wurde der Beschwerdeführer vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Zum neuen Fluchtgrund befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er „homosexuell geworden“ und infolge dessen auch an Hepatitis C erkrankt sei. Aufgrund der Konversion und seiner Homosexualität befürchte er, im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland getötet zu werden. Zur Homosexualität befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe „das Gefühl schon immer gehabt“, aber erst vor zwei Jahren festgestellt, kein Interesse am weiblichen Geschlecht mehr zu haben. Seine Freundin habe ihn mit einem Freund zuhause „erwischt“ und ihn anschließend verlassen. Der damalige Freund sei derzeit in Frankreich aufhältig. Er habe seit einem Monat einen Partner, den er vorstellen könne. Dieser heiße Andi und sei Österreicher. Er habe in der Vernehmung vor dem BVwG auch bereits seine Homosexualität erwähnt, der Richter habe das aber nicht protokolliert.

11. Mit Bescheid vom 20.05.2021, Zl 1109684705/210277215 wies die belangte Behörde den Folgeantrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass dessen Abschiebung nach Iran zulässig sei (Spruchpunkt V.) und dass eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht bestehe (Spruchpunkt VI.). Es wurde ein auf zwei Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte die belangte Behörde auf das Wesentliche zusammengefasst aus:

Der Beschwerdeführer habe nicht glaubhaft darstellen können, dass er bereits seit zwei Jahren homosexuell sei. Er hätte dies bereits im Vorverfahren darlegen können. Sein angeblicher Freund Andi, dessen Familienname er nicht kenne, habe sich beim BFA nicht zur Kontaktaufnahme gemeldet, somit könne das Vorbringen mangels Zeugeneinvernahme auch nicht untermauert werden. Es sei dem Beschwerdeführer nicht gelungen, seine Sexualpartner zu benennen oder deren Kontaktdaten bekannt zu geben. Somit sei das neuerliche Vorbringen als unglaubwürdig und nicht nachvollziehbar zu werten. Zur nachweislichen Hepatitis C Erkrankung sei festzustellen, dass aus der aktuellen Rechtsprechung des EGMR und auch des VwGH abgeleitet werden könne, dass im Allgemeinen ein Fremder nicht das Recht habe, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden. Dies selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leide oder selbstmordgefährdet sei, solange es zwar nicht gleichwertige, aber grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielland gäbe. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führe die Abschiebung zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Diese Gründe lägen beim Beschwerdeführer nicht vor.

Im Hinblick auf die vorgebrachten Fluchtgründe sei kein glaubhafter geänderter Sachverhalt festzustellen, weswegen die Abschiebung nach Iran als zulässig erachtet werde. Die belangte Behörde komme zum Schluss, dass der objektive und entscheidungsrelevante Sachverhalt unverändert geblieben sei. Der Folgeantrag des Beschwerdeführers sei daher wegen entschiedener Sache zurückzuweisen gewesen.

12. Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde vom 07.06.2021, in der im Wesentlichen wie folgt vorgebracht wird:

Der Folgeantrag sei damit begründet, dass sich der Beschwerdeführer seit etwa zwei Jahren seiner Homosexualität bewusst sei und diese mittlerweile offen auslebe. Die belangte Behörde habe den Beschwerdeführer nur oberflächlich befragt und keinerlei darüberhinausgehende Ermittlungsschritte gesetzt. Weder habe es eine Befragung des Freundes, mit dem der Beschwerdeführer mittlerweile keinen Kontakt mehr habe, noch der ehemaligen Lebensgefährtin gegeben. Der Beschwerdeführer beantrage die Einvernahme der damaligen Lebensgefährtin unter Bekanntgabe von deren Kontaktdaten. Weiters wäre die belangte Behörde ihrer Manuduktionspflicht nicht nachgekommen, indem sie dem Beschwerdeführer die Lage für Homosexuelle in Iran nicht erläutert habe und auch im Bescheid nicht umfassend begründet habe. Es liege ein entscheidungsrelevanter geänderter Sachverhalt vor. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung hätte die Behörde die Flüchtlingseigenschaft aufgrund der Homosexualität des Beschwerdeführers zuerkennen müssen.

13. Einlangend am 09.06.2021 legte die belangte Behörde die Beschwerde samt zugehörigem Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

14. Mit Beschluss vom 15.06.2021, wurde der Beschwerde gem. § 17 Abs. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Am 26.02.2020 wurde das erste Asylverfahren des Beschwerdeführers rechtskräftig mit der Begründung abgeschlossen, dass sich das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, ihm drohe aufgrund der Konversion zum Christentum in Iran Verfolgung durch das Regime, als nicht glaubhaft erwiesen habe.

In keiner Phase des gesamten Erstverfahrens brachte der Beschwerdeführer seine Homosexualität als Fluchtgrund vor.

1.2. Am 26.02.2021 beantragte der Beschwerdeführer neuerlich die Zuerkennung von internationalem Schutz und begründete diesen Antrag – neben der Wiederholung des bereits im Erstverfahren getätigten Fluchtvorbringens - damit, dass er nun seit etwa zwei Jahren homosexuell sei und ihm deswegen Verfolgung in seinem Herkunftsstaat drohe.

1.3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Folgeantrag des Beschwerdeführers wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.

1.4. Zur Lage von sexuellen Minderheiten im Iran:

Letzte Änderung: 01.07.2021 (Staatendokumentation.at; abgefragt am 08.07.2021)

Mitglieder sexueller Minderheiten sind mitunter Belästigungen und Diskriminierung ausgesetzt, obwohl über das Problem aufgrund der Kriminalisierung und Verborgenheit dieser Gruppen nicht ausreichend berichtet wird (FH 3.3.2021). Verboten ist in Iran jede sexuelle Beziehung, die außerhalb der heterosexuellen Ehe stattfindet, also auch homosexuelle Beziehungen, unabhängig von der Religionsangehörigkeit (ÖB Teheran 10.2020; vgl. FH 3.3.2021, GIZ 12.2020c). Auf homosexuelle Handlungen, welche auch als 'Verbrechen gegen Gott' gelten, steht offiziell Auspeitschung; sie können auch mit dem Tod bestraft werden (dies besagen diverse Fatwas, die von beinahe allen iranischen Klerikern ausgesprochen wurden) (ÖB Teheran 10.2020; vgl. HRW 13.1.2021, GIZ 12.2020c). Die Beweisanforderungen sind allerdings sehr hoch, man braucht vier männliche Zeugen. Bei Fällen, in denen zu wenige Zeugenaussagen vorliegen, gibt es ein Ermittlungsverbot. Zudem gibt es hohe Strafen für Falschbeschuldigungen. Bei Minderjährigen und in weniger schwerwiegenden Fällen sind Peitschenhiebe vorgesehen. Auch hierfür sind zwei männliche Zeugen erforderlich (AA 26.2.2020). Im Falle von 'Lavat' (Sodomie unter Männern) ist die vorgesehene Bestrafung die Todesstrafe für den 'passiven' Partner, falls der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattfand, ansonsten für den Vergewaltiger (ÖB Teheran 10.2020). Auf 'Mosahegheh' (Lesbianismus) stehen 100 Peitschenhiebe. Nach vier Wiederholungen kann aber auch hier die Todesstrafe verhängt werden (ÖB Teheran 10.2020; vgl. AA 26.2.2020). Die Bestrafung von gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männern ist meist schwerwiegender als die für Frauen (ÖB Teheran 10.2020; vgl. US DOS 30.3.2021). Gleichfalls ist Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht verboten (ÖB Teheran 10.2020; vgl. HRW 13.1.2021). Die Todesstrafe für Homosexualität wurde in den letzten Jahren nur punktuell und meist in Verbindung mit anderen Verbrechen verhängt. Da Homosexualität offiziell als Krankheit gilt, werden Homosexuelle vom Militärdienst befreit und können keine Beamtenfunktionen ausüben (ÖB Teheran 10.2020).

Aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und sozialer Ausgrenzung ist ein öffentliches 'Coming out' grundsätzlich nicht möglich (AA 26.2.2020). Auch werden Missbräuche durch die Gesellschaft oft nicht angezeigt, was Mitglieder sexueller Minderheiten noch anfälliger für Menschenrechtsverletzungen macht (ÖB Teheran 10.2020).

2. Beweiswürdigung

Die Feststellungen zum maßgeblichen Sachverhalt ergeben sich aus dem Verwaltungsakt, dem Verfahren vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Beschwerde. Der verfahrensmaßgebliche Sachverhalt entspricht dem oben angeführten Verfahrensgang und konnte aufgrund der vorliegenden Aktenlage zweifelsfrei festgestellt werden.

Die Feststellungen zur Lage von sexuellen Minderheiten in Iran beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.07.2021. Angesichts der Seriosität der darin angeführten Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zu Spruchpunkt A) (Stattgabe der Beschwerde)

3.1.1. Infolge des in § 17 VwGVG normierten Ausschlusses der Anwendbarkeit des 4. Hauptstücks des AVG im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, welcher auch die in § 68 Abs. 1 AVG normierte Zurückweisung wegen entschiedener Sache umfasst, kommt eine unmittelbare Zurückweisung einer Angelegenheit aufgrund der genannten Bestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich nicht in Betracht. Davon unberührt bleibt, dass das Verwaltungsgericht im Verfahren über Bescheidbeschwerden zur Überprüfung der rechtmäßigen Anwendung von § 68 AVG in Bescheiden durch die Verwaltungsbehörde berufen ist (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 7 BFA-VG, K10.; vgl. auch VfSlg. 19.882/2014). Sache des vorliegenden Beschwerdeverfahrens im Sinne des § 28 Abs. 2 VwGVG ist somit die Frage, ob das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Recht den neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen hat.

§ 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG 2014 enthält selbst keine Anordnung, wie über eine Beschwerde zu entscheiden ist, sondern knüpft lediglich - im Hinblick auf die im Asylverfahren geltende Unterteilung in das Zulassungsverfahren und zugelassene Verfahren - an die Stattgebung einer gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren erhobenen Beschwerde an und sieht als Rechtsfolge einer solchen Stattgebung die Zulassung des Verfahrens vor. Dabei nahm der Gesetzgeber unverkennbar - und wie sich nicht zuletzt auch aus den Erläuterungen der Regierungsvorlage zum FNG-Anpassungsgesetz (RV 2144 BlgNR 24. GP S. 14) zu § 21 Abs. 3 BFA-VG ergibt auf eine - bezogen auf den Gegenstand des Beschwerdeverfahrens - vom VwG nach § 28 VwGVG 2014 getroffene Sachentscheidung Bezug. Eine solche liegt etwa dann vor, wenn das VwG zum Ergebnis gelangt, entgegen der Ansicht der Verwaltungsbehörde stelle sich anhand des (allenfalls nach ergänzenden Ermittlungen) festgestellten Sachverhaltes eine Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz als nicht dem Gesetz entsprechend dar. Bei einer solcherart die behördliche Antragszurückweisung aufhebenden Entscheidung handelt es sich aus verfahrensrechtlicher Sicht um eine gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG 2014 in Form eines Erkenntnisses zu treffende Entscheidung. (VwGH E vom 05.10.2016, Ra 2016/19/0208)

Dem geänderten Sachverhalt muss nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Entscheidungsrelevanz zukommen (vgl. VwGH 15.12.1992, 91/08/0166; ebenso VwGH 16.12.1992, 92/12/0127; 23.11.1993, 91/04/0205; 26.04.1994, 93/08/0212; 30.01.1995, 94/10/0162). Die Verpflichtung der Behörde zu einer neuen Sachentscheidung wird nur durch eine solche Änderung des Sachverhalts bewirkt, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die Abweisung des Parteienbegehrens gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann (VwSlg. 7762 A; VwGH 29.11.1983, 83/07/0274; 21.02.1991, 90/09/0162; 10.06.1991, 89/10/0078; 04.08.1992, 88/12/0169; 18.03.1994, 94/12/0034; siehe auch VwSlg. 12.511 A, VwGH 05.05.1960, 1202/58; 03.12.1990, 90/19/0072). Dabei muss die neue Sachentscheidung - obgleich auch diese Möglichkeit besteht - nicht zu einem anderen von der seinerzeitigen Entscheidung abweichenden Ergebnis führen. Die behauptete Sachverhaltsänderung hat zumindest einen "glaubhaften Kern" aufzuweisen, dem Asylrelevanz zukommt (VwGH 21.3.2006, 2006/01/0028, sowie VwGH 18.6.2014, Ra 2014/01/0029, mwN). Neues Sachverhaltsvorbringen in der Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Bescheid nach § 68 AVG ist von der "Sache" des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht umfasst und daher unbeachtlich (VwGH vom 24.6.2014, Ra 2014/19/0018, mwN).

Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 AVG die Abänderung eines der Berufung (nun: Beschwerde) nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß § 68 Abs. 2 bis 4 AVG findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.

Im Hinblick auf wiederholte Anträge auf internationalen Schutz entspricht es der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung – nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen – berechtigen und verpflichten kann, der rechtlich für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen Relevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Die behauptete Sachverhaltsänderung muss zumindest einen „glaubhaften Kern“ aufweisen, dem Relevanz zukommt.

In jenem Fall, in dem die Behörde den verfahrenseinleitenden Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen hat, ist „Sache des Beschwerdeverfahrens“ vor dem Bundesverwaltungsgericht ausschließlich die Frage, ob diese Zurückweisung zu Recht erfolgt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat diesfalls zu prüfen, ob die Behörde auf Grund des von ihr zu berücksichtigenden Sachverhalts zu Recht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen früheren Asylverfahren keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist. Die Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags auf Grund geänderten Sachverhalts hat – von allgemein bekannten Tatsachen abgesehen – im Beschwerdeverfahren nur anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen.

Eine neue Sachentscheidung ist - wie sich aus § 69 Abs. 1 Z 2 AVG ergibt - auch im Fall desselben Begehrens aufgrund von Tatsachen und Beweismitteln, die schon vor Abschluss des Verfahrens bestanden haben, ausgeschlossen, sodass einem Folgeantrag, der sich auf einen vor Beendigung des Verfahrens über den ersten Antrag auf internationalen Schutz verwirklichten Sachverhalt stützt, die Rechtskraft der über den Erstantrag absprechenden Entscheidung entgegensteht.

Behauptete Tatsachen, die bereits zur Zeit des ersten Asylverfahrens bestanden haben, die der Asylwerber jedoch in diesem nicht vorgebracht hat, sind von der Rechtskraft der über den Erstantrag absprechenden Entscheidung erfasst (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 28.08.2019, Ra 2019/14/0091, sowie die ausführliche Zusammenfassung der zu § 68 Abs. 1 AVG ergangenen Rechtsprechung in VwGH 18.12.2019, Ro 2019/14/0006, wobei der gegenständliche Fall vom dort an den Europäischen Gerichtshof gerichteten Ersuchen um Vorabentscheidung wegen der anders gelagerten Ausgangssituation nicht berührt wird).

3.1.2. Fallbezogen ist somit zu prüfen, ob die belangte Behörde zu Recht zum Ergebnis gekommen ist, dass im Vergleich zum am 26.02.2020 rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren keine wesentliche Sachverhaltsänderung eingetreten ist:

Der Beschwerdeführer stützt den Folgeantrag – neben der Wiederholung des bereits im Erstverfahren getätigten Fluchtvorbringens - nun erstmals (auch) auf eine ihm im Herkunftsstaat drohende asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner Homosexualität.

Der Beschwerdeführer hat im gegenständlichen Verfahren - im Gegensatz zur Auffassung der belangten Behörde – einen neuen, geänderten Sachverhalt vorgebracht, in dem er dargetan hat, dass er seit zwei Jahren homosexuell sei und sich erst seit kurzem öffentlich zu seiner Homosexualität bekenne. Aufgrund des neuen Vorbringens ergibt sich eine potentiell asylrelevante Änderung des Sachverhalts nach rechtskräftigem Abschluss des Erstverfahrens.

Wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt, kann im Vorhinein nicht ausgeschlossen werden, dass dem Vorbringen des Beschwerdeführers Asylrelevanz zukommt: Als Zugehöriger einer sexuellen Minderheit in Iran wäre es möglich, dass der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Asyl erfüllt. Wenn auch vieles – insbesondere die unmittelbare zeitliche Nähe zwischen der Rückkehrentscheidung und dem Zeitpunkt, zu dem der Beschwerdeführer seinen Angaben entsprechend sich entschlossen hat, seine neue sexuelle Orientierung öffentlich zu machen - darauf hindeutet, dass der Beschwerdeführer mit seinem nunmehrigen Vorbringen seine Chancen, internationalen Schutz zu erlangen, zu erhöhen versuchte, so wäre doch geboten gewesen, in einem meritorischen Verfahren das Vorliegen einer etwaigen Bedrohung des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr zu prüfen, und nicht – wie gegenständlich erfolgt - den Antrag ohne inhaltliche Überprüfung wegen entschiedener Sache zurückzuweisen. Aus den Berichten der Staatendokumentation geht hervor, dass insbesondere männliche Homosexuelle in Iran schwerwiegenden Repressalien bis hin zur Todesstrafe ausgesetzt sein können. Die belangte Behörde wäre daher verpflichtet gewesen, sich mit dem diesbezüglichen Vorbringen des Beschwerdeführers inhaltlich näher auseinanderzusetzen, insbesondere die genannten Zeugen zu befragen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes genügt es, dass aufgrund der neu vorgebrachten Tatsachen eine andere Beurteilung jener Umstände, die der angefochtenen Entscheidung zu Grunde lagen, nicht von vornherein ausgeschlossen und daher die Erlassung eines inhaltlich anderslautenden Bescheides zumindest möglich ist (vgl. etwa VwGH 24.03.2011, 2007/07/0155, m.w.N.). Dies ist verfahrensgegenständlich – vor allem aufgrund des Vorbringens des Beschwerdeführers – der Fall. Folglich liegt hinsichtlich des Vorbringens zumindest ein „glaubhafter Kern“ der neu vorgebrachten Tatsachen vor (vgl. wieder VwGH 18.12.2019, Ro 2019/14/0006).

Die belangte Behörde ist daher zu Unrecht zum Ergebnis gekommen, dass im Vergleich zum ersten Asylverfahren keine wesentliche Sachverhaltsänderung eingetreten ist. Der angefochtene Bescheid ist demnach zu beheben.

Da die einzelnen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, war dieser zur Gänze zu beheben.

3.1.3. Für das fortgesetzte Verfahren ergibt sich, dass durch die Aufhebung des Bescheides der verfahrensgegenständliche Asylantrag des Beschwerdeführers wieder unerledigt ist und über diesen von der belangten Behörde neuerlich - nämlich meritorisch - abzusprechen ist (vgl. VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0314).

3.1.4. Eine Verhandlung konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen (vgl. Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Auflage [2018] § 24 VwGVG Anm. 7a mit Hinweisen zur Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes).

3.1.5. Es war daher ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Spruchpunkt A) zu entscheiden.

3.2. Zur Unzulässigkeit der Revision [Spruchpunkt B)]

3.2.1. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

3.2.2. Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass hier – aufgrund der wesentlichen Sachverhaltsänderung – keine entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliegt, entspricht der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

3.2.3. Es war daher gemäß Spruchpunkt B) zu entscheiden.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung entschiedene Sache Folgeantrag glaubhafter Kern Homosexualität Rückkehrentscheidung behoben sexuelle Orientierung soziale Gruppe staatliche Verfolgung wesentliche Sachverhaltsänderung Zulassungsverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W203.2200273.2.01

Im RIS seit

13.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

13.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten