TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/2 W204 2196302-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.08.2021
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Entscheidungsdatum

02.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch


W204 2196302-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther SCHNEIDER über die Beschwerde des XXXX N XXXX , geb. am XXXX 2003, StA Afghanistan, vertreten durch das Land Niederösterreich als Kinder- und Jugendhilfeträger, dieses vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Baden, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.04.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 18.12.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Am selben Tag wurde der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Niederösterreich niederschriftlich erstbefragt. Befragt nach seinen Fluchtgründen führte der BF aus, sein Vater sei aufgrund seiner Tätigkeit bei ausländischen Truppen von den Taliban bedroht worden, weswegen die gesamte Familie das Land habe verlassen müssen.

I.3. Am 02.08.2017 wurde der BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und seiner gesetzlichen Vertretung unter anderem zu seinem Gesundheitszustand, seiner Identität, seinen Lebensumständen in Afghanistan, seinen Familienangehörigen und seinen Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die den BF bewogen, seine Heimat zu verlassen, gab er an, sein Vater habe als Minensucher gearbeitet und sei deswegen von den Taliban bedroht, entführt und körperlich misshandelt worden.

I.4. Am 07.02.2018 legte der BF Integrationsunterlagen vor.

I.5. Mit Bescheid vom 19.04.2018, dem BF am selben Tag zugestellt, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA aus, der BF habe seine Fluchtgründe nicht glaubhaft gemacht, weswegen ihm der Status eines Asylberechtigten nicht gewährt werden könne. Dem BF sei eine Rückkehr nach Kabul möglich und zumutbar. Auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten könne daher nicht gewährt werden. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, da die Voraussetzungen nicht vorlägen. Letztlich hätten auch keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr des BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen werde, weswegen auch eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

I.6. Mit Verfahrensanordnung vom 19.04.2018 wurde dem BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.7. Gegen den unter I.5. genannten Bescheid richtet sich die Beschwerde des BF vom 17.05.2018, in der beantragt wurde, eine Beschwerdeverhandlung anzuberaumen, dem BF den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu die Rückkehrentscheidung ersatzlos aufzuheben sowie festzustellen, dass die Abschiebung unzulässig sei.

Begründend wurde im Wesentlichen auf das bisherige Vorbringen verwiesen und bemängelt, das BFA habe insbesondere die Minderjährigkeit des BF und die Lage bei einer Rückkehr in seiner Beweiswürdigung nicht ausreichend berücksichtigt. Auch bei der Abwägung nach Art. 8 EMRK habe das BFA das Kindeswohl nicht beachtet.

I.8. Die Beschwerde und der Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 24.05.2018 vorgelegt, wobei das BFA auf die Durchführung und Teilnahme an einer Verhandlung verzichtete und beantragte, die Beschwerde abzuweisen.

I.9. Am 12.10.2018, 04.02.2019, 24.06.2019 und 12.07.2019 legte der BF Integrationsunterlagen vor.

I.10. Am 30.11.2020 übermittelte das BFA eine Information der LPD, aus der hervorgeht, dass der BF an einem gestellten Hinrichtungsvideo beteiligt gewesen sei.

I.11. Am 13.01.2021 und am 18.01.2021 stellte der BF zwei Anträge auf Einvernahme von Zeugen zum Beweis seiner Integration.

I.12. Am 20.01.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der der BF und seine Rechtsvertretung teilnahmen. Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde der BF im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari u.a. zu seiner Identität und Herkunft, zu den persönlichen Lebensumständen, seinen Familienangehörigen, seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen sowie zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich ausführlich befragt. Auf die Befragung der Zeugen verzichtete der BF ausdrücklich.

I.13. Am 01.02.2021 übermittelte das BFA eine Mitteilung, wonach aufgrund des unter I.10. genannten Videos kein Ermittlungsverfahren gegen den BF eingeleitet worden sei.

I.14. Am 08.03.2021 legte der BF eine Schulbesuchsbestätigung vor.

I.15. Am 20.07.2021 nahm der BF zu zuvor übermittelten aktuellen Länderinformationen Stellung und betonte seine gute Integration und Übernahme der in Österreich bestehenden Werte und Lebensweisen, die einer Rückkehr entgegenstünden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-        Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend den BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;

-        Befragung des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 20.01.2021;

-        Einsicht in die im Rahmen des Verfahrens vorgelegten Unterlagen und Stellungnahmen;

-        Einsicht in die in das Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

-        Einsicht in das Strafregister, in das Grundversorgungssystem und in das Zentrale Melderegister.

II. Feststellungen:

II.1. Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen XXXX N XXXX und das Geburtsdatum XXXX 2003. Seine Identität steht nicht fest. Er ist afghanischer Staatsbürger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und gläubiger sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari, das er in Wort und Schrift beherrscht. Außerdem beherrscht er Paschtu, Farsi, Englisch und Deutsch in Wort und Schrift sowie teilweise Arabisch. Der BF ist ledig und kinderlos.

Der BF ist in Afghanistan in Q XXXX im Distrikt Baghram in der Provinz Parwan als drittes Kind seiner Eltern geboren worden und dort bei seiner Familie aufgewachsen. Er hat zwei ältere Schwestern und drei jüngere Brüder. Der BF hat vier Jahre die Schule besucht und auf den Feldern der Familie im Heimatort mitgearbeitet.

Der BF ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der BF ist gesund und arbeitsfähig.

II.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der Vater des BF arbeitete nicht als Minensucher bei der Armee. Er war keiner Gefährdung durch die Taliban ausgesetzt. Auch der BF war und ist keiner Gefährdung durch die Taliban ausgesetzt.

Der BF ist bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seines Aufenthalts in einem europäischen Land weder psychischer noch physischer Gewalt ausgesetzt. Er hat keine Lebensweise angenommen, die im Gegensatz zu afghanischen Gepflogenheiten steht. Er lebt nach wie vor nach diesen.

Es drohen dem BF bei einer Rückkehr individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der BF hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen einer drohenden Lebensgefahr verlassen.

II.3. Zum (Privat-)Leben des BF in Österreich:

Der BF reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit 18.12.2016 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom selben Tag in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der BF besuchte in den Schuljahren 2016/17 (ab 02.03.2017) und 2017/18 die Neue Niederösterreichische Mittelschule P XXXX . Im Schuljahr 2018/19 besuchte er die Neue Niederösterreichische Mittelschule E XXXX . Derzeit besucht er die BHAK/HAS in E XXXX , wo er auch nach den Sommerferien die Schule weiter besuchen könnte. Nach positivem Abschluss der Schule möchte der BF eine Lehre als Mechaniker absolvieren. Der BF zeigte sich in der Schule stets leistungswillig und setzte sich auch über den Unterricht hinaus mit den Lerninhalten auseinander. Zusätzlich zu seinem Schulbesuch besuchte der BF Nachhilfe beziehungsweise Deutschkurse. Er war und ist in den jeweiligen Klassengemeinschaften gut integriert und hat viele Freundschaften zu seinen Schulkollegen, aber auch zu seinem Lehrer geschlossen. Er pflegt in Österreich auch Freundschaften zu anderen afghanischen Staatsangehörigen. Diese stammen aus Kunduz, Maidan Wardak und Laghman.

Der BF hat das ÖSD Zertifikat A2 gut und die Integrationsprüfung des ÖIF auf Niveau B1 bestanden.

Der BF war in einem Kickboxverein und ist derzeit Mitglied eines Fitnesscenters. Er engagiert sich freiwillig beim Samariterbund. In seiner Unterkunft ist der BF eine Art Bindeglied zwischen den dort aufhältigen afghanischen und syrischen Staatsangehörigen. Er unterstützt seine Betreuer in der Unterkunft durch Übersetzungstätigkeiten in Arabisch im Alltag mit den syrischen Mitbewohnern. Der BF sucht von sich aus den Kontakt zu anderen Jugendlichen und Betreuern und nimmt bei Konflikten eine Vermittlerrolle ein. Zum Freitagsgebet besucht der BF eine Moschee.

Der BF hat als Kameramann an einem Video mitgewirkt, in dem am Tag nach dem Terroranschlag in Wien vom 02.11.2020 eine Hinrichtungsszene nachgestellt wurde. Der BF und die anderen Mitwirkenden sahen dieses Video als etwas Lustiges und eine Art Satire an, die bereits im Internet kursierte und die sie nachstellen wollten. Sie wollten dadurch viele „Likes und Followers“ bekommen. Das Video hatte keinen terroristischen Hintergrund und es wurde mangels Anfangsverdachts kein Ermittlungsverfahren eingeleitet (§ 35c StAG). Aufgrund des Videos wurde in der Unterkunft des BF das Thema Extremismus, Radikalismus und Terror bearbeitet, um den Mitwirkenden die Bedeutung des Themas bewusst zu machen.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten und bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung.

II.4. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Die Eltern, eine Schwester und die Brüder des BF leben seit etwa einem Jahr in der Türkei. Sie verfügen dort über einen Aufenthaltstitel, der zeitgleich mit der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht verlängert und für die Dauer von drei Jahren ausgestellt wurde. Sein Vater arbeitet dort in einer Gewürzfirma, seine Brüder besuchen die Schule. Beide Schwestern des BF sind verheiratet, eine lebt nach wie vor in Parwan. Der in der Türkei lebende Schwager des BF arbeitet als Metallarbeiter. Der Beruf und die konkrete Arbeitstätigkeit des Schwagers in Parwan kann nicht festgestellt werden. Der Familie in der Türkei wie auch der Schwester und deren Familie in Parwan geht es finanziell und auch sonst gut.

Zwei Onkel väterlicherseits des BF leben mit ihrer Familie ebenfalls in Parwan im Heimatdorf des BF. Der BF kennt seine Onkel gut, er hat mit ihnen in Afghanistan auf den Feldern zusammengearbeitet. Ein Onkel arbeitet bei der Polizei, einer als Türsteher einer Koranschule.

Zwei Onkel mütterlicherseits leben in Kabul. Eine Tante des BF wohnt in Kunduz. Dort lebte die Familie des BF nach der Ausreise des BF bis Ende 2019/Anfang 2020, bevor sie in die Türkei ausreiste. Die Familie lebte dort nicht versteckt, der Vater des BF und seine Brüder arbeiteten auf den Feldern.

Der BF hat Kontakt zu seinen Verwandten in der Türkei. Über diese kann er Kontakt zu seinen Verwandten in Afghanistan aufnehmen. Der BF wird bei einer Rückkehr nach Afghanistan von seinen Angehörigen finanziell und organisatorisch unterstützt.

Bei einer Rückkehr in seinen Heimatort droht dem BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Das Dorf ist für ihn mit Hilfe seiner Verwandten in Kabul und Parwan auf dem Landweg über Kabul oder Bamyan sicher erreichbar. Der BF könnte bei einer Rückkehr in seinen Heimatort bei seinen Onkeln oder/und bei seiner Schwester wohnen und arbeiten. Er wäre dort in der Lage, grundlegende Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, zu befriedigen, ohne in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der BF ist anpassungsfähig und kann trotz seines jungen Alters einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Der BF weist bereits seit längerem eine Selbstständigkeit auf, die der eines Volljährigen gleicht.

Dem BF wird mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Kabul Stadt oder Mazar-e Sharif kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen. Diese Städte sind über den Luftweg sicher erreichbar.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den weniger volatilen Gebieten Afghanistans wie Kabul Stadt oder Mazar-e Sharif kann der BF grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose beziehungsweise existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und dort einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten. Dabei wird der BF von seinen Familienangehörigen wie auch über deren Netzwerk finanziell und organisatorisch unterstützt werden. Seine geordnete Rückkehr kann er bereits von Österreich aus organisieren.

Es ist dem BF möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten bei einer Ansiedlung in Afghanistan Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

II.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11.06.2021 (LIB), ausgewählte Kapitel, generiert am 11.06.2021;

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR);

-        UNHCR: Afghanistan, Compilation of Country of Origin Information (COI) Relevant for Assessing the Availability of an Internal Flight, Relocation or Protection Alternative (IFA/IRA/IPA) to Kabul, December 2019;

-        EASO Country Guidance: Afghanistan von Juni 2019 (EASO 2019);

-        EASO Country Guidance Afghanistan von Dezember 2020 (EASO 2020);

-        EASO Bericht Afghanistan Networks (EASO Netzwerke) vom Jänner 2018;

-        EASO: Afghanistan - Key-socio-economic indicators. Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City (August 2020) (EASO Indikatoren);

-        EASO: Afghanistan - Security Situation (September 2020) (EASO Security 2020);

-        EASO: Afghanistan – Security Situation (Juni 2021) (EASO Security 2021);

-        EASO: Afghanistan - State Structure and Security Forces (August 2020) (EASO State);

-        EASO: Afghanistan - Afghanistan, Anti-Government Elements (AGEs) (August 2020) (EASO AGEs);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Masar-e Sharif und Umgebung; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 30.04.2020 (ACCORD Masar-e Sharif);

-        ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lokale Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Herat; Besonderheiten aufgrund der Corona-Pandemie vom 23.04.2020 (ACCORD Herat);

-        Ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Masar-e Sharif (ecoi) und

-        Frederike Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans, Juni 2021.

II.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von ca. 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel Politische Lage). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktszentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten (LIB, Kapitel Sicherheitslage). Die Hauptlast einer unsicheren Sicherheitslage in der jeweiligen Region trägt die Zivilbevölkerung (UNHCR, Kapitel II. B).

Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Vorfälle, inkludierend 3.035 Tote und 5.785 Verletzten, was einem Rückgang von 15% zur Vorjahresperiode aber auch der niedrigsten Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 entspricht. Dieser allgemeine Rückgang ist auf einen Rückgang der zivilen Opfer durch Selbstmordanschläge von AGEs zurückzuführen. Im ersten Quartal 2021 stieg die Zahl der zivilen Opfer im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Jahres 2020 um 29 % auf 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1 210 Verletzte). Die Hauptursachen für zivile Opfer im ersten Quartal 2021 waren Bodeneinsätze (38 %), improvisierte Sprengsätze (IEDS; ohne Selbstmordattentate) (31 %) und gezielte Tötungen (19 %). Laut UNAMA waren AEGs im Berichtszeitraum für 61 % der zivilen Opfer verantwortlich, während die Verwendung von improvisierten Sprengsätze durch AEGs im Vergleich zum ersten Quartal 2020 um 117 % zugenommen hat (EASO Security 2021, 1.4.1.). Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul (LIB, Kapitel Sicherheitsbehörden).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, welche eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität in Afghanistan darstellen (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen). Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und Angriffen auf staatliche Einrichtungen und gegen Gläubige und Kultstätten bzw. religiöse Minderheiten aus. High-Profile Angriffe (HPAs) ereigneten sich insbesondere in der Hauptstadtregion. Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (LIB, Kapitel Sicherheitslage).

Die afghanischen Regierungskräfte und die Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Auch die Islamisten sind nicht stark genug, um die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet, wobei die afghanische Regierung daran weder beteiligt war noch von ihr unterzeichnet wurde. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden. Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen ist von der Einhaltung der Taliban an ihren Teil der Abmachung abhängig. Die Taliban haben im Abkommen unter anderem zugesichert, terroristischen Gruppierungen keine Zuflucht zu gewähren und innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

Die Taliban haben jedoch die politische Krise aufgrund der Präsidentschaftswahl als Vorwand genutzt, den Einstieg in die Verhandlungen hinauszuzögern. Außerdem werfen sie der Regierung vor, ihren Teil der Vereinbarung nicht einzuhalten und setzen ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess). Diese Angriffe der Taliban richten sich gegen die ANDSF und nicht gegen internationale Kräfte (EASO Security 2021, 1.3.). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gewalt hat allerdings trotzdem nicht nachgelassen (LIB, Kapitel Friedens- und Versöhnungsprozess).

II.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die Covid-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant (LIB, Kapitel Armut und Lebensmittelunsicherheit).

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor, der 80 bis 90% der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tägliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft).

Die Lage am afghanischen Arbeitsmarkt, der vom Agrarsektor dominiert wird, bleibt angespannt und die Arbeitslosigkeit hoch. Es treten viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, der nicht in der Lage ist, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig, um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, allerdings beratende Unterstützung, die auch Rückkehrende in Anspruch nehmen können (LIB, Kapitel Arbeitsmarkt).

Der durchschnittliche Lohn beträgt in etwa 300 Afghani (ca. USD 4,3) für Hilfsarbeiter, während gelernte Kräfte bis zu 1.000 Afghani (ca. USD 14,5) pro Tag verdienen können (EASO Netzwerke, Kapitel 4.1).

In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020 Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5). In den ländlichen Gebieten leben bis zu 60% der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze, in den urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Kapitel Armut und Lebensmittelunsicherheit).

Afghanistan ist weit von einem Wohlfahrtsstaat entfernt. Afghanen rechnen auch nicht mit staatlicher Unterstützung. Die fehlende staatliche Unterstützung wird von verschiedenen Netzwerken ersetzt und kompensiert (LIB, Kapitel Sozialbeihilfen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Versicherungen).

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungssicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018. Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden. Im ersten Halbjahr 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben, wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind. Die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 blieben auf einem Niveau, das 11 % über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Die Lebensmittelpreise blieben aufgrund der höheren Preise für importierte Lebensmittel im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch (Stand März 2021). Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt (LIB, Kapitel Covid-19).

Ebenfalls infolge der COVID-19-Maßnahmen, insbesondere aufgrund von Grenzschließungen und Exporteinschränkungen, kam es ab März 2020 zu einem starken Anstieg der Nahrungsmittelpreise. So ist etwa der Preis für Weizenmehl in ganz Afghanistan gestiegen. Das Hunger-Frühwarnsystem (FEWS) geht davon aus, dass viele Haushalte aufgrund reduzierter Kaufkraft nicht in der Lage sein werden, ihren Ernährungs- und essentiellen Nicht-Ernährungs-Bedürfnissen nachzukommen. UNOCHA zufolge hat sich der Ernährungszustand von Kindern unter fünf Jahren in den meisten Teilen Afghanistans verschlechtert, wobei in 25 der 34 Provinzen Notfalllevels an akuter Unterernährung erreicht würden (EASO Indikatoren, Kapitel 2.4.1.).

Zur Beeinflussung des Arbeitsmarkts durch COVID-19 gibt es keine offiziellen Regierungsstatistiken, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat. Die afghanische Regierung warnt vor einer Steigerung der Arbeitslosigkeit um 40%. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen habe in einer Befragung bis Juli 2020 84% angegeben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Fall einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten, bei einer vierwöchigen Quarantäne steigt diese Zahl auf 98%. Insgesamt ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen negativ betroffen sind (LIB, Kapitel Covid-19).

Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. 2019 waren 10,2 Millionen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, während 11,3 Millionen humanitäre Hilfe benötigen (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Man muss niemanden kennen, um eingelassen zu werden (EASO Netzwerke, Kapital 4.2.).

Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Der Finanzsektor in Afghanistan entwickelt sich und es gibt mittlerweile mehrere Banken. Auch ist es relativ einfach, ein Bankkonto zu eröffnen. Außerdem kann über das sogenannte Hawala-System Geld einfach und kostengünstig weltweit transferiert werden (LIB, Kapitel Bank- und Finanzwesen).

II.5.3. Medizinische Versorgung

Das afghanische Gesundheitsministerium gab an, dass 60 % der Menschen im April 2018 Zugang zu Gesundheitsdiensten hatten, wobei der Zugang als eine Stunde Fußweg zur nächsten Klinik definiert wurde. Trotz der Tatsache, dass die Gesundheitsversorgung laut afghanischer Verfassung kostenlos sein sollte, müssen die Menschen in vielen öffentlichen Einrichtungen für Medikamente, Arzthonorare, Labortests und stationäre Versorgung bezahlen. Hohe Behandlungskosten sind der Hauptgrund, weswegen die Behandlung vermieden wird (EASO 2019, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V). Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge gab es 2018 3.135 funktionierende Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei rund 87 % der Bevölkerung eine solche innerhalb von zwei Stunden erreichen könnten. Laut WHO gab es 2018 134 Krankenhäuser, 26 davon in Kabul (EASO Indikatoren, Kapitel 2.6.1.; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 5).

Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung dafür ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft mittels Personalausweis oder Tazkira. Eine medizinische Versorgung in rein staatlicher Verantwortung findet jedoch kaum bis gar nicht statt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist allerdings sichergestellt, weniger dagegen auf der Ebene von Distrikten und Dörfern. Zahlreiche Staatsbürger begeben sich für medizinische Behandlungen – auch bei kleineren Eingriffen – ins Ausland. Das ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre, als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).

Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände – die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden – sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sowie auch spezialisierte Kliniken sind grundsätzlich verfügbar. Außerdem werden sie als in der afghanischen Gesellschaft als schutzbedürftig betrachtet und werden als Teil der Familie gepflegt (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).

II.5.3.1. COVID-19

Der erste offizielle Fall in Afghanistan wurde Ende Februar 2020 festgestellt. Nach einer Umfrage des afghanischen Gesundheitsministeriums hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (LIB, Kapitel Covid-19).

Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Bevölkerung unabhängig von etwaigen Ausgangsbeschränkungen dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (LIB, Kapitel Covid-19).

Durch die COVID-19-Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert. 53% der Bevölkerung haben nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten (LIB, Kapitel Covid-19).

II.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind ca. 40 - 42% Paschtunen, rund 27 - 30% Tadschiken, ca. 9 - 10% Hazara und 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Soziale Gruppen werden in Afghanistan nicht ausgeschlossen und kein Gesetz verhindert die Teilnahme von Minderheiten am politischen Leben. Es kommt jedoch im Alltag zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen ethnischer Gruppen und Religionen sowie zu Spannungen, Konflikten und Tötungen zwischen unterschiedlichen Gruppen (LIB, Kapitel Ethnische Gruppen).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. In Kabul stellen sie knapp in der Mehrheit. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Unterkapitel Tadschiken).

II.5.5. Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon 80 - 89,7% Sunniten. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (LIB, Kapitel Religionsfreiheit).

II.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel Allgemeine Menschenrechtslage).

Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung finden nach wie vor in allen Teilen des Landes und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliert (UNHCR, Kapitel II. C. 1).

Die Fähigkeit der Regierung, Menschenrechte zu schützen, wird durch die Unsicherheit und zahlreiche Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte untergraben. Insbesondere ländliche und instabile Gebiete leiden unter einem allgemein schwachen förmlichen Justizsystem, das unfähig ist, Zivil- und Strafverfahren effektiv und zuverlässig zu entscheiden (UNHCR, Kapitel II. C. 2).

II.5.7. Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Afghanen dürfen sich formell im Land frei bewegen und niederlassen (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit).

Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Dazu beigetragen hat ein Anstieg von illegalen Kontrollpunkten und Überfällen auf Überlandstraßen. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit).

Nach Schließung einiger Grenzübergänge aufgrund der COVID-19 Pandemie sind nunmehr alle Grenzübergänge wieder geöffnet. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandahar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen. Auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt. Ebenso verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führ zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit).

Die Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen hängen maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Für eine Unterstützung seitens der Familie kommt es auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert. Für Frauen ist es kaum möglich, ohne familiäre Einbindung in andere Regionen auszuweichen. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten. In Kabul ist die Fluktuation aufgrund verschiedener Faktoren größer, was sich oftmals in der Beschwerde bemerkbar macht, dass man seine Nachbarn nicht mehr kenne (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, keine Datenbanken mit Adress- oder Telefonnummerneinträgen und auch keine Melde- oder Registrierungspflicht. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten (LIB, Kapitel Meldewesen).

II.5.8. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Kapitel Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Taliban:

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und –pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt. Sie bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (LIB, Unterkapitel Taliban).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami bekannt ist. Diese Gruppe ist gegen den US-Taliban Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (LIB, Unterkapitel Taliban).

Laut dem unabhängigen Afghanistan-Experten Borhan Osman rekrutieren die Taliban in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos, in Madrassas und ethnisch paschtunisch ausgebildet sind. Die Rekrutierung erfolgt normalerweise über die Militärkommission der Gruppe und den Einsatz in Moscheen sowie über persönliche Netzwerke und Familien von Kämpfern, von denen viele motiviert sind, "die westlichen Institutionen und Werte, die die afghanische Regierung ihren Verbündeten abgenommen hat, zutiefst zu verabscheuen". Anstatt Gehälter zu zahlen, übernehmen die Taliban die Kosten (EASO AGEs, 2.4.). Die Taliban Kämpfer werden von einem Bericht in zwei Kategorien eingeteilt. Einerseits professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Unterkapitel Taliban).

Haqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida und verfügt über Kontakte zu IS. Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt und ist für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich (LIB, Unterkapitel Haqqani-Netzwerk).

Islamischer Staat (IS/Daesh) – Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Der IS bezeichnet sich in Afghanistan selbst als Khorosan Zweig des IS. Die Stärke des ISKP variiert zwischen 2.500 und 4.000, bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern. Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen (LIB, Unterkapitel Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)).

Der IS ist seit Sommer 2014 in Afghanistan aktiv. In letzter Zeit geriet der ISKP unter großem Druck und verlor auch seine Hochburg in Ostafghanistan. Er soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein. Die landesweite Mannstärke des ISKO hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 und 300 Kämpfern reduziert (LIB, Unterkapitel Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner, als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen. Aufgrund des Verlust des Territoriums ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (LIB, Unterkapitel Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)).

Der ISKP ist mit den Taliban verfeindet und betrachtet diese als Abtrünnige. Während die Taliban ihre Angriffe auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken, zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (LIB, Unterkapitel Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)).

Al-Qaida:

Al-Qaida und ihr regionaler Zweig, Al-Qaida auf dem indischen Subkontinent operieren trotz wiederholter Behauptungen der Taliban, dass die Gruppe keine Präsenz im Land habe, weiterhin in ganz Afghanistan und sind nach Angaben des Long War Journal in mindestens 21 der 34 Provinzen Afghanistans aktiv (LIB, Unterkapitel Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen).

Während in der Vergangenheit sowohl Al-Qaida als auch die Taliban immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten, bestritten die Taliban kürzlich, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit, zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert. Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (LIB, Unterkapitel Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen).

II.5.9 Provinzen und Städte

II.5.9.1. Herkunftsprovinz Parwan

Parwan liegt im zentralen Teil Afghanistans und ist zu über zwei Drittel gebirgig. Die Bevölkerung besteht hauptsächlich aus Tadschiken (primäre ethnische Gruppe, EASO Security 2021, 2.29.), Paschtunen, Usbeken, Qizilbash, Kuchi und Hazara. Die Provinz hat geschätzte 737.700 Einwohner (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Parwan).

Die Provinz Parwan zählte zu den relativ friedlichen Provinzen Afghanistans, in letzter Zeit verschlechterte sich die Sicherheitslage und sie wurde 2020 als „nicht stabil“ bezeichnet. Aufständische, insbesondere Taliban, sind in mehreren Distrikten unter anderem in Bagram präsent. Die dort befindliche Luftwaffenbasis der NATO hat negative Auswirkungen auf die Sicherheitslage im Distrikt. Die Basis wurde vom Islamischen Staat und den Taliban angegriffen. Im Jahr 2020 wurden von UNAMA 76 zivile Opfer (47 Tote und 29 Verletzte) in der Provinz Parwan gezählt, was einem Rückgang von 69% gegenüber 2019 entspricht. Hauptursachen für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von Kämpfen am Boden und improvisierten Sprengkörpern. Es kommt zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Aufständischen und afghanischen Streitkräften. Die Aufständischen greifen auch Kontrollpunkte der Sicherheitskräfte entlang der Fernstraßen an. Die Straßenverbindung zu Kabul ist in einem schlechten Zustand und es kommt häufig zu Unfällen und Lawinenabgängen. Eine Straße in gutem Zustand verbindet die Provinz mit ihrer Nachbarprovinz Bamyan (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Parwan). Bamyan ist eine ruhige, friedliche und eine der sichersten Provinz. Provinz Bamyan verfügt zwar über einen nationalen Flughafen, jedoch gibt es derzeit keine kommerziellen Flüge von und nach Bamyan (Stand Mai 2021). Berichten zufolge ist die Start- und Landebahn des aktuellen Flughafens beschädigt und folglich nicht sicher für Flüge. Am Boden kann Bamyan von Kabul aus entweder über die Fernstraße Kabul-Bamyan, über die Provinz (Maidan) Wardak oder über Parwan erreicht werden (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Bamyan). Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, welche die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Kabul). Eine Autobahn von Kabul nach Kunduz verläuft durch die Provinz Parwan (EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 3.3.)

In der Provinz Parwan findet willkürliche Gewalt auf einem nicht hohen Niveau statt, sodass ein höheres Level an individuellen Risikofaktoren notwendig ist, um anzunehmen, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis: Afghanistan, 3.3.).

II.5.9.2. Balkh

Dieses wird von Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern und sunnitischen Hazara (Kawshi) bewohnt. In der Provinz Balkh leben 1.509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif. (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Balkh).

Balkh zählte zu den relativ stabilen und ruhigen Provinzen Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen. Ziel der Anschläge sind Sicherheitskräfte, es fallen ihnen jedoch auch Zivilisten zum Opfer. Im Jahr 2020 gab es 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate). Ungeachtet der Friedensgespräche finden weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt. Es kommt zu direkten Kämpfen und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren oder Sicherheitsposten. Auch in Mazar-e Sharif kommt es wiederholt zu IED-Anschlägen sowie Angriffen auf bzw. die Tötung von Sicherheitskräften. Zudem wird von der Entführung und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Balkh). Die Präsenz der Taliban in der Provinz Balkh ist im Vergleich zu anderen nördlichen Regionen gestiegen. Laut einer Umfrage stehen 51,13% der Provinz unter Kontrolle der Taliban, wobei sie keinen der Distrikte in Balkh vollständig kontrollieren (EASO Security 2021, 2.5.2.).

In der Provinz Balkh – mit Ausnahme der Stadt Mazar- e Sharif – kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

Im Jahr 2020 zählte die Provinz nach Angaben des UN Generalsekretärs zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Balkh). Das Konfliktmuster im Distrikt Mazar-e Sharif, zu dem auch die Provinzhauptstadt gehört, unterschied sich vom allgemeinen Muster in der Provinz Balkh und in den verschiedenen Distrikten. Auch Mazar-e Sharif war einer der Bezirke in der Provinz Balkh, in denen eine geringere Anzahl von Vorfällen gemeldet wurde (EASO Security 2021, 2.5.3.1.).

Die Hauptstadt der Provinz Balkh ist Mazar-e Sharif. In dieser Stadt sowie im Distrikt Marmul findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden, da sie den Antragsteller in risikoreichere Situationen bringen könnten (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

II.5.9.3. Herat

Herat liegt im Westen Afghanistans. Die wichtigsten ethnischen Gruppen in der Provinz sind Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Usbeken und Aimaqs, wobei Paschtunen in elf Grenzdistrikten die Mehrheit stellen. Die Provinz hat 2.140.662 Einwohner, davon geschätzt 574.276 in der Provinzhauptstadt Herat Stadt. Die Provinz ist über einen Flughafen in der Nähe von Herat-Stadt zu erreichen (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Herat).

Die Sicherheitslage auf Stadt- und Distriktsebene unterscheidet sich voneinander. Während einige Distrikte als unsicher gelten, kam es in Herat Stadt in den letzten Jahren zwar zu kriminellen Handlungen und kleineren sicherheitsrelevanten Vorfällen, allerdings nicht zu groß angelegten Angriffen oder offenen Kämpfen, die einen Einfluss auf das tägliche Leben gehabt hätten. Je weiter man sich von der Stadt Herat (die als sehr sicher gilt) und ihren Nachbardistrikten in Richtung Norden, Westen und Süden entfernt, desto größer ist der Einfluss der Taliban. Im Jahr 2020 gab es 339 zivile Opfer (124 Tote und 215 Verletzte) in der Provinz Herat. Dies entspricht einem Rückgang von 15% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Kämpfe am Boden, gefolgt von gezielten Tötungen und improvisierten Sprengkörper (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordanschläge) (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Herat; EASO Security 2021, 2.13.3.1.).

In der Provinz Herat - mit Ausnahme in der Stadt Herat - kommt es zu willkürlicher Gewalt, jedoch nicht auf hohem Niveau. Dementsprechend ist ein höheres Maß an individuellen Risikofaktoren erforderlich ist, um wesentliche Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein in dieses Gebiet zurückgekehrter Zivilist einem realen ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie zu nehmen (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

Die Hauptstadt der Provinz ist Herat-Stadt. In dieser Stadt findet willkürliche Gewalt auf einem niedrigen Niveau statt. Im Allgemeinen besteht kein reales Risiko, dass ein Zivilist aufgrund willkürlicher Gewalt im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen wird. Es müssen jedoch immer individuelle Risikoelemente berücksichtigt werden (EASO 2019, Kapitel Guidance note: Afghanistan, III.3; EASO 2020, Kapitel Common analysis, 3.3.).

II.5.9.4. Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat geschätzt 4.434.550 Einwohner. Andere Berichte schätzen die Einwohnerzahl zwischen 3.5 und 6.5 Millionen. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Kabul). Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB Kapitel Sicherheitslage, Kabul).

In den von neu eingewanderten Bewohnern bewohnten Stadtvierteln entsteht eine dorfgesellschaftsähnliche Gemeinschaft. Die Verbindung dieser zu ihren früheren Herkunftsorten ist meistens direkter als zum Zentrum Kabuls (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Kabul).

Die afghanische Regierung behält im Wesentlichen die Kontrolle über Kabul, wobei einige der Distrikte als umkämpft gelten (Stand Mais 2021). Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen führten in den letzten Jahren insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2020 gab es 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen (LIB, Kapitel Sicherheitslage, Kabul). Anschläge der regierungsfeindlichen Gruppierungen in Kabul richten sich zumeist gegen Regierungsinstitutionen, militärische und zivile Einrichtungen der afghanischen Regierung und internationaler Organisationen sowie Justizbedienstete, Gesundheitsbedienstete, Entwicklungshelfer und Menschenrechtsaktivisten. Vom 01.01.2020 bis zum 28.02.2021 richteten sich de

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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