TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/11 W133 2166516-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 11.08.2021
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Entscheidungsdatum

11.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W133 2166516–1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.07.2017, Zl. 1083970108-151164446, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.05.2021 zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

III. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird betreffend die dort verfügte Rückkehrentscheidung und Abschiebung Folge gegeben und festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung betreffend XXXX gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß § 54 Abs. 1 Z 2 und Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 wird XXXX der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

IV. Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 24.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Anlässlich seiner Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.08.2015 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt an, seine Familie habe in Afghanistan Feinde gehabt. Sein Vater sei glaublich im April 2007 getötet worden, später habe es einen Bombenanschlag auf das Haus gegeben, bei dem der Beschwerdeführer und sein Bruder Verletzungen erlitten hätten. Weiters gab der Beschwerdeführer an, dass er von 2009 bis 2014 in Norwegen gelebt habe, wo sein Antrag auf internationalen Schutz abgewiesen worden sei. Von dort aus sei er zurück nach Afghanistan abgeschoben worden, woraufhin er zunächst zwei Monate im Iran gelebt habe, bevor er wiederum ausgereist sei.

Am 28.02.2017 wurde der Beschwerdeführer durch die nunmehr belangte Behörde, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), einvernommen. Der Beschwerdeführer führte zu seinem Fluchtvorbringen im Wesentlichen aus, dass der Feind seiner Familie ein mächtiger Mann namens XXXX im Bezirk Ghorband sei, welcher gute Kontakte zur Polizei unterhalte. Der Vater des Beschwerdeführers habe als Chauffeur für die Regierung gearbeitet, wo auch der Bruder des nunmehrigen Feindes tätig gewesen sei; später sei er Taxifahrer gewesen. Bei einer gemeinsamen Fahrt seien der Vater des Beschwerdeführers, der besagte Bruder sowie eine weitere Person angehalten und die beiden letzteren getötet worden. XXXX habe den Vater beschuldigt und diesen getötet. Die verbliebene Familie habe er schriftlich unter Androhung des Todes dazu aufgefordert, Ghorband zu verlassen, was diese zunächst nicht ernst genommen habe. Nachdem in das Haus der Familie drei Monate später Handgranaten geworfen worden seien, wodurch der Beschwerdeführer leicht verletzt worden sei, habe die Mutter beschlossen, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder Afghanistan verlassen müssten. Sein Bruder habe nach dessen Abschiebung mit der Mutter in der Herkunftsprovinz gelebt und sei im Jahr 2012 von XXXX angeschossen worden. Der Beschwerdeführer selbst habe nach seiner ersten Abschiebung einen Monat lang in Kabul – unter anderem bei seinem Onkel – und drei Monate in Ghorband verbracht, wo er sich eine Geburtsurkunde habe ausstellen lassen, sei aber aus Angst vor der Tötung wieder ausgereist.

In seiner mit „06.09.2016“ datierten Stellungnahme zu den Länderberichten brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, er fürchte im Herkunftsstaat Blutrache, leide an PTBS und verfüge in Afghanistan über kein nachhaltiges Unterstützungsnetzwerk.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10.07.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen weder nachvollziehbar noch glaubwürdig seien. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei für den Beschwerdeführer möglich und zumutbar. Der Beschwerdeführer verfüge weder über ein Familienleben noch über ein schützenswertes Privatleben in Österreich.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 25.07.2017 binnen offener Rechtsmittelfrist vollumfänglich Beschwerde. Darin brachte er zusammengefasst vor, die belangte Behörde habe seinem Vorbringen in Verkennung der Sachlage keinen Glauben geschenkt und nicht erkannt, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr überdies wahrscheinlich in eine existenzbedrohende Lage geraten würde.

Am 15.12.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari, des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers sowie eines Zeugen durch, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 07.05.2021 eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari sowie der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers durch, in welcher der Beschwerdeführer erneut zu seinen Fluchtgründen sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde.

In seiner Stellungnahme vom 17.06.2021 zum aktualisierten Länderinformationsblatt brachte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf eben jenes im Wesentlichen vor, dass er aufgrund der Lage der Wirtschaft sowie der medizinischen Versorgung im Falle einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage geraten würde; zudem habe sich die Sicherheitslage in Afghanistan stark verschlechtert. Weiters weise der Beschwerdeführer erneut auf seine Integrationsbemühungen hin.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Österreich

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angegebenen Namen und das im Spruch bezeichnete Geburtsdatum. Seine Identität steht nicht zweifelsfrei fest.

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und muslimischen Glaubens sunnitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Dari; weiters spricht er Paschtu, Norwegisch und Englisch.

Im Jahr 2009 reiste der Beschwerdeführer nach Norwegen ein und stellte dort einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher noch im selben Jahr von den norwegischen Behörden abgewiesen wurde. Das vom Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung erhobene Rechtsmittel wurde ebenfalls abgewiesen. Daraufhin reiste der Beschwerdeführer nach Schweden und Dänemark und stellte im Jahr 2012 in Schweden sowie im Jahr 2013 in Dänemark weitere Asylanträge. Schließlich wurde der Beschwerdeführer aus Dänemark nach Norwegen verbracht und von dort nach Kabul aufgeschoben.

Im August 2015 reiste der Beschwerdeführer unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte dort am 24.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält sich der Beschwerdeführer in Österreich auf.

Der Beschwerdeführer führt in Österreich eine Beziehung zu einer norwegischen Staatsbürgerin, welche er im Jahr 2011 in Norwegen kennengelernt hat. Das Paar hat am 25.07.2019 in Österreich nach islamischem Ritus geheiratet. Nunmehr ist die Partnerin des Beschwerdeführers mit dem gemeinsamen Sohn (geb. 2020) in Österreich gemeldet. Die Familie möchte auf Dauer gemeinsam in Österreich leben.

Der Beschwerdeführer ging in Österreich wiederkehrend einer legalen Beschäftigung nach: Im Juni 2017 arbeitete er als Erntehelfer. Seit dem Jahr 2018 war der Beschwerdeführer jedes Jahr als saisonale Arbeitskraft im Weinbau tätig und bezog aus der diesjährigen Tätigkeit als Weingartenarbeiter zuletzt ein monatliches Nettoeinkommen von etwa € 1250. Am 12.06.2020 wurde der Beschwerdeführer aufgrund seiner Selbsterhaltungsfähigkeit aus der Grundversorgung entlassen. Seit August 2019 lebt der Beschwerdeführer eigenständig in einer Wohnung. Zukünftig möchte der Beschwerdeführer gerne auf Baustellen arbeiten und mit seinem Einkommen seine Familie versorgen.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich infolge seiner Erwerbstätigkeit nur wenige Kurse besucht und verfügt daher über einfache Deutschkenntnisse.

Sein Umfeld beschreibt ihn insbesondere als tüchtig, kontakt- und integrationsfreudig, hilfsbereit und freundlich. Er hat in Österreich bereits einige freundschaftliche Kontakte geknüpft.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Fluchtgründe können nicht festgestellt werden. Nicht festgestellt werden kann in diesem Zusammenhang, dass das Leben oder die physische und/oder psychische Gesundheit des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aktuell von einem mit seinem Vater verfehdeten Mann aus dem Motiv der Blutrache bedroht wäre.

Zur Situation des Beschwerdeführers im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat

Der Beschwerdeführer wurde in einem Dorf im Distrikt Ghorband in der afghanischen Provinz Parwan geboren und hat dort bis zu seiner Ausreise in den Iran etwa 15 Jahre lang im Kreis seiner tadschikischen Familie gelebt und die Grundschule bis zur achten Klasse besucht. Er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten folglich vertraut, spricht zwei Landessprachen, wobei er in seiner Muttersprache auch lesen und schreiben gelernt hat.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan weder einen Beruf erlernt noch gearbeitet, war jedoch wiederholt in der Lage, durch eigene Arbeitsleistung für sein Auskommen zu sorgen: So arbeitete er in der Türkei in einer Waschstraße, in Griechenland als Kellner sowie in Norwegen als Hilfsarbeiter in einer Fischfabrik und ist auch in Österreich selbsterhaltungsfähig. Zudem ist er gesund, arbeitsfähig und gehört keiner Risikogruppe an, für die im Fall der Erkrankung mit COVID-19 ein schwerer Krankheitsverlauf zu befürchten ist.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer über unterstützungsfähige und -willige Angehörige im Herkunftsstaat verfügt. Er kann jedoch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan beruhen maßgeblich auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan in der aktualisierten Version vom 11.06.2021, Stand der letzten Kurzinformation 02.08.2021, sowie den EASO-Länderleitlinien vom Dezember 2020 (EASO) und UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR).

Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Politische Lage).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (LIB, Sicherheitslage).

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Sicherheitslage).

Drei Behörden sind für die Sicherheit in Afghanistan zuständig: Das afghanische Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das Nationale Direktorat für Sicherheit (NDS). Die dem Innenministerium unterstellte Afghanische Nationalpolizei (ANP) trägt die Hauptverantwortung für die innere Ordnung und für die Afghan Local Police (ALP), eine gemeindebasierte Selbstverteidigungstruppe, die rechtlich nicht in der Lage ist, Verhaftungen vorzunehmen oder Verbrechen unabhängig zu untersuchen. Im Juni 2020 kündigte Präsident Ghani Pläne an, die afghanische Lokalpolizei in andere Zweige der Sicherheitskräfte einzugliedern, vorausgesetzt, die Personen können eine Bilanz vorweisen, die frei von Vorwürfen der Korruption und Menschenrechtsverletzungen ist. Ende 2020 war die Umsetzung dieser Pläne im Gange. Die Major Crimes Task Force, die ebenfalls dem Innenministerium unterstellt ist, untersucht schwere Straftaten, darunter Korruption der Regierung, Menschenhandel und kriminelle Organisationen. Die Afghanische Nationalarmee (ANA), die dem Verteidigungsministerium untersteht, ist für die äußere Sicherheit zuständig, ihre Hauptaufgabe ist jedoch die Aufstandsbekämpfung im Inneren. Das NDS fungiert als Nachrichtendienst und ist für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, die die nationale Sicherheit betreffen. Die Truppenstärke der ANDSF ist seit Jänner 2015 stetig gesunken. Aber eine genaue Zählung des afghanischen Militär- und Polizeipersonals war schon immer schwierig. Der Rückgang an Personal wird allerdings auch auf die Einführung eines neuen Systems zur Gehaltsauszahlung zurückgeführt, welches die Zahlung von Gehältern an nichtexistierende Soldaten verhindern soll. Im letzten Quartal 2020 meldete die ANDSF ihre höchste Truppenstärke, seit sie im Juli 2019 mit dem Afghan Personnel and Pay System (APPS) begann (LIB, Sicherheitsbehörden).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen „taktischen Rückzug“ angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung. Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert (LIB, Sicherheitslage).

Aktuelle Entwicklungen

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet – die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses. Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nichtamerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (LIB, Politische Lage).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (LIB, Sicherheitslage).

Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen. Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden. Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt. Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung, wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (LIB, Politische Lage).

Im September starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (LIB, Politische Lage). Für das gesamte Jahr 2020 verzeichnete UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) in diesem Zeitraum insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019. In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (LIB, Sicherheitslage).

Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen bis zum 11.9.2021 an. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (LIB, Friedens- und Versöhnungsprozess).

Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Wie diese aussehen würde, haben die Taliban noch nicht näher ausgeführt. Ähnliche Bedenken werden in Bezug auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert. Die Verhandlungen mit den USA haben bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs ausgelöst. Indem sie mit den Taliban verhandeln, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt. Gleichzeitig haben die Verhandlungen aber auch die afghanische Regierung unterminiert, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde. Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte. Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird. Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen, während die Taliban in jüngsten Äußerungen [Anm.: Ende April 2021] von einem bevorstehenden Sieg. Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens 12 Distrikte erobert. Es wird erwartet, dass unter einer künftigen Taliban-Herrschaft die Rechte der Frauen im Land einen schweren Rückschlag erleiden werden. Außerdem werden die Auswirkungen für Frauen in ländlichen Gebieten, in denen die Taliban die absolute Kontrolle haben, noch schlimmer sein als für Frauen in den großen städtischen Zentren wie. Im Mai 2021 warnte Human Rights Watch (HRW), dass sich die Gesundheitsversorgung für Frauen und Mädchen in Afghanistan aufgrund fehlender Spendengelder als Folge des Abzugs der internationalen Truppen und der unklaren Lage im Land verschlechtern wird. Viele der schätzungsweise 18.000 afghanischen Dolmetscher, Kommandosoldaten und andere, die mit den US-Streitkräften zusammengearbeitet haben, haben Visa beantragt, um in die USA auszuwandern – ein Prozess, der nach Angaben von Gesetzgebern mehr als zwei Jahre dauern könnte, was sie möglicherweise Racheakten der Taliban aussetzen würde. US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte, während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen. In den vergangenen Wochen gab es mehrere Demonstrationen afghanischer Ortskräfte in der Hauptstadt Kabul. Sie forderten die ausländischen Truppen und Botschaften auf, sie im Ausland in Sicherheit zu bringen. Im Mai 2021 schätzt das US-Militär, dass es bis zu einem Viertel seines Abzugs aus Afghanistan abgeschlossen hat und fünf Einrichtungen an das afghanische Verteidigungsministerium übergeben wurden (LIB, Friedens- und Versöhnungsprozess).

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021).

Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde . Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 1.8.2021).

Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.7.2021; vgl. ANI 2.8.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 2.8.2021; vgl. AJ 1.8.2021).

COVID-19

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen. Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen. Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen. Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an. Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (LIB, COVID-19).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (LIB, COVID-19).

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind. Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden. Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrende immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (LIB, COVID-19).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen.

Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet, jedoch (Stand März 2021) nur für Geschäftsreisende. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, Geschäftsreisende zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese – wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert – diesen jederzeit beenden. Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (LIB, COVID-19).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, COVID-19).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden. Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht; etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghan*innen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrende und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben. Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden (LIB, COVID-19).

Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrende. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Es wird erwartet, dass 2021 bis zu 18,4 Millionen Menschen (2020: 14 Mio Menschen) auf humanitäre Hilfe angewiesen sein werden. Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen – mehr als ein Drittel der Bevölkerung – in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (LIB, Armut und Lebensmittelunsicherheit, COVID-19).

In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren.. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte jedoch stark (LIB, Armut und Lebensmittelunsicherheit; COVID-19).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (LIB, COVID-19).

In humanitären Geberkreisen wird von einer Armutsrate von 80% in Afghanistan ausgegangen. Auch die Weltbank prognostiziert einen weiteren Anstieg, da das Wirtschaftswachstum durch die hohen Geburtenraten absorbiert wird. Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Außerhalb der Hauptstadt Kabul und der Provinzhauptstädte gibt es vielerorts nur unzureichende Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, sind es in urbanen Gebieten rund 41,6% (LIB, Armut und Lebensmittelunsicherheit).

Die afghanische Wirtschaft ist stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Das Budget zur Entwicklungshilfe und Teile des operativen Budgets stammen aus internationalen Hilfsgeldern. Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Grundversorgung und Wirtschaft).

Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (LIB, COVID-19)

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan*innen arbeitslos – Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Arbeitsmarkt).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (LIB, Arbeitsmarkt).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes. Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne. Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (LIB, COVID-19)

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten. Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird. Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019. Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (LIB, COVID-19).

In Afghanistan gibt es neben der Zentralbank auch mehrere kommerzielle Banken. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Geld kann auch über das Hawala-System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten und sogar Organisationen verwendet (LIB, Bank- und Finanzwesen).

Afghanistan ist von einem Wohlfahrtsstaat weit entfernt und Afghan*innen rechnen in der Regel nicht mit Unterstützung durch öffentliche Behörden. Verschiedene Netzwerke ersetzen und kompensieren den schwachen staatlichen Apparat. Das gilt besonders für ländliche Gebiete, wo die Regierung in einigen Gebieten völlig abwesend ist. So sind zum Beispiel die Netzwerke - und nicht der Staat - von kritischer Bedeutung für die Sicherheit, den Schutz, die Unterstützung und Betreuung schutzbedürftiger Menschen. Das afghanische Arbeits- und Sozialministerium (MoLSAMD) bietet ad hoc Maßnahmen für einzelne Gruppen, wie zum Beispiel Familienangehörige von Märtyrern und Kriegsverwundete, oder Lebensmittelhilfe für von Dürre betroffene Personen, jedoch keine groß angelegten Programme zur Bekämpfung von Armut. Der afghanische Staat gewährt seinen Bürger*innen kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen im öffentlichen Bereich abgesehen. Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch (LIB, Sozialbeihilfen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Versicherungen).

Medizinische Versorgung

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan und 87% der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (LIB, Medizinische Versorgung). Eine begrenzte Anzahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Staatsbürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung ist durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten, Ärztinnen und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Die medizinische Versorgung in großen Städten und auf Provinzlevel ist sichergestellt, auf Ebene von Distrikten und in Dörfern sind Einrichtungen hingegen oft weniger gut ausgerüstet und es kann schwer sein, Spezialisten zu finden (LIB, Zugang zu medizinischer Versorgung).

Zahlreiche Staatsbürger*innen begeben sich für medizinische Behandlungen - auch bei kleineren Eingriffen - ins Ausland. Dies ist beispielsweise in Pakistan vergleichsweise einfach und zumindest für die Mittelklasse erschwinglich. Die wenigen staatlichen Krankenhäuser bieten kostenlose Behandlungen an, dennoch kommt es manchmal zu einem Mangel an Medikamenten. Deshalb werden Patienten an private Apotheken verwiesen, um diverse Medikamente selbst zu kaufen. Untersuchungen und Laborleistungen sind in den staatlichen Krankenhäusern generell kostenlos. Viele Afghan*innen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Gesundheitsbehandlung stark einkommensabhängig. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar (LIB, Zugang zu medizinischer Versorgung).

Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Um die Gesundheitsversorgung der afghanischen Bevölkerung in den nördlichen Provinzen nachhaltig zu verbessern, zielen Vorhaben im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus auch auf den Ausbau eines adäquaten Gesundheitssystems ab - mit moderner Krankenhausinfrastruktur, Krankenhausmanagementsystemen sowie qualifiziertem Personal. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeitende weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt (LIB, Medizinische Versorgung).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan sind Schätzungen zufolge ca. 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Ethnische Gruppen).

Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichts destotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen. Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhinder. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Ethnische Gruppen).

Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land. Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus. Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation. Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB, Tadschiken.).

Religionen

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (LIB, Religionsfreiheit).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB, Religionsfreiheiheit).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (LIB, Religionsfreiheit).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe. Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig. Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (LIB, Religionsfreiheit).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (LIB, Religionsfreiheit).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB; Religionsfreiheit).

Blutfehde

Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat. (UNHCR, Kapitel III. A. 14)

Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTIQ-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).

Bewegungsfreiheit und Meldewesen

Das Gesetz garantiert interne Bewegungsfreiheit, Auslandsreisen, Emigration und Rückkehr. Als zentrale Hürde für die Bewegungsfreiheit werden Sicherheitsbedenken genannt. Besonders betroffen ist das Reisen auf dem Landweg. Auch schränken gesellschaftliche Sitten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ein. Die sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten spielen eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort. Durch die hohe soziale Kontrolle ist gerade im ländlichen Raum keine, aber auch in den Städten kaum Anonymität zu erwarten ist (LIB, Bewegungsfreiheit)

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt. Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten (LIB, COVID-19).

Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt. Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (LIB, COVID-19).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit nur für Geschäftsreisende geöffnet (s. obige Ausführungen zu COVID-19). Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (LIB, COVID-19).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig ’gelbe Seiten’ oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Auch muss sich ein Neuankömmling bei Ankunft nicht in dem neuen Ort registrieren. Die Gemeinschafts- bzw. Bezirksältesten führen kein Personenstandsregister, die Regierung registriert jedoch Rückkehrer. In Kabul, aber auch in Mazar-e Sharif müssen unter Umständen gewisse Melde- und Ausweisvorgaben beim Mieten einer Wohnung oder eines Hauses erfüllt werden. In Gebieten ohne hohes Sicherheitsrisiko ist es oftmals möglich, ohne einen Identitätsnachweis oder eine Registrierung bei der Polizei eine Wohnung zu mieten. Dies hängt allerdings auch vom Vertrauen des Vermieters in den potentiellen Mieter ab (LIB, Meldewesen).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Regierungsfeindliche Gruppierungen).

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LIB, Taliban).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Taliban).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 Prozent zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (LIB, Taliban).

Provinzen und Städte

Herkunftsprovinz Parwan

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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