TE OGH 2021/9/2 9Ob45/21i

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Veröffentlicht am 02.09.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau, Hon.-Prof. Dr. Dehn, Dr. Hargassner und Mag. Korn in der Rechtssache der klagenden Partei N***** P*****, vertreten durch Mag. Martin Rützler, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagte Partei L***** N*****, vertreten durch Dr. Christoph Ganahl LL.M., Rechtsanwalt in Dornbirn, wegen 8.848,60 EUR sA und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Berufungsgericht vom 8. April 2021, GZ 2 R 46/21m-53, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Dornbirn vom 15. Dezember 2020, GZ 35 C 95/18m-49, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision der klagenden Partei wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei hat die Kosten der Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Begründung:

[1]       Am 7. 9. 2017, etwa um Mitternacht, erlitt der Vater des damals 16-jährigen Beklagten einen Herzinfarkt. Der Beklagte nahm zu diesem Zeitpunkt an einer etwa 1,5 km entfernten Geburtstagsfeier teil. Nach Verständigung durch seine Mutter lief der (mäßig alkoholisierte) Beklagte sofort nach Hause. Auf dem Weg in den zweiten Stock des Hauses nahm er ein im Eingangsbereich liegendes Taschenmesser mit in den 2. Stock, wo er den Vater am Boden liegen sah. Das Rettungsteam, bestehend aus einer Ärztin, zwei Sanitätern, einer Pflegerin und der Klägerin, war mit der Reanimation des Vaters beschäftigt. In der Folge „flippte“ der Beklagte völlig aus. Er spielte mit dem ausgeklappten Messer herum und drohte die Mitglieder des Rettungsteams umzubringen, wenn sein Vater sterben würde. Der Beklagte hatte subjektiv das Gefühl, dass sich das Rettungsteam nicht ausreichend um seinen Vater kümmern würde, was aber nicht den Tatsachen entsprach. Der Beklagte befand sich zum Zeitpunkt dieses Vorfalls aufgrund einer schweren akuten Belastungsreaktion in einem seelischen Ausnahmezustand, wodurch es ihm nicht mehr möglich war, in dieser Situation adäquat und zielgerichtet zu handeln und das Unrecht seiner Tat einzusehen. Die Klägerin erlitt infolge des Verhaltens des Beklagten eine posttraumatische Belastungsstörung mit Krankheitswert.

[2]       Der Haftpflichtversicherung des Vaters des Beklagten liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Haftpflichtversicherung zu Grunde (AHPR 2012 idF 07/2012), die auszugsweise wie folgt lauten:

A. - Privat-Haftpflichtrisiko

[…]

1. Deckungsumfang

Die Versicherung erstreckt sich im Rahmen des versicherten Risikos auf Schadenersatzverpflichtungen des Versicherungsnehmers als Privatperson aus den Gefahren des täglichen Lebens mit Ausnahme der Gefahr einer beruflichen, betrieblichen oder gewerbsmäßigen Tätigkeit, …

2. Mitversicherte Personen

Die Versicherung erstreckt sich im Rahmen des versicherten Risikos auf gleichartige Schadenersatzverpflichtungen folgender Personen:

2.2. Minderjährige Kinder ... des Versicherungsnehmers ...

[3]       Die Vorinstanzen wiesen das auf Leistung und Feststellung gerichtete Schadenersatzbegehren der Klägerin gegen den Beklagten ab. Soweit für das Revisionsverfahren noch relevant, wurde die Klagsabweisung damit begründet, dass die Billigkeitshaftung des § 1310 dritter Fall ABGB, auf die die Klägerin ihren Anspruch stützt, hier nicht zum Tragen komme. Die Haftpflichtversicherung des Vaters, die grundsätzlich auch Schadenersatzverpflichtungen des Beklagten umfasse, decke den gegenständlichen Schaden nicht, weil nur Schadersatzverpflichtungen, die aus den Gefahren des täglichen Lebens resultierten, versichert seien. Dass die Gemütserregung einer Angehörigen aufgrund der Lebensgefahr des Patienten zu einer schweren akuten Belastungssituation des Angehörigen führe, in der dieser mit einem Taschenmesser mit ausgefahrener Klinge hantiere und die Mitglieder des Rettungsteams mit dem Umbringen bedrohe, sei keine vom Risiko einer Haftpflichtversicherung umfasste Gefahr des täglichen Lebens, in die ein Durchschnittsmensch im normalen Lebensverlauf üblicherweise gerate. Vielmehr handle es sich hier um eine außergewöhnliche Situation, die aufgrund der Verkettung von besonderen Umständen zur Handlung des Beklagten geführt habe.

[4]       Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zur Frage zugelassen, ob eine akute Belastungsreaktion bei einem unverschuldet eingetretenen traumatischen Ereignis, die zu einem Handeln im Zustand der Verschuldensunfähigkeit führe, unter den versicherungsrechtlichen Begriff der Gefahr des täglichen Lebens zu subsumieren sei.

[5]       Dem schloss sich die Revisionswerberin zwecks Begründung der Zulässigkeit ihres Rechtsmittels nach § 502 Abs 1 ZPO an. In ihrer Revision beantragt sie die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer Klagsstattgabe; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[6]            Der Beklagte beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[7]       Die Revision ist – ungeachtet des den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruchs des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) – nicht zulässig.

[8]             1. Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind. In Punkt A.1. AHPR 2012 wird eine primäre Risikoumschreibung dahin vorgenommen, dass der Risikobereich „Gefahren des täglichen Lebens“ unter Versicherungsschutz gestellt wird (vgl 7 Ob 53/21a Pkt. 1. zu Art 12.1 AHB 2006/Stufe 2).

[9]             2. Der versicherungsrechtliche Begriff der „Gefahr des täglichen Lebens“ ist nach ständiger Rechtsprechung so auszulegen, dass davon jene Gefahren, mit denen üblicherweise im Privatleben eines Menschen gerechnet werden muss, umfasst sind (RS0081099). Die Gefahr, haftpflichtig zu werden, stellt im Leben eines Durchschnittsmenschen nach wie vor eine Ausnahme dar. Deshalb will die Privathaftpflichtversicherung prinzipiell Deckung auch für außergewöhnliche Situationen schaffen, in die auch ein Durchschnittsmensch hineingeraten kann. Freilich sind damit nicht alle ungewöhnlichen und gefährlichen Tätigkeiten abgedeckt (RS0081276). Für das Vorliegen einer Gefahr des täglichen Lebens ist nicht erforderlich, dass sie geradezu täglich auftritt. Vielmehr genügt es, wenn die Gefahr erfahrungsgemäß im normalen Lebensverlauf immer wieder, sei es auch seltener, eintritt. Es darf sich nur nicht um eine ungewöhnliche Gefahr handeln, wobei Rechtswidrigkeit oder Sorglosigkeit eines Vorhabens den daraus entspringenden Gefahren noch nicht die Qualifikation als solche des täglichen Lebens nehmen. Voraussetzung für einen aus der Gefahr des täglichen Lebens verursachten Schadenfall ist nämlich eine Fehlleistung oder eine schuldhafte Unterlassung des Versicherungsnehmers (RS0081070). Auch ein vernünftiger Durchschnittsmensch kann aus Unvorsichtigkeit eine außergewöhnliche Gefahrensituation schaffen und sich in einer solchen völlig falsch verhalten oder sich zu einer gefährlichen Tätigkeit, aus der die entsprechenden Folgen erwachsen, hinreißen lassen. Derartigen Fällen liegt eine falsche Einschätzung der jeweiligen Sachlage zugrunde (7 Ob 53/21a Pkt 1. mwN).

[10]      3. Die Abgrenzung zwischen dem gedeckten Eskalieren einer Alltagssituation und einer nicht gedeckten ungewöhnlichen und gefährlichen Tätigkeit hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, die in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO begründen (7 Ob 86/19a Pkt 2.1; 7 Ob 100/20m Pkt 1.2.; 7 Ob 47/21v Pkt 1.2, ua). Dies gilt auch im vorliegenden Fall, hat doch das Berufungsgericht diese Abgrenzung im Rahmen der zuvor dargestellten Grundsätze des versicherungsrechtlichen Fachsenats des Obersten Gerichtshofs vorgenommen:

[11]            4. Von einer Gefahr des täglichen Lebens wäre nur dann auszugehen, wenn die Annahme zuträfe, dass ein Durchschnittsmensch im normalen Lebensverlauf erfahrungsgemäß, wenngleich selten, aber doch in die Lage gerät, zum ersten aufgrund eines traumatischen Ereignisses eine so schwere akute Belastungsreaktion zu entwickeln, dass er in dieser Situation nicht imstande ist, ein allfälliges Unrecht seiner Tat einzusehen und dieser Einsicht entsprechend zu handeln, und zum zweiten in diesem Zustand eine Todesdrohung gegen andere Personen unter gleichzeitigem Hantieren mit einem Taschenmesser zu tätigen. Das Berufungsgericht hat dies ua mit Verweis auf die Entscheidung 7 Ob 145/17z Pkt 8.2., wonach eine infolge psychischer Erkrankung erfolgte Messerattacke keine solche vom gedeckten Risiko umfasste Gefahr des täglichen Lebens ist, in die ein Durchschnittsmensch im normalen Lebensverlauf üblicherweise gerät, vertretbar verneint. Auf den in der Revision der Klägerin relevierten Umstand, dass Angriffe auf Sanitätspersonal und Ärzte in der Praxis ganz allgemein sehr häufig vorfallen, kommt es demgegenüber nicht an, abgesehen davon, dass eine Todesdrohung unter gleichzeitigem Hantieren mit einem Messer ein Verhalten darstellt, das Durchschnittsmenschen generell völlig fremd ist (siehe zu dieser Erwägung 7 Ob 125/18k Pkt 2.2).

[12]     Die Revision der Klägerin ist daher mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

[13]     Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 40, 50 ZPO. Für die Revisionsbeantwortung steht kein Kostenersatz zu, weil der Beklagte darin die Unzulässigkeit des Rechtsmittels nicht geltend gemacht hat (RS0035979).

Textnummer

E132831

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0090OB00045.21I.0902.000

Im RIS seit

13.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

13.10.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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