Entscheidungsdatum
10.05.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L514 2236371-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , alias XXXX , geb. XXXX , StA Irak, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.09.2020, Zl. XXXX -RD Oberösterreich, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, sunnitischer Moslem und der Volksgruppe der Araber angehörig, reiste am XXXX illegal in das Bundesgebiet ein und stellte nach dem Aufgriff durch die der PI XXXX beim Grenzübergang, einen Antrag auf internationalen Schutz. Noch am gleichen Tag wurde er durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.
Im Rahmen der Erstbefragung brachte der Beschwerdeführer vor, dass sein Name XXXX sei und er am XXXX in XXXX /Irak geboren sei. Seine Eltern sowie seine fünf Brüder und drei Schwestern würden noch im Irak leben.
Des Weiteren führte der Beschwerdeführer aus, dass er den Irak im XXXX 2019 in Richtung Türkei verlassen habe um nach Deutschland zu reisen und dort zu arbeiten. Er sei mit seinem irakischen Reisepass (ausgestellt in XXXX ) ausgereist. Dieser würde sich nun aber bei einem Bekannten in der Türkei in XXXX befinden.
Als Grund für die Ausreise führte der Beschwerdeführer an, dass er vor der Miliz Asaib Al-Haqq geflüchtet sei. Er sei politisch gegen diese Milizen gewesen. Als seine Eltern das erfahren hätten, hätten sie ihm gesagt, dass er den Irak verlassen solle. Er habe Angst um sein Leben gehabt; das Leben im Irak sei nicht sicher und sei die allgemeine Situation sehr schlecht.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er ledig sei. Er stamme aus XXXX und habe dort neun Jahre lang die Grundschule besucht. Er habe anschließend eine Ausbildung zum Elektromechaniker gemacht und zuletzt auch in diesem Beruf gearbeitet.
2. Aufgrund des Ergebnisses der EURODAC-Abfrage, welche einen Treffer am XXXX in Griechenland, ergab, wurden von der belangten Behörde gemäß Dublin-Verordnung sowohl Konsultationen mit Griechenland als auch mit Ungarn geführt. Mit Schreiben der Generaldirektion für Asylangelegenheiten Ungarn vom 16.12.2019 wurde dem BFA mitgeteilt, dass die übermittelten Fingerabdrücke keine Übereinstimmung in der Datenbank ergeben hätten. Der Beschwerdeführer habe folglich in Ungarn keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und sei er in Ungarn auch nicht angehalten worden. Ungarn sei daher nicht zuständig. Am 07.02.2020 teilte auch das Ministerium für Migration und Asyl Griechenlands mit, dass der Beschwerdeführer zwar am XXXX von den Behörden aufgrund der illegalen Einreise registriert worden sei, jedoch keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe und ihm keine Aufenthaltsberechtigung in Griechenland erteilt worden sei. Griechenland erachte sich daher ebenfalls als nicht zuständig.
3. Am 15.06.2020 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab auf Nachfrage an, dass sein Name XXXX laute und er am XXXX in XXXX geboren sei. Er sei Araber und sunnitischer Moslem. Gesundheitlich gehe es ihm gut und er nehme auch keine Medikamente. Der Beschwerdeführer legte dem BFA in weiterer Folge eine Kopie einer Seite seines irakischen Reisepasses und eine Kopie seines irakischen Personalausweises vor. Befragt zu den Originalen legte er dar, dass sich sein Personalausweis in XXXX befinden würde. Seinen Reisepass habe er bei einer Person namens XXXX in der Türkei gelassen, da er Angst gehabt habe, dass er bei der Überfahrt mit dem Boot von der Türkei nach Griechenland verloren gehe. Weitere Beweismittel brachte er nicht in Vorlage.
Der Beschwerdeführer führte weiter aus, dass er ledig sei und keine Kinder habe. Seine Eltern, seine fünf Brüder und drei Schwestern würden noch im Irak leben. Sein Vater heiße XXXX , sei XXXX geboren, lebe in XXXX und arbeite als Hilfsarbeiter. Seine Mutter heiße XXXX , sei XXXX geboren und sei Hausfrau. Seine fünf Brüder würden alle bei den Eltern leben und die drei Älteren gingen auch einem Beruf nach. Seine drei Schwestern seien verheiratet und würden ebenfalls in XXXX leben.
Der Beschwerdeführer selbst habe 9 Jahre lang die Schule besucht, aber keinen Abschluss erlangt. Als er 16 Jahre alt gewesen sei habe er begonnen zu arbeiten. Er habe in weiterer Folge eine sechsmonatige Ausbildung im Bereich Kältetechnik gemacht und habe in einem privaten Unternehmen zu arbeiten begonnen, wo er das Service und die Reparatur von Maschinen durchführen habe müssen. Dies habe er gemacht, bis er aus dem Irak ausgereist sei. Den Irak habe er letztlich im XXXX 2019 in Richtung Türkei verlassen. Von wo er mit Hilfe eines Schleppers nach Österreich gereist sei.
Nach seinen Ausreisegründen befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass er im Irak ganz normal arbeiten gegangen sei. An Feiertagen oder auch anderen Tagen nach der Arbeit habe er an Demonstrationen, die am Tahrir-Platz stattgefunden hätten, teilgenommen. Dabei hätten sie auch gegen die islamischen Milizen, die sie unterdrückten würden, gerufen. Das erste Mal habe er XXXX 2019 an einer solchen Demonstration teilgenommen. Die Demonstrationen seien immer größer und die Teilnehmer immer mehr geworden. Sie seien auch zu den politischen Gegnern gegangen und hätten dort Parolen gerufen, woraufhin sie Probleme bekommen hätten. Es seien dann Anhänger der Milizen gekommen, sie seien bewaffnet gewesen, und sie hätten sie auch geschlagen. Ein Anhänger der Miliz Al-Haqq, welcher in der Nähe wohnte, habe seinem Vater in der Folge gesagt, dass der Beschwerdeführer auf einer Liste von Leuten stehen würde, die getötet werden sollen. Sein Vater sei deshalb wütend auf ihn gewesen, weil er mit den Milizen keine Probleme haben wollte. Zwei Tage später sei der Beschwerdeführer zu einem Arbeitskollegen, welcher in XXXX gelebt habe, geflohen. Dort sei er noch 12 Tage geblieben. Der Arbeitskollege habe für ihn auch die Ausreise organisiert und ihm empfohlen, mit dem Bus in die Türkei zu reisen.
Sein Freund habe auch mit seinem Bruder Ali Kontakt aufgenommen, welcher bei derselben Firma gearbeitet habe wie der Beschwerdeführer, damit er ihm finanziell helfe. Während er bei seinem Freund in Al-Sadr gewesen sei, seien auch die Milizen zu seiner Familie gekommen und sein Vater hätte ihnen gesagt, dass er ihnen Bescheid geben werde, wenn der Beschwerdeführer zurückkomme. Das habe er von seinem Freund erfahren der Kontakt mit seinem Bruder gehabt habe. Als er das gehört habe, sei er ausgereist. Das sei alles wegen der Demonstrationsteilnahmen gewesen. Aus diesem Grund sei der Beschwerdeführer selbst wie auch seiner Familie von den Milizen bedroht.
Auf weitere Nachfrage, ob es drüber hinaus noch Vorfälle gegeben habe, wurde vom Beschwerdeführer ausgeführt, dass er einmal seine verheiratete Schwester besuchen habe wollen; er sei mit dem Auto von einigen bewaffneten Männern angehalten worden. Einer meinte dann: „das ist nicht der den wir suchen“, und sie seien wieder weggefahren. Dieses Ereignis habe noch vor den Demonstrationen stattgefunden.
Der Beschwerdeführer habe sich gegen die Milizen gerichtet, weil sie die Bevölkerung bedrohen würden und man ständig Gefahr laufe, getötet zu werden. Wenn er an Demonstrationen teilnehme, dann hätten sie wenigstens einen Grund. Er habe sich insbesondere gegen die Asaib Al-Haqq gerichtet. Es sei eine islamische-schiitische Miliz die pro Iran sei. Die Demos hätten zuerst unter 1000 Personen umfasst, doch dann seien es immer mehr geworden. Mitte Mai 2019 sei er am Tahrir-Platz von den Milizen mit Holzstangen geschlagen und sei mit Waffen in die Luft gefeuert worden. Die Miliz Asaib Al-Haqq sei vermutlich zum Namen des Beschwerdeführers gekommen, weil andere Teilnehmer, die die Miliz unterstützt hätten, ihn weitergegeben hätten. An die irakischen Behörden habe sich der Beschwerdeführer deswegen nicht gewandt, weil diese stark mit den Milizen verwurzelt seien. Er habe bei den Demonstrationen teilgenommen, weil ihr Leben von den Milizen bedroht sei. Einer seiner Freunde sei bereits durch die Milizen getötet worden, das habe er von vielen Leuten gehört. Der Name des Beschwerdeführers würde sich zwar auf einer Todesliste befinden, eine persönliche Bedrohung habe es aber noch nicht gegeben. Er befürchte bei einer Rückkehr getötet zu werden.
Im Hinblick auf seine Integration in Österreich gab der Beschwerdeführer an, dass er derzeit einen Deutschkurs mache. In seiner Asylunterkunft gebe es eine Familie, die sich um die Leute sorge. Er glaube sie heiße XXXX . Arbeiten könne er derzeit wegen Corona nicht gehen. Seinen Personalausweis könne er sich von einem Freund aus XXXX schicken lassen. Er habe derzeit nur Kontakt zu seinem Bruder XXXX .
4. Am 07.08.2020 langten die vom BFA angeforderten Originaldokumente des Beschwerdeführers, der irakischen Personalausweises Nr. XXXX und der Staatsbürgerschaftsnachweis Nr. XXXX , bei der Behörde ein. Laut Prüfbericht der LPD XXXX , LKA, vom 08.09.2020 handelt es sich bei den beiden vorgelegten Dokumenten um Originaldokumente.
5. Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 25.09.2020, Zl. 1253286807/191198927-RD Oberösterreich, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sei (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG (Spruchpunkt VI.) wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass der Beschwerdeführer einer Verfolgung seiner Person durch der Miliz Asaib Al-Haqq nicht glaubhaft machen konnte und ihm auch sonst keine Verfolgung durch staatliche Organe oder Dritte drohe.
Es erscheine der Behörde zwar möglich, dass der Beschwerdeführer an Demonstrationen im Irak teilgenommen habe, jedoch sei es nicht nachvollziehbar, weshalb der Beschwerdeführer in das Blickfeld von Milizen geraten und er auch auf einer Todesliste gestanden sei, da er die Demonstrationen nicht organisiert habe. Auch zu den Gründen für die Teilnahme an den Demonstrationen habe der Beschwerdeführer nur allgemeine Aussagen getätigt, nämlich, dass das Leben unter den Milizen ungewiss wäre. Der Beschwerdeführer habe während der gesamten Einvernahme beim BFA nicht nachvollziehbar darlegen können, inwieweit er von den Aktivitäten der Milizen im Irak betroffen sei und welche Gründe maßgeblich für die Teilnahme an den Demonstrationen gewesen seien. Soweit der Beschwerdeführer angebe, er sei bei Demonstrationen auch von Anhängern der Miliz geschlagen worden, so gehe die Behörde davon aus, dass diese Attacke nicht gezielt gegen den Beschwerdeführer gerichtet gewesen sei, sondern auch andere Teilnehmer mit dem Ziel geschlagen worden seien, die Demonstration zu zerschlagen bzw. die Teilnehmer einzuschüchtern; eine Verfolgung würde sich daraus jedoch nicht ergeben. Insbesondere sei die Wichtigkeit des Beschwerdeführers für die Milizen nicht erkennbar, da der Beschwerdeführer keine bedeutenden Ereignisse geschildert habe, welche ihn ins Blickfeld geraten hätten lassen. Auch habe er nicht schlüssig darlegen können, wie ihn die Milizen namentlich identifizieren hätten können, dies im Hinblick darauf, dass es sich nach den Angaben des Beschwerdeführers um riesige Demonstrationen gehandelt habe.
Auch liege ein gesteigertes Vorbringen vor, da der Beschwerdeführer weder die Demonstrationen noch die Todesliste bei der Erstbefragung bei der Polizei erwähnt habe.
Aus den Länderinformationen (10.1.1. Protestbewegungen) würde sich ergeben, dass Milizen zwar gegen Demonstranten eingesetzt worden seien, es grundsätzlich jedoch keine Verfolgung einzelner Demonstranten durch die Milizen gegeben habe. Ein tatsächliches Vorgehen gegen Demonstranten habe es erst ab 01.10.2019 gegeben, einem Zeitpunkt in welchem der Beschwerdeführer nicht mehr im Irak gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe nur von seinem Vater gehört, dass er auf einer Todesliste stehe; zu dem Nachbarn, der angeblich Anhänger der Asaib Al-Haqq sei, habe er ebenfalls keine Angaben machen können. Auch seien keine weiteren Angaben zu der Todesliste gemacht worden. Auch befragt zu dem Nachbarn, der die Botschaft überbracht habe, habe der Beschwerdeführer nur ausweichende Antworten gegeben, nämlich, dass er ihn nicht kennen würde. Ferner habe der Beschwerdeführer auf Nachfrage noch angegeben, dass er bis zur Ausreise niemals persönlich bedroht worden sei.
Die Aussagen in der Einvernahme vor dem BFA, sein Vater würde ihn an die Milizen ausliefern, stehe im Widerspruch zu seinen Aussagen in der Erstbefragung, wo er meinte, seine Eltern hätten ihm gesagt er solle das Land verlassen. Privaten Problemen würde darüber hinaus jedenfalls keine asylrechtliche Relevanz zukommen.
Das Fluchtvorbringen bzw. die Bedrohung durch die Miliz Asaib Al-Haqq sei nach Ansicht des BFA als nicht glaubhaft zu werten. Würden man von einer Glaubwürdigkeit ausgehen, stünde dem Beschwerdeführer auch eine IFA im Nordirak in XXXX offen, da dieses Gebiet nicht der Kontrolle schiitischer Milizen unterliege. Letztlich wurde festgehalten, dass es sich bei den Ausreisegründen lediglich um ein Konstrukt des Beschwerdeführers handeln würde. Ferner habe der Beschwerdeführer auch immer wieder wirtschaftliche Interessen ins Treffen geführt, so zum Beispiel, dass er nach Deutschland wolle, um dort zu arbeiten.
Durchgehend sei das gesamte Fluchtvorbringen nur sehr vage gewesen und habe der Beschwerdeführer keine persönliche Verfolgung oder Bedrohung namhaft machen können, sondern sich immer nur auf die Aussagen Dritter berufen.
Mit Verfahrensanordnung vom 28.09.2020 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtberater amtswegig zu Seite gestellt.
6. Gegen den Bescheid erhob der Vertreter des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 20.10.2020 fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass die Beurteilung der Behörde, dass er in seinem Heimatland nicht der Gefahr einer Verfolgung durch die Miliz Asaib Al-Haqq ausgesetzt sei, nicht richtig sei. Der Beschwerdeführer habe in seinen Befragungen ausführlich zu seinen Fluchtgründen Stellung genommen und die ihm gestellten Fragen beantwortet. Inwieweit man dabei ins Detail gehen müsse, könne er selbst nicht beurteilen. Wenn asylrelevante Antworten ausgeblieben seien, so wäre er jederzeit bereits gewesen diese zu beantworten. Durch die Teilnahme an Demonstrationen, welche sich gegen die Regierung und die Milizen gerichtet hätten, sei er in das Visier der Asaib Al-Haqq geraten. Während der Veranstaltungen sei gefilmt worden und auch Fotos seien gemacht worden, weswegen man ihn identifizieren hätte können. Ein Nachbar hätte seinem Vater gesagt, dass er auf einer Todesliste stehe; er sei deswegen in Furcht und Angst geraten und habe deshalb das Land verlassen. Die Milizen hätten sich an jenen Personen rächen wollen, welche begonnen hätten, gegen die bestehenden Zustände auf die Straße zu gehen. Sein Vater habe den Milizen gesagt, dass er ihn an sie ausliefern würde. Im Irak sei sein Leben in Gefahr gewesen, weshalb er sich gezwungen gesehen habe, das Land zu verlassen. Im Frühsommer 2019 hätten im Irak sehr wohl Umstände geherrscht, dass gegen einzelne Demonstranten vorgegangen worden sei. Im Mai 2019 sei das Ausmaß an Demonstranten noch überschaubar gewesen und habe die Miliz ein großes Interesse gehabt, diejenigen auszuforschen, welche begonnen hätten sich gegen die Umstände im Irak auszusprechen. Er habe andere aufgerufen sich an den Protesten zu beteiligen. Die Asaib Al-Haqq sei eine besonders gewalttätige Gruppierung, welche Interesse daran habe, ihre Machtposition zu behalten. Aus diesem Grund würden Demonstranten klein gehalten und für ihre Proteste bestraft werden. Auch sei ihm vorgeworfen worden, er habe sein Vorbringen gesteigert und wichtige Tatsachen bei der Erstbefragung nicht erwähnt. Gemäß § 19 AsylG diene die Erstbefragung jedoch nicht dazu die Fluchtgründe abschließend zu erläutern und habe er seiner Mitwirkungspflicht iS des § 15 AsylG jedenfalls entsprochen, als er seine Fluchtgründe vor dem Bundesamt geschildert habe. Er habe ganz konkret angegeben, dass er Schwierigkeiten mit der Asaib Al-Haqq habe und politisch gegen sie sei. Dass er dieses Vorbringen erst im Zuge der Einvernahme konkretisiert habe, entspreche seiner Ansicht nach auch den gesetzlichen Bestimmungen. Die Behörde habe auch keinerlei Ermittlungen im Irak durchgeführt, obwohl er genaue Ortsangaben gemacht habe. Im Asylverfahren gelte der Grundsatz der Offizialmaxime gem. § 18 Abs. 1 AsylG und somit die amtswegige Erforschung des maßgeblichen Sachverhalts. Es wäre der Behörde deshalb durchaus zumutbar gewesen Erkundigungen einzuholen, zumal der Beschwerdeführer konkrete Angaben gemacht habe. Da die Behörde dies verabsäumt habe verstoße sie gegen § 18 Abs. 1 AsylG, weshalb das Verfahren mit Mangelhaftigkeit behaftet sei. Eine Fluchtalternative komme für ihn nicht in Betracht, die Miliz würden ihn überall finden.
Im Irak habe der Beschwerdeführer seine politische Überzeugung durch die Teilnahme an Demonstrationen gegen die Herrschaft der Milizen, gegen die allgemeinen Zustände im Land sowie die politische Führung, im öffentlichen Raum kundgetan. Er sei durch die Teilnahme ins Visier der Asaib Al-Haqq Miliz geraten und sein Name sei auf eine Todesliste gesetzt worden. Im Irak habe er keinerlei Chance auf ein faires Verfahren, im Gegenteil Militär und Sicherheitskräfte gingen mit Gewalt und großer Brutalität gegen Demonstranten vor, wie die Geschehnisse im Oktober 2019 belegen würden, als viele Demonstranten ihr Leben lassen mussten.
Jedenfalls würde ihn bei Rückkehr eine Bestrafung erwarten die gegen Art 2 und Art 3 EMRK verstoßen würde. Jede andere Person in seiner Lage würde ebenfalls Angst haben. Im angefochtenen Bescheid würden sich auch keine Ausführungen über die Auswirkungen der Corona-Pandemie im Irak finden. Diese Problematik sei jedenfalls bei der Entscheidung über das Vorliegen der Gründe für subsidiären Schutz als auch bei der Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen gewesen.
Hinsichtlich seines gesundheitlichen Zustands wolle der Beschwerdeführer auf seinen Haarausfall verweisen. Er habe dies auch bei der Einvernahme bei der Behörde angesprochen. Er habe eine Fachärztin aufgesucht, die gemeint habe, dass dies psychische Ursachen haben könnte. Er sei auch zur weiteren Abklärung verwiesen worden, jedoch habe er noch keine weiteren medizinischen Unterlagen. Sobald diese vorliegen würden, werde er sie dem Gericht übermitteln. Derzeit besuche er auch einen Deutschkurs. Die Bestätigung des Besuchs eines Deutschkurses A1 Teil 1 wurde der Beschwerde angeschlossen.
7. Mit E-Mail, eingelangt am 15.03.2021, wurde das Bundesverwaltungsgericht darüber informiert, dass der Beschwerdeführer in Italien aufgegriffen worden sei und Österreich einer Rückübernahme zugestimmt habe. Gleichzeitig wurde eine Kopie eines irakischen Reisepasses, lautende auf XXXX , geb. XXXX , ausgestellt am XXXX und gültig bis XXXX in Vorlage gebracht.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
1.1. Feststellungen zur Person:
Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer ist am XXXX in XXXX geboren; er besitzt die irakische Staatsangehörigkeit.
Der Beschwerdeführer gehört dem sunnitischen Glauben und der Volksgruppe der Araber an. Seine Muttersprache ist Arabisch. Er ist am XXXX illegal in Österreich eingereist und stellte am selben Tag bei der PI XXXX , XXXX , einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer ist ledig. Seine Familie, seine Eltern, seine fünf Brüder und seine drei Schwestern leben alle nach wie vor in XXXX im Irak. Sein Vater und seine drei erwachsenen Brüder gehen alle arbeiten. Zwei weitere Brüder sind noch minderjährig. Alle Brüder leben noch im Haus der Eltern. Seine drei Schwestern sind verheiratet; sie leben nicht mehr bei den Eltern, jedoch leben sie in XXXX .
Der Beschwerdeführer steht nur mit seinem ältesten Bruder XXXX , welcher als Angestellter bei jener Firma arbeitet, bei welcher der Beschwerdeführer ebenfalls bis zu seiner Ausreise tätig gewesen ist, im aufrechten Kontakt.
Der Beschwerdeführer besuchte in XXXX insgesamt neun Jahre lang die Schule; drei Jahre davon besuchte er die Hauptschule ohne diese abzuschließen. Der Beschwerdeführer arbeitete seit seinem 16.Lebensjahr. Im Zuge dessen hat er eine sechsmonatige Ausbildung im Bereich Kältetechnik gemacht. Anschließend hat er in einem privaten Unternehmen gearbeitet und dort den Service und die Reparatur von Maschinen gemacht. Bei dieser Firma hat der Beschwerdeführer gearbeitet bis er aus dem Irak ausgereist ist.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich von 18.05.2020 bis 03.07.2020 einen Deutschkurs A1 Teil 1 besucht. Ein Zertifikat über eine abgelegte Deutschprüfung hat er hingegen nicht vorgelegt.
Der Beschwerdeführer bestreitet seinen Unterhalt in Österreich seit seiner Einreise von der österreichischen Grundversorgung. Er ist in keinem Verein tätig und übt auch keine ehrenamtliche Tätigkeit aus. Des Weiteren verfügt er in Österreich über keine nennenswerten sozialen Bindungen oder familiären Kontakte.
Der Beschwerdeführer leidet unter Haarausfall, dies könnte auf psychische Probleme hindeuten. Eine Diagnose liegt jedoch noch nicht vor. Der Beschwerdeführer leidet an keiner chronischen sowie schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Er ist arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer ist am XXXX selbstständig aus Österreich ausgereist und befindet sich derzeit in Italien. Einer Rückübernahme wurde seitens Österreich zugestimmt.
1.2. Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates:
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Das Vorbringen im Irak einer Verfolgung durch die Asaib Al-Haqq ausgesetzt zu sein, weil er im Jahr 2019 an Demonstrationen gegen die politische Lage im Irak teilgenommen hat, war nicht glaubhaft.
Weiters kann nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit mit sich bringen würde.
1.3. Zur aktuellen Lage im Irak wird auf folgende Feststellungen verwiesen:
Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/, Zugriff 13.3.2020
- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020
- Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
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- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
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- New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020
Islamischer Staat (IS)
Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).
Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).
Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).
Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).
Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).
Quellen:
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (18.6.2019): Regional Overview – Middle East 18 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/18/regional-overview-middle-east-18-june-2019/, Zugriff 13.3.2020
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (27.5.2019): Briefing Notes 27. Mai 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010482/briefingnotes-kw22-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- BBC News (23.12.2019): Isis in Iraq: Militants 'getting stronger again', https://www.bbc.com/news/world-middle-east-50850325, Zugriff 13.3.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- Garda World (3.3.2020): Iraq Country Report, https://www.garda.com/crisis24/country-reports/iraq, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.6.2019): Islamic State’s Revenge Of The Levant Campaign In Full Swing, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/06/islamic-states-revenge-of-levant.html, Zugriff 13.3.2020
- Military Times (7.7.2019): Iraqi forces begin operation against ISIS along Syrian border, https://www.militarytimes.com/flashpoints/2019/07/07/iraqi-forces-begin-operation-against-isis-along-syrian-border/, Zugriff 13.3.2020
- NINA - National Iraqi News Agency (17.1.2020): ISIS Elements executed a herd of buffalo by firing bullets northeast of Baquba. http://ninanews.com/Website/News/Details?key=808154, Zugriff 13.3.2020
- PGN - Political Geography Now (11.1.2020): Iraq Control Map & Timeline - January 2020, https://www.polgeonow.com/2020/01/isis-iraq-control-map-2020.html, Zugriff 13.3.2020
- Portal, The (9.10.2019): Iraq launches a new process of “Will to Victory”, http://www.theportal-center.com/2019/10/iraq-launches-a-new-process-of-will-to-victory/, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020
- UN General Assembly (30.7.2019): Children and armed conflict; Report of the Secretary-General [A/73/907–S/2019/509], https://www.ecoi.net/en/file/local/2013574/A_73_907_E.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
Quellen:
- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020
- IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019,https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitslage Bagdad
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit des Gouvernements wird sowohl vom „Baghdad Operations Command“ kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst bezieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).
Entscheidend für das Verständnis der Sicherheitslage Bagdads und der umliegenden Gebiete sind sechs mehrheitlich sunnitische Regionen (Latifiya, Taji, al-Mushahada, al-Tarmia, Arab Jibor und al-Mada'in), die die Hauptstadt von Norden, Westen und Südwesten umgeben und den sogenannten „Bagdader Gürtel“ (Baghdad Belts) bilden (Al Monitor 11.3.2016). Der Bagdader Gürtel besteht aus Wohn-, Agrar- und Industriegebieten sowie einem Netz aus Straßen, Wasserwegen und anderen Verbindungslinien, die in einem Umkreis von etwa 30 bis 50 km um die Stadt Bagdad liegen und die Hauptstadt mit dem Rest des Irak verbinden. Der Bagdader Gürtel umfasst, beginnend im Norden und im Uhrzeigersinn die Städte: Taji, Tarmiyah, Baqubah, Buhriz, Besmaja und Nahrwan, Salman Pak, Mahmudiyah, Sadr al-Yusufiyah, Fallujah und Karmah und wird in die Quadranten Nordosten, Südosten, Südwesten und Nordwesten unterteilt (ISW 2008).
Fast alle Aktivitäten des Islamischen Staate (IS) im Gouvernement Bagdad betreffen die Peripherie der Hauptstadt, den „Bagdader Gürtel“ im äußeren Norden, Süden und Westen (Joel Wing 5.8.2019; vgl. Joel Wing 16.10.2019; Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 5.3.2020), doch der IS versucht seine Aktivitäten in Bagdad wieder zu erhöhen (Joel Wing 5.8.2019). Die Bestrebungen des IS, wieder in der Hauptstadt Fuß zu fassen, sind Ende 2019 im Zuge der Massenproteste ins Stocken geraten, scheinen aber mittlerweile wieder aufgenommen zu werden (Joel Wing 3.2.2020; vgl. Joel Wing 5.3.2020).
Dabei wurden am 7.und 16.9.2019 jeweils fünf Vorfälle mit „Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ (IEDs) in der Stadt Bagdad selbst verzeichnet (Joel Wing 16.10.2019). Seit November 2019 setzt der IS Motorrad-Bomben in Bagdad ein. Zuletzt detonierten am 8. und am 22.2.2020 jeweils fünf IEDs in der Stadt Bagdad (Joel Wing 5.3.2020).
Für den Zeitraum von November 2019 bis Jänner 2020 wurden im Gouvernement Bagdad 60 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 42 Toten und 61 Verletzten verzeichnet (Joel Wing 2.12.2019; vgl. Joel Wing 6.1.2020; Joel Wing 3.2.2020), im Februar 2020 waren es 25 Vorfälle mit zehn Toten und 35 Verletzten (Joel Wing 5.3.2020). Die meisten dieser sicherheitsrelevanten Vorfälle werden dem IS zugeordnet, jedoch wurden im Dezember 2019 drei dieser Vorfälle pro-iranischen Milizen der Volksmobilisierungskräfte (PMF) zugeschrieben, ebenso wie neun Vorfälle im Jänner 2020 und ein weiterer im Februar (Joel Wing 6.1.2020; vgl Joel Wing 5.3.2020)
Die Ermordung des iranischen Generals Suleimani und des stellvertretenden Kommandeurs der PMF, Abu Muhandis, durch die USA führte unter anderem in der Stadt Bagdad zu einer Reihe von Vergeltungsschlägen durch pro-iranische PMF-Einheiten. Es wurden neun Raketen und Mörserangriffe verzeichnet, die beispielsweise gegen die Grüne Zone und die darin befindliche US-Botschaft sowie das Militärlager Camp Taji gerichtet waren (Joel Wing 3.2.2020).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements, darunter auch in Bagdad, zu teils gewalttätigen Demonstrationen.
Quellen:
- Al Monitor (11.3.2016): The rise of Islamic State sleeper cells in Baghdad, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2016/03/iraq-baghdad-belts-harbor-islamic-state.html, Zugriff 13.3.2020
- ISW - Institute for the Study of War (2008): Baghdad Belts, http://www.understandingwar.org/region/baghdad-belts, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.8.2019): Islamic State’s Offensive Could Be Winding Down, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/08/islamic-states-offensive-could-be.html, Zugriff 13.3.2020
- OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, https://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf, Zugriff 13.3.2020
Rechtsschutz / Justizwesen
Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).
Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).
Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).
Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).
Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).
Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).
Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).
Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (12.4.2018): Will Iraq's new 'tribal court' undermine rule of law?, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/04/iraq-tribalism-sheikhs-justice-law.html, Zugriff 13.3.2020
- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
- CEDAW - UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women (30.9.2019): The Compliance of Iraq with Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women; Alternative Report about the Death Penalty, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared Documents/IRQ/INT_CEDAW_CSS_IRQ_37410_E.DOCX, Zugriff 13.3.2020
- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/, Zugriff 13.12.2019
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html, Zugriff 13.3.2020
- HRW - Human Rights Watch (25.9.2019): Iraq: Appeals Courts Ignoring Torture Claims, https://www.ecoi.net/de/dokument/2017141.html, Zugriff 13.3.2020
- LIFOS (8.5.2014): Iraq: Rule of Law in the Security and Legal System, https://landinfo.no/asset/2872/1/2872_1.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Stanford - Stanford Law School (2013): Constitutional Law of Iraq, https://law.stanford.edu/wp-content/uploads/2018/04/ILEI-Constitutional-Law-2013.pdf, Zugriff 13.3.2020
- TCF - The Century Foundation (7.11.2019): Tribal Justice in a Fragile Iraq, https://tcf.org/content/report/tribal-justice-fragile-iraq/?agreed=1, Zugriff 13.3.2020
- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
Sicherheitskräfte und Milizen
Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).
Quellen:
- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq/, Zugriff 13.3.2020
- GS - Global Security (18.7.2019): Hashd al-Shaabi / Hashd Shaabi, Popular Mobilisation Units / People’s Mobilization Forces, https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hashd-al-shaabi.htm, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsmini