TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/27 W189 2007995-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.05.2021
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Entscheidungsdatum

27.05.2021

Norm

AsylG 2005 §4 Abs1
AsylG 2005 §56 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs11 Z2
AsylG-DV 2005 §8
BFA-VG §18 Abs2 Z1
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs3
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs4

Spruch


W189 2007993-4/2E
W189 2007994-2/2E
W189 2007995-4/2E
W189 2008215-4/2E
W189 2147275-3/2E
W189 2147264-3/2E
W189 2207607-2/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , 6.) XXXX , geb. XXXX und 7.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, vertreten durch RA Mag. Susanne SINGER, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zlen. 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX , 4.) XXXX , 5.) XXXX , 6.) XXXX und 7.) XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide zu lauten hat:

„Ihr Antrag auf Mängelheilung vom 30.10.2020 wird gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 iVm § 8 AsylG-DV 2005 abgewiesen.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Erstes Asylverfahren:

1.1. Der Zweitbeschwerdeführer (in der Folge: BF2), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

1.2. Die Erstbeschwerdeführerin (in der Folge: BF1), die Frau des BF2, und die Drittbeschwerdeführerin (in der Folge: BF3), die gemeinsame Tochter der BF1 und des BF2, Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellten nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Die BF1 wurde am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

1.3. Am XXXX wurde die Viertbeschwerdeführerin (in der Folge: BF4) als gemeinsame Tochter der BF1 und des BF2 in Österreich geboren. Sie stellte am XXXX durch die BF1 als ihre gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.4. Mit Bescheiden vom XXXX , Zlen. XXXX wurden die Anträge der BF1, der BF3 und der BF4 auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten als unzulässig zurückgewiesen, da für die Prüfung des Antrages Polen zuständig sei. Die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Polen wurde als zulässig erklärt.

1.5. Nach Erhebung einer Beschwerde gegen diese Bescheide wurde den Beschwerden mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs zu den Zlen. XXXX stattgegeben und die bekämpften Bescheide behoben.

1.6. Am XXXX wurden die BF1 und der BF2 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen.

1.7. Das BFA wies mit Bescheiden vom XXXX , Zlen. XXXX die Anträge der BF1, des BF2, der BF3 und der BF4 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnen gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen sie erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.).

1.8. Nach Erhebung einer Beschwerde gegen diese Bescheide wurden diese mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , behoben und die Angelegenheit zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurückverwiesen.

1.9. Am XXXX wurde die Fünftbeschwerdeführerin (in der Folge: BF5) als gemeinsame Tochter der BF1 und des BF2 in Österreich geboren. Sie stellte am XXXX durch die BF1 als ihre gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.10. Am XXXX wurde der Sechstbeschwerdeführer (in der Folge: BF6) als gemeinsamer Sohn der BF1 und des BF2 in Österreich geboren. Er stellte am XXXX durch die BF1 als seine gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.11. Am XXXX wurden die BF1 und der BF2 durch das BFA niederschriftlich einvernommen.

1.12. Das BFA wies mit Bescheiden vom XXXX , Zlen. XXXX die Anträge der BF1, des BF2, der BF3, der BF4, der BF5 und des BF6 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnen gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen sie erlassen und festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft dieser Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

1.13. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wurden und Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht XXXX mit Erkenntnis vom XXXX , XXXX , mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise mit drei Monaten ab Rechtskraft dieser Entscheidung festgesetzt wurde.

1.14. Am XXXX wurde der Siebtbeschwerdeführer (in der Folge: BF7) als gemeinsamer Sohn der BF1 und des BF2 in Österreich geboren.

2. Zweites Asylverfahren:

2.1. Die BF1, der BF2 sowie die BF3, die BF4, die BF5, der BF6 und der BF7 durch die BF1 als gesetzliche Vertreterin stellten am XXXX einen (Folge-)Antrag auf internationalen Schutz.

2.2. Die BF1 und der BF2 wurden am XXXX durch das BFA niederschriftlich einvernommen.

2.3. Das BFA wies mit Bescheiden vom XXXX , Zlen. XXXX die Anträge der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen sie erlassen (Spruchpunkt IV.), festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft dieser Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

2.4. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wurden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , als unbegründet abgewiesen.

Die Rückkehrentscheidung begründend führte das Bundesverwaltungsgericht insbesondere aus, dass die BF zwar bereits (bis zu) rund XXXX Jahre in Österreich aufhältig seien, aber in dieser Zeit keine nachhaltigen Integrationsbemühungen gezeigt hätten. Es seien keine schützenswerten familiären oder privaten Bindungen zu Österreich hervorgekommen. Es sei den BF problemlos möglich, sich nach einer Rückkehr wieder in die Gesellschaft ihres Herkunftsstaates einzugliedern. Die Kinder befänden sich noch im anpassungs- und lernfähigen Altern. Hinweise auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen seien nicht hervorgekommen. Die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung würden daher schwerer wiegen als die persönlichen Interessen der BF an einem Verbleib im Bundesgebiet.

3. Gegenständliches Verfahren:

3.1. Am XXXX stellten die BF beim BFA persönlich einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ gemäß § 56 AsylG.

Dem Antrag beigelegt wurden ein durch die Erlangung eines Aufenthaltstitels bzw. einer Beschäftigungsbewilligung bedingter Arbeitsvorvertrag der BF1 als Verkäuferin zu einem Bruttomonatslohn von EUR 966,- bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden vom XXXX , eine Unterrichtsbescheinigung für die BF3 über Russischunterricht in der zweiten Klasse im Schuljahr XXXX , eine Bestätigung der Teilnahme der BF1 am Fest „Kulinarische Reise durch XXXX “ am XXXX , ein undatiertes Empfehlungsschreiben der in XXXX ansässigen „ XXXX GmbH“ über eine unbestimmte Mitarbeit der BF1, eine durch die Vorlage eines Personalausweises bedingte Einstellungszusage der BF1 und des BF2 durch die „ XXXX GmbH“ für eine unbestimmte Arbeitstätigkeit zu einem unbestimmten Lohn vom XXXX , eine Bestätigung der Teilnahme der BF an der seit XXXX wöchentlich stattfindenden Eltern-Kind-Gruppe sowie der Teilnahme der BF1 am „Interkulturellen Kochworkshop“ am XXXX der Kinder- und Jugendhilfe XXXX vom XXXX , ein Empfehlungsschreiben über die zuverlässige Arbeitsweise des BF2 vom XXXX , ein Empfehlungsschreiben für die BF1 und den BF2 vom XXXX , ein Empfehlungsschreiben für die BF vom XXXX , ein Empfehlungsschreiben für die BF vom XXXX , eine Bestätigung über die Anmeldung des BF2 für einen Deutschkurs auf dem Niveau B1.2 vom XXXX , eine Bestätigung der XXXX über die Remunerantentätigkeit und die Teilnahme an Integrationsveranstaltungen durch den BF2 vom XXXX , ein Empfehlungsschreiben über die zufriedenstellende Arbeitsweise des BF2 vom XXXX , eine Bestätigung über die zufriedenstellende Arbeit des BF2 an einem unbestimmten Tag vom XXXX , eine Bestätigung über die Teilnahme des BF2 am Workshop „Ich tu’s –Energiesparen für AsylwerberInnen“ vom XXXX , eine Bestätigung über ein Vorstellungsgespräch des BF2 am XXXX , eine Bestätigung vom XXXX , dass der BF2 einen Deutschkurs auf dem „Niveau A1/ A2/ B1“ „besucht hat bzw. besucht“, eine für die BF3 ausgestellte Bestätigung des Besuchs einer Volksschule im Schuljahr XXXX und eine für die BF4 ausgestellte Bestätigung des Besuchs einer Deutschförderklasse im Schuljahr XXXX .

3.2. Mit Schreiben vom XXXX erteilte das BFA den BF einen Verbesserungsauftrag zur Vorlage eines gültigen Reisepasses binnen vier Wochen, ansonsten die Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 58 Abs. 11 AsylG zurückgewiesen werden würden.

3.3. Am XXXX wurde der BF2 durch das BFA niederschriftlich einvernommen, in welcher dieser zunächst angab, am XXXX einen Termin bei der russischen Botschaft zur Beantragung eines Reisepasses zu haben. Der BF2 könne nicht angaben, ob er in der Russland Probleme hat, da er seit XXXX Jahren in Österreich lebe. Er habe in Russland noch seine Eltern und Geschwister sowie Onkeln und Tanten. Er besitze in Dagestan ein Grundstück und ein Haus, in welchem er früher mit seinen Eltern gewohnt habe. Der BF2 habe seit seiner Einreise Österreich nicht mehr verlassen. Er habe eine Deutschprüfung auf dem Niveau A2 bestanden. Er lebe von der Grundversorgung und nehme ab und zu Arbeiten an, um seine Familie erhalten zu können. Er verdiene ungefähr EUR 400,- pro Monat, indem er beispielsweise auf Baustellen arbeite. Er könne aber nicht regelmäßig arbeiten, da er keine Arbeitsbewilligung habe. Der BF2 habe nicht gewusst, dass er sich nicht rechtmäßig in Österreich aufhalte. Er habe keine Freunde in Österreich, aber er habe Kontakte zu anderen Personen. Er habe keine Verwandtschaft in Österreich. Seine Frau (die BF1) habe in Österreich Tanten, Onkeln und Cousinen, die gut situiert seien und ihm eine Arbeit verschaffen könnten. Es bestehe aber kein Abhängigkeitsverhältnis zu dieser Verwandtschaft. Der BF2 wolle in Österreich bleiben, weil er in Russland als Terrorist angesehen werde, da er einen Bart trage. Er werde dort als potentieller Terrorist geführt. Außerdem seien seine Kinder in Österreich geboren bzw. aufgewachsen. Für diese sei Österreich die Heimat und sie hätten keine Vorstellung vom Leben in Russland. Sie würden aber Russisch sprechen und es in der Schule lernen.

Der BF2 legte im Rahmen der Einvernahme (zusätzlich) eine Bestätigung des Kindergartenbesuchs der BF4 im Schuljahr XXXX , zwei für die BF3 ausgestellte Bestätigungen des Besuchs der Volksschule in den Schuljahren XXXX und XXXX eine aktuelle Leistungsbeschreibung der BF3 durch die Klassenlehrerin, ein Empfehlungsschreiben für den BF2 vom XXXX , ein Empfehlungsschreiben für die BF vom XXXX , ein Schreiben des Landes XXXX über die Einstellung von Leistungen aus der Grundversorgung vom XXXX , eine Bestätigung des Kindergartenbesuchs der BF5 im Schuljahr XXXX und zwei automatisierte E-Mails der Russischen Botschaft in Wien über einen Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses für die BF1 und den BF2 vor.

3.4. Mit Schreiben vom XXXX ersuchten die BF um Fristerstreckung von drei Wochen, um dem Verbesserungsauftrag vom XXXX nachzukommen.

3.5. Mit Antwort vom XXXX erstreckte das BFA die Frist bis zum XXXX und ersuchte um Mitteilung, welche konkreten Schritte die BF gesetzt haben bzw. setzen werden, um dem Auftrag zu entsprechen.

3.6. Mit Schreiben vom XXXX teilten die BF mit, dass diese ihren Termin bei der Russischen Botschaft am XXXX nicht wahrnehmen hätten können, da die in Auftrag gegebene Übersetzung der Geburtsurkunden nicht rechtzeitig eingelangt sei. Die BF hätten für den XXXX einen neuen Termin erhalten. Dem Schreiben beigelegt wurden automatisierte E-Mails der Russischen Botschaft in Wien über einen Termin am XXXX sowie eine Bestätigung über bestandene Deutschprüfung des ÖSD auf dem Niveau A2 durch den BF2.

3.7. Mit Schreiben vom XXXX beantragten die BF gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV die Heilung des Mangels der Nichtvorlage geeigneter Reisedokumente, da es ihnen nicht anzulasten sei, dass es ihnen bislang nicht gelungen sei, diese zu beschaffen.

3.8. Mit Schreiben vom XXXX gewährte das BFA der BF1 schriftliches Parteiengehör zum gegenständlichen Antrag und wurde ersucht, binnen Frist eine Reihe von Fragen zu ihrem Privat- und Familienleben in Österreich und zur Situation im Herkunftsstaat zu beantworten.

3.9. Mit Schreiben vom XXXX gab die BF1 bekannt, dass die BF von der Grundversorgung leben, kein Einkommen lukrieren und zur Miete leben würden. Die BF1 habe einen Deutschkurs auf dem Niveau A1.2 besucht. Sie habe seit ihrer Einreise das Bundesgebiet nicht mehr verlassen. Die BF seien gesund und stünden nicht in ärztlicher Behandlung. Die BF1 habe in Österreich eine Cousine, einen Cousin und eine Cousine ihrer Mutter, zu welchen regelmäßiger Kontakt bestehe. Die BF würden in Österreich bleiben wollen, da die Kinder in Österreich geboren bzw. aufgewachsen seien. Sie würden regelmäßig an Integrationsveranstaltungen teilnehmen und es bestehe eine enge Beziehung zur Verwandtschaft der BF1 in Österreich. Im Herkunftsstaat habe die BF1 ihre Mutter und ihre Geschwister, zu denen sie regelmäßig Kontakt habe. Die Familie besitze dort keine Grundstücke. Die BF1 habe in Russland eine Pflegeausbildung gemacht und sei als Verkäuferin tätig gewesen. Die BF1 befürchte, dass ihr Mann (der BF2) in Russland durch die Polizei und unrechtmäßig einer Straftat verdächtigt werden würde.

Dem Schreiben beigelegt wurde eine für die BF1 ausgestellte Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses auf dem Niveau A1.2 vom XXXX , ein Mietvertrag über eine 55m² große Wohnung zu EUR 600,- vom XXXX und eine Kopie eines russischen Diploms.

3.10. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden des BFA vom XXXX wurde der Antrag auf Mängelheilung vom XXXX gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 iVm § 8 AsylG-DV abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurden die Anträge der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Abs. 1 AsylG XXXX gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG zurückgewiesen (Spruchpunkt II.), gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt III.), die Zulässigkeit der Abschiebung der BF in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt IV.), gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist zur freiwilligen Ausreise gewährt (Spruchpunkt V.), einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.) und schließlich gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG gegen die BF ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die BF ihre Mitwirkungspflicht verletzt hätten, indem sie trotz Verbesserungsauftrags und Belehrung keine gültigen Reisedokumente vorlegten und ebenso nicht belegen hätten können, dass ihnen die Erlangung dieser nicht möglich oder zumutbar wäre, weshalb der Antrag auf Mängelheilung abzuweisen und die Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 AsylG wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht zurückzuweisen sei. Der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der BF nicht entgegen. Angesichts der rechtskräftigen Abweisung der Asylanträge der BF und auch in Hinblick auf die Situation in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung der BF in die Russische Föderation. Eine Frist für die freiwillige Ausreise der BF sei nicht festzulegen, da einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung abzuerkennen sei, da die sofortige Ausreise der BF im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich sei. Das Einreiseverbot sei schließlich notwendig, da die BF eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würden, weil sie mittellos seien, zwei unbegründete Anträge auf internationalen Schutz gestellt hätten und ihre Ausreisepflicht missachten würden.

3.11.Am XXXX erhoben die BF binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde gegen diese Bescheide und begründeten diese im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdeführer zwar am XXXX einen Termin bei der russischen Botschaft gehabt hätten, sie sich jedoch aufgrund starken Schneefalls verspätet hätten, sodass nur für die zwei jüngsten Kinder ein Reisedokument beantragt habe werden können. Aufgrund des neuerlichen Lockdowns hätten die BF bislang keinen weiteren Termin bei der Botschaft erhalten. Weiters mangle es den Länderfeststellungen zur Russischen Föderation an Ausführungen zur Situation von Kindern etwa hinsichtlich der Möglichkeit des Schulbesuchs, Kinderarbeit und medizinischer Versorgung. Die Kinder der BF1 und des BF2 seien in Österreich geboren bzw. aufgewachsen und hier bestens integriert. Das Fehlverhalten ihrer Eltern könne ihnen nicht vorgeworfen werden. Die Mittellosigkeit der BF könne nicht zur Erlassung eines Einreiseverbotes herangezogen werden. Die BF1 und der BF2 würden „zumindest grundsätzliche“ Deutschkenntnisse aufweisen, wobei zu berücksichtigen sei, dass die BF1 in den letzten XXXX Jahren vier Kinder auf die Welt gebracht habe. Die BF seien insgesamt in ihrem Wohnort gut integriert. Beantragt wurde die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.

3.12. Die gegenständlichen Verwaltungsakten langten am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der BF

1.1.1. Die Identität der BF steht fest. Sie sind russische Staatsangehörige. Die BF1 ist mit dem BF2 verheiratet. Sie sind volljährig und im erwerbsfähigen Alter. Die BF3, die BF4, die BF5, der BF6 und der BF7 sind ihre gemeinsamen, minderjährigen Kinder.

Die BF gehören der Volksgruppe der XXXX an und sind muslimischen Glaubens. Die BF1, der BF2 und die BF3 lebten bis zu ihrer Ausreise in der russischen Teilrepublik Dagestan. Die BF4, die BF5, der BF6 und der BF7 sind in Österreich geboren.

Die BF1 hat im Herkunftsstaat ihre Mutter und ihre Geschwister, zu denen regelmäßiger Kontakt besteht. Der BF2 hat dort seine Eltern, Geschwister und Verwandtschaft. Er besitzt in Dagestan ein Grundstück und ein Haus. Die BF1 und der BF2 waren vor ihrer Ausreise in Dagestan berufstätig.

Die BF sprechen Russisch bzw. lernen die BF3, die BF4, die BF5, der BF6 und der BF7 auch Sprache.

Die BF sind gesund.

Die BF sind strafgerichtlich unbescholten.

1.1.2. Der BF2 reiste im XXXX illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Die BF1 und die BF3 reisten im XXXX illegal in das Bundesgebiet ein und stellten am XXXX einen ersten Antrag auf internationalen Schutz. Für die BF4, die BF5 und den BF6 wurden jeweils nach ihrer Geburt in Österreich am XXXX , am XXXX und am XXXX ein erster Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Diese Anträge wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , rechtskräftig als unbegründet abgewiesen.

Die BF1, der BF2, die BF3, die BF4, die BF5 und die BF6 kamen ihrer damit verbundenen Ausreisverpflichtung nicht nach, sondern stellten nach der Geburt des BF7 alle BF am XXXX einen (weiteren) Antrag auf internationalen Schutz. Diese Anträge wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , rechtskräftig als unbegründet abgewiesen.

Die BF kamen erneut ihrer damit verbundenen Ausreiseverpflichtung bislang nicht nach und halten sich seit XXXX unrechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Für die BF wurden im XXXX von der russischen Botschaft Heimreisezertifikate ausgestellt.

Die BF stellten am XXXX Erstanträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen gemäß § 56 AsylG, denen keine gültigen Reisedokumente beigelegt wurden. Mit Schreiben vom XXXX erteilte das BFA den BF einen Verbesserungsauftrag, binnen vier Wochen einen gültigen Reisepass bzw. im Falle der Nichterteilung eine Bestätigung der russischen Botschaft vorzulegen. Die BF wurden darüber belehrt, dass bei fruchtlosem Verstreichen der Frist ihre Anträge gemäß § 58 Abs. 11 AsylG zurückgewiesen werden. Im Zuge der Einvernahme beim BFA am XXXX gab der BF2 bekannt, dass die BF am XXXX einen Termin bei der russischen Botschaft hätten und legte dazu eine zwei automatisierte E-Mails der russischen Botschaft, in denen ein Termin für den Erhalt von Reisepässen bestätigt wird. Mit Schreiben vom XXXX beantragten die BF eine Fristerstreckung bis zum XXXX , welcher das BFA stattgab. Mit Schreiben vom XXXX gaben die BF bekannt, dass sie den Termin am XXXX nicht wahrnehmen hätten können, da die in Auftrag gegebene Übersetzung der Geburtsurkunden nicht rechtzeitig eingelangt sei. Eine Bestätigung darüber wurde nicht vorgelegt. Die BF gaben weiters bekannt, am XXXX einen neuen Termin bei der russischen Botschaft zu haben und legten abermals automatisierte E-Mails der russischen Botschaft vor, in denen der Termin bestätigt wird. Die E-Mails sind auf den XXXX datiert. Mit Schreiben vom XXXX stellten die BF einen Antrag auf Heilung des Mangels der Nichtvorlage von Reisepässen gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV, da laut Auskunft der russischen Botschaft ein früherer Termin als der XXXX aufgrund der COVID-19-Pandemie nicht möglich sei. Eine Bestätigung darüber wurde nicht beigelegt. Mit Bescheiden des BFA vom XXXX wurde der Antrag auf Mängelheilung vom XXXX gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 iVm § 8 AsylG-DV abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurden die Anträge der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 56 Abs. 1 AsylG vom XXXX gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG zurückgewiesen (Spruchpunkt II.), gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt III.), die Zulässigkeit der Abschiebung der BF in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt IV.), gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist zur freiwilligen Ausreise gewährt (Spruchpunkt V.), einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.) und schließlich gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG gegen die BF ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.). Mit dem Beschwerdeschriftsatz vom XXXX machten die BF geltend, dass die BF den Termin bei der russischen Botschaft am XXXX aufgrund starken Schneefalls nicht rechtzeitig wahrnehmen hätten können, weshalb nur für den BF6 und den BF7 ein Reisepass beantragt habe werden können. Die BF hätten aufgrund des Lockdowns bislang keine neuerlichen Termine der Botschaft erhalten. Eine Bestätigung darüber wurde nicht beigelegt. Die BF legten bis dato keine Reisepässe vor.

1.1.3. Seit den Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX ist keine maßgebliche Änderung des Privat- und Familienlebens der BF eingetreten.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation

1. Sicherheitslage im Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

2. Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.6.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

3. Rechtsschutz / Justizwesen in Tschetschenien und Dagestan

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2019).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019; vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).

In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 10.3.2020

-        CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 6.3.2020

-        DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

4. Korruption

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).

Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet, und ein zunehmender Mangel an Rechenschaftspflicht ermöglicht es Bürokraten, ungestraft Straftaten zu begehen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert (FH 4.3.2020). Obwohl das Gesetz Strafen für behördliche Korruption vorsieht, bestätigt die Regierung, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017). Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2018). Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (USDOS 11.3.2020).

Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. BTI 2018). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung ( GIZ 7.2020a).

Korruption ist auch in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet, und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die Zeitung „Kommersant“ den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes. Der Fond soll Ende 2017 über 2,2 Mrd. Rubel (über 30 Mio. €) verfügt haben. Allein vom 30.11. bis 5.12.2019 berichteten tschetschenische Beamte über mindestens 12 Initiativen, die aus den Mitteln des Fonds finanziert wurden (ÖB Moskau 12.2019). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).

Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands, bis zu 70% des Budgets stammen aus Subventionen aus Moskau. Auch in Dagestan ist die Gesellschaft in Clans aufgebaut. Nirgendwo sonst in Russland ist der Clan so stark wie in Dagestan, weshalb systemische Korruption in dieser Republik nicht überrascht (WI 25.2.2018). Das staatliche Justizwesen ist in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt (AA 13.2.2019). Zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation wurden Anfang 2018 der Premierminister Dagestans, seine Stellvertreter und der ehemalige Bildungsminister wegen schwerer Korruptionsvorwürfe festgenommen und sofort nach Moskau geflogen. Alle vier stehen im Verdacht, Haushaltsmittel aus Sozialprogrammen in großem Umfang veruntreut zu haben (WI 25.2.2018).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 11.3.2020

-        BTI – Bertelsmann Transformation Index (2018): BTI 2018 Country Report – Russia, https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Russia.pdf, Zugriff 11.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 11.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 11.3.2020

-        SEM – Staatssekretariat für Migration (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/europa-gus/rus/RUS-korruption-d.pdf, Zugriff 11.3.2020

-        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

-        WI – Warsaw Institute (25.2.2019): Federal clean-up in Dagestan, https://warsawinstitute.org/federal-clean-dagestan/, Zugriff 11.3.2020

5. Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2020a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden:

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

- Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

- Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

- Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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