TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/8 W252 2200576-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.07.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

08.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W252 2200576-1/51E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Elisabeth SCHMUT LL.M. als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.06.2018, Zahl: XXXX , betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer (in der Folge: „BF“), ein somalischer Staatsbürger, stellte am 05.06.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2.       Am selben Tag fand sein Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt, dabei gab er an sein Heimatland aufgrund des herrschenden Bürgerkriegs und der mangelnden Sicherheit verlassen zu haben. Die Terrorgruppe Al-Shabaab habe ihn und seinen Vater aufgefordert sich ihnen anzuschließen, da sie sich weigerten seien sie mit dem Tod bedroht worden. Sie hätten daraufhin seinen Vater ermordet.

3.       Am 16.11.2017 würde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge: Bundesamt) niederschriftlich einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, Männer von der Al-Shabaab seien zu seinem Vater ins Geschäft gekommen und hätten Geld gefordert, da sich dieser weigerte, wären die Männer am gleichen Abend zum Haus des BF und seiner Familie gekommen, hätten den Vater mitgenommen und ihn in der Nähe des Hauses erschossen. Noch vor diesem Vorfall sei auch er selbst von den Al-Shabaab angesprochen worden und aufgefordert sich ihnen anzuschließen, ansonsten werde man seine Familie auslöschen.

4.       Der BF wurde am 28.03.2018 ergänzend einvernommen, hierbei gab der BF an, dass er sich nunmehr sicher sei im Jänner 2016 ermordet wurde.

5.       Das Bundesamt wies mit Bescheid vom 06.06.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Es erlies eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 ab Rechtskraft der Entscheidung Tagen festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

6.       Dagegen richtet sich die gegenständliche Beschwerde.

7.       Die Beschwerde wurde mitsamt dem bezugshabenden Verwaltungsakt dem BVwG am 11.07.2018 vorgelegt.

8.       Das BVwG führte in der gegenständlichen Rechtssache am 10.05.2021 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Somali eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt wurde. Die Verhandlung fand im Beisein des Beschwerdeführervertreters statt, ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des BF:

Der BF führt den im Spruch genannten Namen und ist an dem im Spruch genannten Datum geboren. Er ist somalischer Staatsbürger, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und ist Angehöriger des Clans Gabooye, Sub-Clan XXXX , Sub-Sub-Clan XXXX Sub-Sub-Sub-Clan XXXX . Er ist ledig und hat keine Kinder (OZ 50, S 6).

Die Muttersprache des BF ist Somali (AS 113), er verfügt über sehr geringe Deutschkenntnisse (OZ 50, S 8).

Der BF wurde in Mogadischu geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Er besuchte acht Jahre lang die Schule (AS 115; OZ 50, S 6).

Seine Kernfamilie, bestehend aus seiner Mutter, seinem Bruder und seinen Schwestern ist in einem Nachbarstaat Somalias aufhältig (AS 115, 130; OZ 50, S 10). Ob sich die Familie in Kenia oder in Äthiopien aufhält konnte nicht festgestellt werden.

Die Tante des BF lebt mit deren Mann in Mogadischu (AS 115, 130; OZ 50, S 7). In Mogadischu verfügt der BF über Clanzugehörige bzw Freunde (AS 131).

Der BF ist gesund (AS 114, 129) und arbeitsfähig. Er gehört keiner Covid-19 Risikogruppe an und weist diesbezüglich auch keine Disposition auf.

1.2.    Zum Leben des BF in Österreich:

Der BF hält sich seit seiner Antragstellung am 05.06.2016 aufgrund der vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und geht keiner Beschäftigung nach. Er hat weder familiäre noch sonstige nennenswerte soziale Anknüpfungspunkte in Österreich (OZ 50, S 8 f).

Der BF wurde mit Urteil des Landesgericht Wels vom 04.12.2020 (AZ: 25 HV 47/20h) wegen § 107 Abs 1, § 83 Abs 1 und §§ 127, 15, 12 dritter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 2 Monaten verurteilt (OZ 42).

1.3.    Zu den Fluchtgründen:

Dem BF droht in Somalia keine Zwangsrekrutierung durch die Al-Shabaab und/oder eine konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt oder Verfolgung durch die Al-Shabaab.

Dem BF droht in Somalia aufgrund seiner Clanzugehörigkeit keine konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt oder Verfolgung.

Der BF hat Somalia weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.

1.4.    Zur maßgeblichen Situation in Somalia:

1.4.1.  Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia (generiert am 21.05.2021)

1.4.1.1.  Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten

Letzte Änderung: 29.03.2021

Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2021). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIFOS 9.4.2019, S.6).

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 29.03.2021

Die Sicherheitslage bleibt instabil (BS 2020, S.38) bzw. volatil, mit durchschnittlich 285 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat. Die meisten Vorfälle waren Angriffe der al Shabaab, darunter auch Sprengstoffanschläge (UNSC 17.2.2021, Abs.13). Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖB 3.2020, S.2), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen berichtet (AA 2.4.2020, S.4/7).

AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Während die somalische Regierung und ihre Alliierten zwar im Großen und Ganzen territoriale Gewinne verzeichnen und die Kontrolle über die meisten Städte halten können, ist es ihnen nicht gelungen, die Kontrolle in ländliche Gebiete auszudehnen (BS 2020, S.6). Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren (AA 3.12.2020). Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf AMISOM, aber auch auf Unterstützung durch die USA – angewiesen. Dies wird sich in den nächsten Jahren nicht ändern (IP 1.11.2019; vgl. BS 2020, S.11). Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (USDOS 11.3.2020, S.1; vgl. ÖB 3.2020, S.2).

Trend: Im Zeitraum von Anfang 2018 bis zum Ende 2020 gab es hunderte terroristische Vorfälle. In den Jahren 2018 und 2019 war die Zahl an Vorfällen zunächst rückläufig – v.a. wegen der intensivierten Operationen gegen al Shabaab. Die Gruppe konnte dabei aus einigen strategisch wichtigen Punkten vertrieben werden – etwa von den fünf Shabelle-Brücken zwischen Sabid Anoole und Janaale (Sahan 11.2.2021a). Dadurch und durch verstärkte Sicherheitsmaßnahmen in Mogadischu konnte al Shabaab auch nur mehr selten Sprengstoffanschläge mit Fahrzeugen durchführen. Die Zahl an zivilen Opfern durch Sprengstoffanschläge ging demnach 2020 gegenüber 2019 um 50% zurück (UNSC 17.2.2021, Abs.13). Im Jahr 2020 haben sich aber zuletzt die Angriffe auf somalische Kräfte und AMISOM wieder gemehrt (Sahan 11.2.2021a; vgl. JF 28.7.2020). Dies kann direkt mit den politischen Streitigkeiten zwischen Bund und Bundesstaaten in Zusammenhang gebracht werden, da dadurch für den Kampf gegen al Shabaab notwendige Ressourcen umgeleitet wurden (Sahan 11.2.2021a). Aufgrund des politischen Streits rund um das Ende der Präsidentschaft Farmajos ist die Sicherheitslage in einer Abwärtsspirale. Sicherheitskräfte haben teilweise seit Monaten keinen Sold erhalten und halten sich in Mogadischu und anderen Landesteilen an der Bevölkerung schadlos (SG 8.2.2021). Auch der politische Streit selbst hat das Potenzial, zu einem bewaffneten Konflikt zu eskalieren. Viele Sicherheitskräfte sind v. a. ihrem Kommandanten oder ihrem Clan gegenüber loyal. So kann nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition Bewaffnete ins Feld stellen (Reuters 19.2.2021).

Laut Einschätzung eines Experten kann ein weiteres Zurückdrängen von al Shabaab durch AMISOM auf der aktuellen Grundlage nicht erwartet werden (BMLV 25.2.2021). In Lower Juba und Lower Shabelle kommt es nur noch sporadisch zu Störoperationen gegen al Shabaab (UNSC 13.11.2020, Abs.60). In der Vergangenheit hat die Bundesarmee wiederholt dabei versagt, von AMISOM geräumte Gebiete auch tatsächlich abzusichern (UNSC 1.11.2019, S.24). Trotzdem berät AMISOM die Übergabe weiterer Forward Operating Bases (FOBs) an die somalische Armee bzw. die Aufgabe einzelner FOBs (UNSC 13.11.2020, Abs.61).

Ein Vordringen größerer Kampfverbände der al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und AMISOM – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden (BMLV 25.2.2021).

Al Shabaab führt nach wie vor eine effektive Rebellion (USDOS 10.6.2020, S.5). Al Shabaab bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden und Sicherheit. Die Gruppe führt ihren Kampf mit zunehmender Intensität und Häufigkeit. Die Angriffe auf sogenannten high-profile-Ziele in Mogadischu und anderswo wurden verstärkt (HIPS 2021, S.20). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen, Behördenmitarbeiter, Sicherheitskräfte, internationale Partner und öffentliche Plätze – z.B. Restaurants und Hotels (FIS 7.8.2020, S.25; vgl. AA 3.12.2020). Al Shabaab führt weiterhin regelmäßige Angriffe auf Regierungsstellungen durch. Vor allem der Korridor Mogadischu–Merka ist für Angriffe anfällig (PGN 10.2020, S.2). Die Kriegsführung der al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn (JF 28.7.2020). Al Shabaab bleibt zudem weiterhin in der Lage, z.B. in Mogadischu koordinierte Angriffe durchzuführen. Die Zahl an Mörserangriffen ist zurückgegangen. Derartige Angriffe richten sich in erster Linie gegen AMISOM und regionale Sicherheitskräfte in Lower Juba, Lower Shabelle und Middle Shabelle (UNSC 13.11.2020, Abs.12), aber auch in Hiiraan und Benadir (UNSC 13.8.2020, Abs.19). Hingegen hat die Zahl an Selbstmordattentaten zugenommen. Es kommt auch weiterhin zu sogenannten komplexen Angriffen, etwa am 16.8.2020 auf das Elite Hotel in Mogadischu mit zwanzig Todesopfern oder am 17.8.2020 auf einen Stützpunkt der somalischen Armee in Goof Gaduud Burey (Bay) (UNSC 13.11.2020, Abs.14).

Kampfhandlungen: Al Shabaab greift die Bundesarmee und AMISOM weiterhin an, bei durchschnittlich 140 Angriffen pro Monat. Dabei handelt es sich meist um sogenannte hit-and-run-Angriffe. Im Zeitraum November 2020 bis Feber 2021 waren davon die Regionen Lower und Middle Shabelle, Benadir, Bay, Hiiraan, Bakool, Lower Juba, Gedo, Galgaduud und Mudug betroffen (UNSC 17.2.2021, Abs.15). Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten (HRW 14.1.2020). In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. AMISOM (African Union Mission in Somalia) und al Shabaab (AA 2.4.2020, S.18; vgl. AA 3.12.2020). Dies betrifft insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle (AA 2.4.2020, S.18). Der durch AMISOM und die somalische Armee in der Region Lower Shabelle auf al Shabaab ausgeübte militärische Druck hat dazu beigetragen, dass die Gruppe ihre Aktivitäten in HirShabelle und Galmudug verstärkt hat (UNSC 13.11.2020, Abs.15). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (LIFOS 3.7.2019, S.22). Die Bezirke Merka, Qoryooley und Afgooye sind nach wie vor stark von Gewalt betroffen, das Gebiet zwischen diesen Städten liegt im Fokus von al Shabaab (BMLV 25.2.2021).

Immer wieder überrennt al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Daynuunay oder Goof Gaduud im Bereich Baidoa - um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (PGN 10.2020, S.9f). Andernorts greift al Shabaab Stützpunkte erfolglos an – etwa die FOB äthiopischer AMISOM-Truppen in Halgan im Feber 2021 (Halbeeg 22.2.2021).

Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖB 3.2020, S.2). Seit der weitgehenden Einstellung offensiver Operationen durch AMISOM seit Juli 2015 hat sich die Aufteilung der Gebiete nicht wesentlich geändert. Während AMISOM und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen (UNSC 1.11.2019, S.10; vgl. ÖB 3.2020, S.2). Dabei kontrollierte al Shabaab im Jahr 2019 so viel Land, wie schon seit dem Jahr 2010 nicht mehr. Man rechnet mit 20% des gesamten Staatsterritoriums (USDOS 10.6.2020, S.5). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias sind teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 2.4.2020, S.5).

Die Regierung und ihre Verbündeten kontrollieren zwar viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und AMISOM sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben (BMLV 25.2.2021). Gegen einige dieser Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (HRW 14.1.2020). Al Shabaab ist in der Lage, Hauptversorgungsrouten abzuschneiden und Städte dadurch zu isolieren (UNSC 1.11.2019, S.10; vgl. BMLV 25.2.2021).

Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab (BMLV 25.2.2021). Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind

–        das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; sowie Qunya Baarow in Lower Juba;

–        Teile von Lower Shabelle um Sablaale;

–        der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor;

–        weites Gebiet rechts und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;

–        sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit den Städten Ceel Dheere und Ceel Buur; und angrenzende Gebiete von Mudug und Middle Shabelle, namentlich die Städte Xaradheere (Mudug) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (PGN 2.2021).

Dahingegen können nur wenige Gebiete in Süd-/Zentralsomalia als frei von al Shabaab bezeichnet werden – etwa Dhusamareb oder Guri Ceel. In Puntland gilt dies für größere Gebiete, darunter Garoowe (BMLV 25.2.2021).

Andere Akteure: Auch der Konflikt um Ressourcen (Land, Wasser etc.) führt regelmäßig zu Gewalt (BS 2020, S.31). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 3.12.2020). Auch somalische und regionale Sicherheitskräfte töteten Zivilisten und begingen sexuelle Gewalttaten – v.a. in und um die Region Lower Shabelle (USDOS 11.3.2020, S.30). Zusätzlich wird die Sicherheitslage durch die große Anzahl lokaler und sogar föderaler Milizen verkompliziert (BS 2020, S.7). Es gibt immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie Ahlu Sunna Wal Jama’a (AA 2.4.2020, S.17f).

Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 2.4.2020, S.17f). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten. Im Jahr 2019 kam es bei Zusammenstößen zwischen Clanmilizen sowie zwischen diesen und al Shabaab in Puntland, Galmudug, Lower und Middle Shabelle, Lower Juba, Hiiraan und Bay zu Todesopfern. Zusätzlich kommt es zu Kämpfen zwischen Clans und Subclans, v.a. im Streit um Wasser und Land. Im Jahr 2019 waren davon v.a. die Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle sowie Sool betroffen (USDOS 11.3.2020, S.3/11; vgl. ÖB 3.2020, S.10). Derartige Kämpfe sind üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer – generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter – Gewalt verbunden sein (LI 28.6.2019, S.8).

Der sogenannte Islamische Staat bleibt in Somalia in Puntland konzentriert, in Mogadischu gibt es nur eine minimale Präsenz. Größere Aktivitäten des IS gab es in Puntland in den Jahren 2016 und 2017. In Mogadischu richtet sich der IS mit gezielten Tötungen v.a. gegen Sicherheitskräfte (JF 14.1.2020). Für den Zeitraum Mai-August 2020 werden dem IS allerdings nur zwei Attacken – beide in Mogadischu – zugeschrieben (UNSC 13.8.2020, Abs.24). Im Zeitraum August-Oktober 2020 (UNSC 13.11.2020, Abs.16) sowie November 2020-Feber 2021 gab es keine Aktivitäten (UNSC 17.2.2021, Abs.17).

Zivile Opfer: Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Allerdings greift al Shabaab Zivilisten nicht spezifisch an. Doch auch wenn die Gruppe eigentlich andere Ziele angreift, enden oft Zivilisten als Opfer, da sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort befunden haben (NLMBZ 3.2020, S.17/37).

Insgesamt werden die Zahlen ziviler Opfer (Tote und Verletzte) wie folgt angegeben:

Verletzte und Tote

5.11.2020-9.2.2021

5.8.-4.11.202

5.5.-3.8.2020

5.2.-4.5.2020

5.11.2019-4.2.2020

5.8.-4.11.2019

5.5.-4.8.2019

Tage

97

92

91

89

92

92

92

Opfer gesamt

363

257

319

277

392

124

322

Davon durch al Shabaab

144

163

132

75

325

62

245

Opfer/Tag

3,7

2,8

3,5

3,1

4,3

1,3

3,5

Quelle

UNSC 17.2.2021 Abs 44

UNSC 13.11.2020 Abs 39

UNSC 13.8.2020 Abs 49

UNSC 13.5.2020 Abs 44

UNSC 13.2.2020 Abs 49

UNSC 15.11.2019 Abs 41

UNSC 15.8.2019 Abs 46

Jahres-Hochrechnung

1366

1022

1278

1132

1555

475

1278

In Relation zur Gesamtbevölkerung

1:1127

1:15068

1:12050

1:13604

1:9903

1:32421

1:12050

Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 15,4 Millionen Einwohnern (WHO 12.1.2021) lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:12035.

Luftangriffe: Im Jahr 2017 führten die USA 35 Luftschläge in Somalia durch, 2018 waren es 47 und 2019 63. Im Jahr 2020 ist die Zahl auf 51 gesunken. Die Luftangriffe auf al Shabaab und den IS, bei denen seit 2017 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden sind (HIPS 2021, S.21) konzentrierten sich vor allem auf die Regionen Lower Shabelle, Lower Juba, Middle Juba, Gedo und Bari (UNSC 13.8.2020, Abs.24). Die Luftangriffe werden in der Regel mit bewaffneten Drohnen geflogen (PGN 10.2020, S.8). Neben den offiziell bekannt gegebenen Luftschlägen kommen noch verdeckte hinzu. Zusätzlich führt auch die kenianische Luftwaffe Angriffe durch, vorwiegend in Gedo und Lower Juba (PGN 10.2020, S.15ff). Insgesamt gab es demnach 2020 72 Luftangriffe, bei welchen die USA als Angreifer bestätigt sind oder vermutet werden (PGN 2.2021, S.11).

Banadir Regional Administration (BRA; Mogadischu)

Letzte Änderung: 29.03.2021

Noch vor zehn Jahren kontrollierte al Shabaab die Hälfte der Stadt, die gleichzeitig Schauplatz heftiger Grabenkämpfe war (BBC 18.1.2021). Heute hingegen ist Mogadischu unter Kontrolle von Regierung und AMISOM (PGN 2.2021, S.1f). Generell hat sich die Lage für die Zivilbevölkerung in den vergangenen Jahren aber verbessert (FIS 7.8.2020, S.4). Die Regierung unternimmt einiges, um die Sicherheit in der Stadt zu verbessern. So wurden etwa 20 zusätzliche Checkpoints errichtet und im Zeitraum November 2019 bis Jänner 2020 190 gezielte Sicherheitsoperationen durchgeführt (UNSC 13.2.2020, Abs.18). Die Kapazitäten der Sicherheitsbehörden in Mogadischu haben sich verbessert, sie können nunmehr Gebiete kontrollieren, in welchen al Shabaab zuvor ungehindert agieren konnte (FIS 7.8.2020, S.20). Im Jahr 2019 hat die Einrichtung neuer Checkpoints, die Besetzung dieser Kontrollpunkte mit frischen Truppen, die regelmäßigere Auszahlung des Soldes und die Rotation der Mannschaften zur Moral und Effizienz der Sicherheitskräfte und damit zur Verbesserung der Sicherheitslage in Mogadischu beigetragen. Al Shabaab kann weniger Material und Operateure nach Mogadischu schleusen (FIS 7.8.2020, S.9f). Die Checkpoints haben also die Sicherheit verbessert (BMLV 25.2.2021). Auch die Militäroperation Badbaado in Lower Shabelle hat die Fähigkeiten von al Shabaab, Sprengsätze herzustellen und nach Mogadischu zu transportieren, wesentlich vermindert (HIPS 2021, S.20).

Allerdings werden solche Maßnahmen nicht permanent aufrecht erhalten; werden sie aber vernachlässigt, steigt auch wieder die Zahl an Anschlägen durch al Shabaab (FIS 7.8.2020, S.9f). Die Checkpoints wurden teilweise wieder abgebaut (BMLV 25.2.2021). Zudem haben Teile der Sicherheitskräfte seit Monaten keinen Sold erhalten, im Feber 2021 hielten sich Soldaten in Mogadischu an den Bewohnern schadlos (SG 8.2.2021). In Mogadischu kommt es immer wieder auch zu Auseinandersetzungen der somalischen Sicherheitskräfte untereinander, bei denen nicht selten auch Unbeteiligte zu Schaden kommen (AA 3.12.2020). Insgesamt ist die Sicherheitslage in Mogadischu ständigen Änderungen unterworfen (FIS 7.8.2020, S.4).

Einerseits reicht die in Mogadischu gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte weiterhin nicht aus, um eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen (BMLV 25.2.2021). Andererseits bietet die Stadt für al Shabaab alleine aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele (NLMBZ 3.2019, S.23). Innerhalb der Stadt hat sich die Sicherheit zwar verbessert, al Shabaab kann aber nach wie vor Anschläge durchführen – wenngleich die Durchführung schwierigerer geworden ist (BMLV 25.2.2021). Täglich kommt es zu Zwischenfällen in Zusammenhang mit al Shabaab (FIS 7.8.2020, S.5).

Es gilt als höchst unwahrscheinlich, dass al Shabaab die Kontrolle über Mogadischu zurückerlangt. In Mogadischu besteht kein Risiko, von al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mogadischu, um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen (BMLV 25.2.2021).

Bei einem Abzug von AMISOM aus Mogadischu droht hingegen die Rückkehr von al Shabaab (ICG 27.6.2019, S.5; vgl. BBC 18.1.2021, BMLV 25.2.2021).

Geographische Situation: Al Shabaab ist im gesamten Stadtgebiet präsent, das Ausmaß ist aber sehr unterschiedlich (LIFOS 3.7.2019, S.25f; vgl. BMLV 25.2.2021). Dabei handelt es sich um eine verdeckte Präsenz und nicht um eine offen militärische. Relevante Verwaltungsstrukturen gelten als von al Shabaab unterwandert (BMLV 25.2.2021). Die Gruppe kann weiterhin ins Stadtgebiet infiltrieren und auch größere Anschläge durchführen (UNSC 17.2.2021, Abs.14). In Mogadischu betreibt al Shabaab nahezu eine Schattenregierung: Betriebe werden eingeschüchtert und "besteuert" und eigene Gerichte sprechen Recht (BBC 18.1.2021). Jedenfalls verfügt al Shabaab über großen Einfluss in Mogadischu (FIS 7.8.2020, S.7) und ist in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben (FIS 7.8.2020, S.13; vgl. BBC 23.11.2020). In den Außenbezirken hat al Shabaab größeren Einfluss, auch die Unterstützung durch die Bevölkerung ist dort größer (FIS 7.8.2020, S.6f/12; vgl. BMLV 25.2.2021).

Anschläge und Attentate: Die Zahl größerer Anschläge und Operationen in der Hauptstadt hat abgenommen (FIS 7.8.2020, S.10f). Trotzdem ermordet al Shabaab immer noch regelmäßig Menschen in Mogadischu (BBC 23.11.2020). Üblicherweise zielt al Shabaab mit größeren (mitunter komplexen) Angriffen auf Vertreter des Staates ["officials"], Gebäude und Fahrzeuge der Regierung, Hotels, Geschäfte, Militärfahrzeuge und -Gebäude sowie Soldaten von Armee und AMISOM (LIFOS 3.7.2019, S.23f). Nach anderen Angaben sind v.a. jene Örtlichkeiten betroffen, die von der ökonomischen und politischen Elite als Treffpunkte verwendet werden – z.B. Restaurants und Hotels (BS 2020, S.14).

Nicht alle Teile von Mogadischu sind bezüglich Übergriffen von al Shabaab gleich unsicher. Ein ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierter Ort ist kein Ziel der al Shabaab (BMLV 25.2.2021). Die Hauptziele von al Shabaab befinden sich in den inneren Bezirken: militärische Ziele, Regierungseinrichtungen und das Flughafenareal (FIS 7.8.2020, S.8). Die meisten Anschläge richten sich gegen Villa Somalia, Mukarama Road, Bakara-Markt, die Flughafenstraße und Regierungseinrichtungen (LIFOS 3.7.2019, S.25f; vgl. FIS 7.8.2020, S.25). Die Außenbezirke hingegen werden von manchen als die sichersten Teile der Stadt erachtet, da es dort so gut wie nie zu größeren Anschlägen kommt. Allerdings kommt es dort öfter zu gezielten Tötungen (FIS 7.8.2020, S.6f/12).

Zivilisten: Generell unterstützt die Zivilbevölkerung von Mogadischu nicht die Ideologie von al Shabaab. Am Stadtrand ist die Unterstützung größer, die meisten Bewohner haben al Shabaab gegenüber aber eine negative Einstellung. Sie befolgen die Anweisungen der Gruppe nur deshalb, weil sie Repressalien fürchten. Al Shabaab agiert wie eine Mafia: Sie droht jenen mit ernsten Konsequenzen, welche sich Wünschen der Gruppe entgegensetzen (FIS 7.8.2020, S.14f). Al Shabaab greift Zivilisten nicht spezifisch an (LIFOS 3.7.2019, S.25). Diese leiden auf zwei Arten an der Gewalt durch al Shabaab: Einerseits sind jene einem erhöhten Risiko ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von al Shabaab als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden (LIFOS 3.7.2019, S.42). Andererseits besteht für Zivilisten das Risiko, bei Anschlägen zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und so zum Kollateralschaden von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden (LIFOS 3.7.2019, S.25/42; vgl. FIS 7.8.2020, S.24ff).

Bewegungsfreiheit: Auch wenn Mogadischu von Sicherheitskräften und AMISOM geschützt wird, kann al Shabaab indirekt Kontrolle ausüben. Dadurch wird die Mobilität der Stadtbewohner im Alltag eingeschränkt (LIFOS 3.7.2019, S.21). Die Menschen wissen um diese Gefahr bestimmter Örtlichkeiten und versuchen daher, diese zu meiden. Sie bewegen sich in der Stadt, vermeiden aber unnötige Wege. Für viele Bewohner der Stadt ist die Instabilität Teil ihres Lebens geworden. Sie versuchen, Gefahren auszuweichen, indem sie Nachrichten mitverfolgen und sich gegenseitig warnen (FIS 7.8.2020, S.25f). Zudem gibt es in Mogadischu mehrere hundert Straßensperren und Kontrollpunkte von Armee, Polizei und NISA. Einige davon sind permanent eingerichtet, andere werden mobil eingerichtet. Ob Gebühren oder illegale Abgaben verlangt werden, ist unklar (FIS 7.8.2020, S.22f). Diese Checkpoints schränken die Bewegungsfreiheit mehr ein, als es die Bedrohung durch al Shabaab tut (BMLV 25.2.2021). Jedenfalls gehen die Sicherheitskräfte an derartigen Sperren mittlerweile verantwortungsvoller vor, die Situation hat sich verbessert. Es liegen keine Informationen vor, wonach es dort zu schweren Vergehen oder Übergriffen kommen würde (FIS 7.8.2020, S.22f).

Die Gewaltkriminalität in der Stadt ist hoch. Monatlich sterben mehrere Menschen bei Raubüberfällen oder aus anderen Gründen verübten Morden (FIS 7.8.2020, S.19). Bei manchen Vorfällen ist unklar, von wem oder welcher Gruppe die Gewalt ausgegangen ist; Täter und Motiv bleiben unbekannt. Es kommt zu Rachemorden zwischen Clans, zu Gewalt aufgrund wirtschaftlicher Interessen oder aus politischer Motivation. Lokale Wirtschaftstreibende haben in der Vergangenheit auch schon al Shabaab engagiert, um Auftragsmorde durchzuführen (FIS 7.8.2020, S.5). Gleichzeitig haben die Bewohner eine hohe Hemmschwelle, um sich an die Polizei zu wenden. Das Vertrauen ist gering (FIS 7.8.2020, S.15/20; vgl. BMLV 25.2.2021). Die Fähigkeit der Behörden, bei kleineren Delikten wie etwa Diebstahl zu intervenieren, ist derart gering, dass Menschen keinen Nutzen darin sehen, Anzeige zu erstatten. Hat eine Person Angst vor al Shabaab, dann kann ein Hilfesuchen bei der Polizei – aufgrund der Unterwanderung selbiger – die Gefahr noch verstärken. Die Polizei ist auch nicht in der Lage, Menschen bei gegebenen Schutzgeldforderungen seitens al Shabaab zu unterstützen (FIS 7.8.2020, S.15/20).

Die Kapazitäten des sogenannten Islamischen Staates sind in Mogadischu sehr beschränkt (FIS 7.8.2020, S.18).

Vorfälle: 2020 waren die Bezirke Dayniile (28 Vorfälle), Dharkenley (35), Hodan (39) und Yaqshiid (22), in geringerem Ausmaß die Bezirke Hawl Wadaag (17), Heliwaa (14), Karaan (18) und Wadajir/Medina (19) von Gewalt betroffen. Zivilisten waren 2020 v.a. in den Bezirken Dharkenley, Hawl Wadaag, Hodan, in geringerem Ausmaß in Dayniile (15 Vorfälle), Dharkenley (16), Hodan (18) und Yaqshiid (12) von gegen sie gerichteter Gewalt betroffen (ACLED - siehe Tabelle weiter unten).

In Benadir/Mogadischu lebten einer Schätzung im Jahr 2014 zufolge ca. 1,65 Millionen Menschen (UNFPA 10.2014, S.31f). Im Vergleich dazu meldete die ACLED-Datenbank im Jahr 2019 insgesamt 134 Zwischenfälle, bei welchen gezielt Zivilisten getötet wurden (Kategorie "violence against civilians"). Bei 120 dieser 134 Vorfälle wurde jeweils ein Zivilist oder eine Zivilistin getötet. Im Jahr 2020 waren es 96 derartige Vorfälle (davon 86 mit je einem Toten).

1.4.1.2.  Rechtsschutz, Justizwesen

Letzte Änderung: 30.03.2021

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 30.03.2021

Im somalischen Kulturraum existieren drei Rechtsquellen: traditionelles Recht (Xeer), islamisches Schariarecht (v. a. für familiäre Angelegenheiten) sowie formelles Recht (SEM 31.5.2017, S.31; vgl. BS 2020, S.16; USDOS 11.3.2020, S.8). Nach dem Kollaps des Staates im Jahr 1991 kollabierte in weiten Teilen des Landes auch das formelle Recht. Gleichzeitig stieg die Bedeutung von Scharia und Xeer. Die Scharia hat es als Grundlage allen Rechts in die Übergangsverfassung und in die Verfassung von Puntland geschafft (BS 2020, S.9).

In Süd-/Zentralsomalia sowie in Puntland sind die Grundsätze der Gewaltenteilung in der Verfassung niedergeschrieben. Allerdings ist die Verfassungsrealität eine andere (AA 2.4.2020, S.8; vgl. USDOS 11.3.2020, S.8). Al Shabaab untergräbt die Rechtsstaatlichkeit durch die Einhebung von Steuern und Durchsetzung von Urteilen eigener Gerichte. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen (HI 10.2020, S.9f). Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (ÖB 3.2020, S.10). Andererseits ist auch bekannt, dass staatliche Sicherheitskräfte manchmal bei Clankonflikten Partei ergreifen (BS 2020, S.34).

Formelle Justiz - Kapazität: In den vergangenen zehn Jahren haben unterschiedliche Regierungen in Mogadischu und anderen Städten Gerichte auf Bezirksebene errichtet. U.a. gibt es zwei Bezirksgerichte in HirShabelle, sechs im SWS, acht in Jubaland und eines in Galmudug. Sie sind für Straf- und Zivilrechtsfälle zuständig. In Mogadischu gibt es außerdem ein Berufungsgericht und ein Oberstes Gericht (Supreme Court) (BS 2020, S.16). Generell sind Gerichte aber nur in größeren Städten verfügbar (BS 2020, S.9). Vielen Richtern und Staatsanwälten mangelt es an Qualifikation (BS 2020, S.17; vgl. LIFOS 1.7.2019, S.4). Oft werden diese nicht aufgrund ihrer Qualifikation ernannt (SIDRA 11.2019, S.5), und ernannte Richter erhielten keine Ausbildung (BS 2020, S.17). Aufbau, Funktionsweise und Effizienz des Justizsystems entsprechen nicht den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Landes. Es gibt zwar einen Instanzenzug, aber in der Praxis werden Zeugen eingeschüchtert und Beweismaterial nicht ausreichend herbeigebracht und gewürdigt (AA 2.4.2020, S.4/13). Das Justizsystem ist zersplittert und unterbesetzt (FH 4.3.2020a, F1), in vielen Landesteilen gar nicht vorhanden. Einige Regionen haben lokale Gerichte geschaffen, die vom dort dominanten Clan abhängen (USDOS 11.3.2020, S.8).

Formelle Justiz - Qualität und Unabhängigkeit: In der Verfassung ist die Unabhängigkeit der Justiz vorgesehen (BS 2020, S.9). In den tatsächlich von der Regierung kontrollierten Gebieten sind die Richter einer vielfältigen politischen Einflussnahme durch staatliche Amtsträger ausgesetzt (AA 2.4.2020, S.7; vgl. USDOS 11.3.2020, S.8). Nicht immer respektiert die Regierung Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz (USDOS 11.3.2020, S.8). Außerdem sind Urteile von Clan- oder politischen Überlegungen seitens der Richter beeinflusst (BS 2020, S.16; vgl. USDOS 11.3.2020, S.9; FH 4.3.2020a, F2). Die meisten der in der Verfassung vorgesehenen Rechte für ein faires Verfahren werden bei Gericht nicht angewendet (USDOS 11.3.2020, S.8f). Nationales oder internationales Recht werden bei Fest- oder Ingewahrsamnahme sowie beim Vor-Gericht-Stellen von Tatverdächtigen nur selten eingehalten (AA 2.4.2020, S.9).

Auch Korruption behindert den Zugang zu fairen Verfahren (USDOS 11.3.2020, S.9; vgl. FH 4.3.2020a, F1; FIS 7.8.2020, S.21). Verfahren dauern sehr lang (FIS 7.8.2020, S.21). Von Richtern oder Staatsanwälten werden Bestechungsgelder verlangt. Verdächtige und Verurteilte werden gegen Geld, oder weil sie einem bestimmten Clan angehören, auf freien Fuß gesetzt (SIDRA 11.2019, S.5). Zusätzlich halten sich Staatsbedienstete bzw. Behörden nicht an gerichtliche Anordnungen (USDOS 11.3.2020, S.8; vgl. BS 2020, S.16; FH 4.3.2020a, F1). Folglich ist das Vertrauen der Menschen in die formelle Justiz gering. Sie wird als teuer, ineffizient und manipulierbar wahrgenommen (BS 2020, S.16). Insgesamt stehen Zivilisten ernsthaften Mängeln beim Rechtsschutz gegenüber (FIS 7.8.2020, S.21). Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung (FH 4.3.2020a, F1).

Formelle Justiz - Militärgerichte: Die von der Bundesregierung geschaffenen Militärgerichte verhandeln und urteilen weiterhin über Fälle jeglicher Art. Darunter fallen auch zivilrechtliche Fälle, die eigentlich nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen (AA 2.4.2020, S.8; vgl. BS 2020, S.16; vgl. FH 4.3.2020a, F2), bzw. wo unklar ist, ob diese in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Ein Grund dafür ist, dass zivile Richter oftmals Angst haben, bestimmte – zivile – Fälle zu verhandeln (USDOS 11.3.2020, S.8f). Verfahren vor Militärgerichten entsprechen nicht den international anerkannten Standards für faire Gerichtsverfahren (AA 2.4.2020, S.8; vgl. USDOS 11.3.2020, S.2; HRW 13.1.2021; FH 4.3.2020a, F2). Angeklagten wird nur selten das Recht auf eine Rechtsvertretung oder auf Berufung zugestanden (USDOS 11.3.2020, S.9).

Traditionelles Recht (Xeer): Das Xeer behandelt Vorbringen von Fall zu Fall und wird von Ältesten implementiert (BS 2020, S.16). Die traditionelle Justiz dient im ganzen Land bei der Vermittlung in Konflikten (USDOS 11.3.2020, S.8). Xeer ist insbesondere in jenen ländlichen Gebieten wichtig, wo Verwaltung und Justiz nur schwach oder gar nicht vorhanden sind. Aber auch in den Städten wird Xeer oft zur Konfliktlösung – z.B. bei Streitfragen unter Politikern und Händlern – angewendet (SEM 31.5.2017, S.34). Zur Anwendung kommt Xeer auch bei anderen Konflikten und bei Kriminalität (BFA 8.2017, S.100). Es kommt also auch dort zu tragen, wo Polizei und Justizbehörden existieren. In manchen Fällen greift die traditionelle Justiz auf Polizei und Gerichtsbedienstete zurück (LIFOS 9.4.2019, S.7), in anderen Fällen behindert der Einsatz des Xeer Polizei und Justiz. Jedenfalls wiegt eine Entscheidung im Xeer schwerer als ein Urteil vor einem formellen Gericht. Im Zweifel zählt die Entscheidung im Xeer (LIFOS 1.7.2019, S.4). Frauen werden im Xeer insofern benachteiligt, als sie in diesem System nicht selbst aktiv werden können und auf ein männliches Netzwerk angewiesen sind (LIFOS 1.7.2019, S.14).

Clanschutz im Xeer: Maßgeblicher Akteur im Xeer ist der Jilib – die sogenannte Diya/Mag/Blutgeld-zahlende Gruppe. Das System ist im gesamten Kulturraum der Somali präsent und bietet – je nach Region, Clan und Status – ein gewisses Maß an (Rechts-)Schutz. Die sozialen und politischen Beziehungen zwischen Jilibs sind durch (mündliche) Xeer-Verträge geregelt. Mag/Diya muss bei Verstößen gegen diesen Vertrag bezahlt werden. Für Straftaten, die ein Gruppenmitglied an einem Mitglied eines anderen Jilib begangen hat – z.B., wenn jemand verletzt oder getötet wurde – sind Kompensationszahlungen (Mag/Diya) vorgesehen (SEM 31.5.2017, S.8ff). Wenn einer Person etwas passiert, dann wendet sie sich nicht an die Polizei, sondern zuallererst an die eigene Familie und den Clan (FIS 7.8.2020, S.20). Dies gilt auch bei anderen (Sach-)Schadensfällen. Die Mitglieder eines Jilib sind verpflichtet, einander bei politischen und rechtlichen Verpflichtungen zu unterstützen, die im Xeer-Vertrag festgelegt sind – insbesondere bei Kompensationszahlungen. Letztere werden von der ganzen Gruppe des Täters bzw. Verursachers gemeinsam bezahlt (SEM 31.5.2017, S.8ff).

Der Ausdruck „Clanschutz“ bedeutet in diesem Zusammenhang also traditionell die Möglichkeit einer Einzelperson, vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Sein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Mag/Diya zu zahlen – oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans (SEM 31.5.2017, S.31). Aufgrund von Allianzen werden auch Minderheiten in das System eingeschlossen. Wenn ein Angehöriger einer Minderheit, die mit einem großen Clan alliiert ist, einen Unfall verursacht, trägt auch der große Clan zu Mag/Diya bei (SEM 31.5.2017, S.33). Allerdings haben schwächere Clans und Minderheiten oft Schwierigkeiten – oder es fehlt überhaupt die Möglichkeit – ihre Rechte im Xeer durchzusetzen (LIFOS 1.7.2019, S.14). Der Clanschutz funktioniert generell – aber nicht immer – besser als der Schutz durch den Staat oder die Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt (SEM 31.5.2017, S.36). Dementsprechend wird etwa ein Tod in erster Linie durch die Zahlung von Blutgeld und nicht durch einen Rachemord ausgeglichen (GIGA 3.7.2018).

Aufgrund der Schwäche bzw. Abwesenheit staatlicher Strukturen in einem großen Teil des von Somalis besiedelten Raums spielen die Clans also auch heute eine wichtige politische, rechtliche und soziale Rolle (SEM 31.5.2017, S.8; vgl. ÖB 3.2020, S.10), denn die Konfliktlösungsmechanismen der Clans für Kriminalität und Familienstreitigkeiten sind intakt. Selbst im Falle einer Bedrohung durch al Shabaab kann der Clan einbezogen werden. Bei Kriminalität, die nicht von al Shabaab ausgeht, können Probleme direkt zwischen den Clans gelöst werden (SEM 31.5.2017, S.35).

Die Clanzugehörigkeit kann also manche Täter vor einer Tat zurückschrecken lassen, doch hat auch der Clanschutz seine Grenzen. Angehörige nicht-dominanter Clans und Gruppen sind etwa vulnerabler (LI 15.5.2018, S.3). Außerdem kann z.B. eine Einzelperson ohne Anschluss in Mogadischu nicht von diesem System profitieren (SEM 31.5.2017, S.35). Problematisch ist zudem, dass im Xeer oft ganze (Sub-)Clans für die Taten Einzelner zur Verantwortung gezogen werden (USDOS 11.3.2020, S.8). Trotzdem sind die Mechanismen des Xeer wichtig, da sie nahe an den Menschen wirken und jahrhundertealte, den Menschen bekannte Verfahren und Normen nutzen. Der Entscheidungsprozess ist transparent und inklusiv (UNHRC 6.9.2017, Abs.60). Zusammenfassend ist Xeer ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfallversicherung. Die traditionell vorgesehenen Kompensationszahlungen decken zahlreiche zivil- und strafrechtliche Bereiche ab und kommen z.B. bei fahrlässiger Tötung, bei Autounfällen mit Personen- oder Sachschaden oder sogar bei Diebstahl zu tragen. Nach der Art des Vorfalles richtet sich auch der zu entrichtende Betrag (SEM 31.5.2017, S.32).

Scharia: Die Gesetzlosigkeit in Süd-/Zentralsomalia führte dazu, dass die Scharia nicht mehr nur in Zivil-, sondern auch in Strafsachen zum Einsatz kommt, da die Bezahlung von Blutgeld manchmal nicht mehr als ausreichend angesehen wird (SEM 31.5.2017, S.34). Problematisch ist, dass die Scharia von Gerichten an unterschiedlichen Orten auch unterschiedlich interpretiert wird, bzw. dass es mehrere Versionen der Scharia gibt. Schariagerichte werden auch für andere Rechtsdienste herangezogen – sie werden als effizienter, weniger korrupt, schneller und fairer angesehen (BS 2020, S.16).

Recht bei al Shabaab: In den von al Shabaab kontrollierten Gebieten wird das Prinzip der Gewaltenteilung gemäß der theokratischen Ideologie der Gruppe abgelehnt (AA 2.4.2020, S.7). Dort ersetzt islamisches Recht auch Xeer (SEM 31.5.2017, S.33; ÖB 3.2020, S.4) bzw. ist Letzteres nach anderen Angaben bei al Shabaab sogar verboten (BS 2020, S.17). Außerdem gibt es dort kein formelles Justizsystem (USDOS 11.3.2020, S.10). Der Clanschutz ist in Gebieten unter Kontrolle oder Einfluss von al Shabaab eingeschränkt, aber nicht inexistent. Abhängig von den Umständen können die Clans auch in diesen Regionen Schutz bieten. Es kann den Schutz einer Einzelperson erhöhen, Mitglied eines Mehrheitsclans zu sein (SEM 31.5.2017, S.33f), es gibt ein gewisses Maß an Verhandlungsspielraum (LI 21.5.2019a, S.3).

Al Shabaab unterhält in den von ihr kontrollierten Gebieten ständige, von Geistlichen geführte Gerichte, welche ein breites Spektrum an straf- und zivilrechtlichen Fällen abhandeln. Zusätzlich gibt es auch mobile Gerichte (ICG 27.6.2019, S.4). Es gilt die strikte salafistische Auslegung der Scharia (BS 2020, S.17). Angeklagte vor einem Schariagericht haben kein Recht auf Verteidigung, Zeugen oder einen Anwalt (USDOS 11.3.2020, S.10). In von al Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig extreme Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt, darunter Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebe oder Hinrichtungen für Ehebruch (AA 2.4.2020, S.13; vgl. BS 2020, S.17). Al Shabaab inhaftiert Personen für Vergehen wie Rauchen, unerlaubte Inhalte auf dem Mobiltelefon; Musikhören, Fußballschauen oder -spielen und das Tragen eines BHs oder das Nicht-Tragen eines Hidschabs (USDOS 11.3.2020, S.6). Die harsche Interpretation der Scharia wird in erster Linie in den von al Shabaab kontrollierten Gebieten umgesetzt, dort, wo die Gruppe auch über eine permanente Präsenz verfügt. In anderen Gebieten liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Einhebung von Steuern (LI 20.12.2017, S.3).

Die Gerichte der al Shabaab werden als gut funktionierend, effektiv, weniger korrupt, schnell und im Vergleich fairer beschrieben (BS 2020, S.16) – zumindest im Vergleich zur staatlichen Rechtsprechung (FIS 7.8.2020, S.16). Al Shabaab urteilt oder vermittelt u.a. in Streitigkeiten zwischen Wirtschaftstreibenden (HI 10.2020, S.7). Viele Menschen bevorzugen die Gerichte der al Shabaab – selbst Personen aus von der Regierung kontrollierten Gebieten (BS 2020, S.17) – etwa aus Mogadischu (FIS 7.8.2020, S.16). Von dort begeben sich Streitparteien extra nach Lower Shabelle, um dort bei al Shabaab Klage einzureichen (FIS 7.8.2020, S.16; vgl. LIFOS 1.7.2019, S.4). Denn der Rechtsprechung durch al Shabaab wird mehr Vertrauen entgegengebracht als jener der staatlichen Justiz (LIFOS 1.7.2019, S.14). Auch für benachteiligte Gruppen mit keinem oder nur eingeschränktem Zugang zu anderen Rechtssystemen kann die Justiz von al Shabaab anziehend wirken. So sind diese Gerichte für manche Frauen etwa die einzige Möglichkeit, um finanzielle Ansprüche an vormalige Ehemänner oder männliche Verwandte geltend zu machen (UNSC 1.11.2019, S.14). Gerichte von al Shabaab hören alle Seiten, fällen Urteile und sorgen dafür, dass Urteile auch umgesetzt bzw. eingehalten werden – wo nötig mit Gewalt (FIS 7.8.2020, S.16). Al Shabaab ist grundsätzlich in der Lage, Gerichtsbeschlüsse auch durchzusetzen (UNSC 1.11.2019, S.14; vgl. HI 10.2020, S.10).

Es gilt das Angebot einer Amnestie für Kämpfer der al Shabaab, welche ihre Waffen ablegen, der Gewalt abschwören und sich zur staatlichen Ordnung bekennen. Für diese Amnestiemöglichkeit gibt es aber keine rechtliche Grundlage (AA 2.4.2020, S.13). Allerdings wird üblicherweise ehemaligen Kämpfern im Austausch für Informationen über al Shabaab eine Amnestie gewährt (LIFOS 1.7.2019, S.24).

Puntland: Die meisten Fälle werden durch Clanälteste im Xeer abgehandelt. Ins formelle Justizsystem gelangen vor allem jene Fälle, wo keine Clanrepräsentation gegeben ist (USDOS 11.3.2020, S.9).

Puntland hat ein eigenes Gerichtswesen geschaffen (BS 2020, S.16), die Gerichte werden als funktionierend bezeichnet. Es gilt die Unschuldsvermutung, das Recht auf ein öffentliches Verfahren, auf einen Anwalt und auf Berufung (USDOS 11.3.2020, S.9f).

Abseits der Zivilgerichtsbarkeit gibt es in Puntland Militärgerichte. Deren Personal wird direkt vom Präsidenten aus den Reihen des Militärs ernannt und muss über keine fachliche Ausbildung verfügen. Die Spezialeinheit „Puntland Security Force“ (PSF) ist gemäß Anti-Terrorgesetz mit den Militärgerichten in enger Verbindung. Es kommt an diesen Gerichten – in Zusammenhang mit Prozessen bei Terrorismusverdacht – mitunter zu Verurteilungen unter Verwendung erzwungener Geständnisse. Zuständig sind Militärgerichte in Puntland u.a. im Falle von Spionage, Verrat, Kontakt mit dem Feind und Terrorismus (UNSC 1.11.2019, S.38/138ff).

Das UNDP unterstützt seit Jahren die universitäre Ausbildung von Juristen in Puntland, um dem Mangel an Personal – Richter, (Staats-)Anwälte – entgegenzutreten (UNDP 7.4.2019).

Zu den weder von der Regierung noch von al Shabaab kontrollierten Gebieten gibt es kaum Informationen. Es ist aber davon auszugehen, dass Rechtsetzung, -Sprechung und -Durchsetzung zumeist in den Händen von v.a. Clanältesten liegen. Von einer Gewaltenteilung ist dort nicht auszugehen (AA 2.4.2020, S.7). Urteile werden hier häufig gemäß Xeer von Ältesten gesprochen. Diese Verfahren betreffen in der Regel nur Rechtsstreitigkeiten innerhalb des Clans. Sind mehrere Clans betroffen, kommt es häufig zu außergerichtlichen Vereinbarungen (Friedensrichter), auch und gerade in Strafsachen. Repressionen gegenüber Familie und Nahestehenden (Sippenhaft) spielen dabei eine wichtige Rolle (AA 2.4.2020, S.13).

1.4.1.3. Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 30.03.2021

Süd-/Zentralsomalia, Puntland

Letzte Änderung: 30.03.2021

Ausländische Kräfte

Letzte Änderung: 30.03.2021

Die African Union Mission in Somalia (AMISOM) ist seit 2007 in Somalia stationiert (EU o.D.). Das prinzipielle Mandat von AMISOM ist es, die durch al Shabaab und andere Rebellengruppen gegebenen Bedrohungen zu reduzieren und Stabilisierungsanstrengungen zu unterstützen. Das hat AMISOM zu einem gewissen Maß auch geschafft (ISS 28.2.2019). Die Truppe trägt einerseits seit Jahren die Führung im Kampf gegen al Shabaab und andererseits schützt sie die Bundesregierung (BBC 18.1.2021), die in großem Maße von den Kräften der AMISOM abhängig ist (BS 2020, S.6/13; vgl. ÖB 3.2020, S.8, BBC 18.1.2021). AMISOM ist ein beispielgebender Fall internationaler Kooperation bei einer militärischen Intervention. Afrikanische Länder stellen die Truppen, während die EU und andere für die Finanzierung aufkommen. Die UN wiederum sind für Ausrüstung und Logistik verantwortlich. Einzelne Länder, wie etwa die USA und Großbritannien, gewährleisten zusätzliche Unterstützung bei finanziellen Ressourcen, Logistik und Ausbildung (BS 2020, S.39).

Die UN haben im Mai 2020 das Mandat von AMISOM mit 19.626 Mann uniformiertem Personal, davon mindestens 1.040 Polizisten, verlängert (UNSC 29.5.2020, Abs.9ff). Im Dezember 2018 gab es noch ca. 21.600 uniformiertes AMISOM-Personal (UNSC 21.12.2018, S.9). AMISOM hat eine militärische, eine polizeiliche und eine zivile Komponente. Truppenstellerstaaten für die militärische Komponente sind gegenwärtig Uganda, Burundi, Dschibuti, Kenia und Äthiopien (AMISOM 2021a). Die Stärke beträgt seit Feber 2020: Äthiopien: 3.902; Burundi: 3.715; Dschibuti: 1.691; Kenia: 3.654; Uganda: 5.448; Hauptquartier: 111. Seit Ende 2020 verfügt AMI

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten