Entscheidungsdatum
13.07.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W226 2221534-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA: Russische Föderation, vertreten durch BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2019, Zl. 1100702301-161682070, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.06.2021 zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 3 Monate ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
1. Erstes Dublinverfahren:
1.1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF) ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehört der Volksgruppe der Osseten an und bekennt sich zum christlich-orthodoxen Glauben.
Sie reiste gemeinsam mit ihren beiden volljährigen Töchtern XXXX und XXXX sowie ihrer minderjährigen Enkeltochter XXXX ins Bundesgebiet ein und stellten diese erstmals am 31.12.2015 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.
Eine Einsicht in die Visa-Datenbank hat ergeben, dass der BF und ihren Angehörigen seitens der tschechischen Vertretungsbehörde in XXXX /Russland jeweils Schengenvisa erteilt worden sind.
1.2. Im Zuge des durchgeführten Konsulationsverfahrens stimmte die tschechische Dublinbehörde der Übernahme der BF und ihrer weiteren Angehörigen ausdrücklich zu und wurde – nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens - mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 08.04.2016 der erste Antrag der BF auf internationalen Schutz – ebenso wie die Anträge ihrer Angehörigen – ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Tschechien gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG eine Abschiebung nach Tschechien zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Mangels Erhebung eines Rechtsmittels erwuchs dieser Bescheid vom 08.04.2016 in Rechtskraft.
Da die BF (ebenso wie ihre mitgereisten Angehörigen) in der Folge unbekannten Aufenthaltes war, hat sich die Überstellungsfrist auf 18 Monate verlängert.
2. Zweites Dublinverfahren:
2.1. Am 15.12.2016 stellte die BF - ebenso wie ihre Angehörigen – einen weiteren, zweiten Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Im Zuge der am selben Tage durchgeführten Erstbefragung gab die BF und ihre Töchter im Wesentlichen übereinstimmend an, Österreich Ende April 2016 verlassen zu haben und über die Ukraine nach Russland gereist zu sein, wo sie sich bis 12.12.2016 aufgehalten hätten. Über die Ukraine und ihnen unbekannte Länder seien sie abermals nach Österreich gelangt. Sie würden nicht nach Tschechien wollen, da sie das erste Mal, als sie dort gewesen seien, die Nachricht bekommen hätten, dass die Bedroher über ihren Aufenthalt in Tschechien Bescheid wissen würden. Die BF habe in Tschechien auch eine Person selbst gesehen. Sie habe das bei ihrem ersten Asylantrag bei der Polizei nicht angegeben, beim Asylamt habe sie es aber gesagt. Die Leute würden sie auch in Tschechien finden und dann töten.
Zu ihren persönlichen Verhältnissen gab die BF an, sie sei in Georgien geboren und verwitwet. Ihre Muttersprache sei Ossetisch, sie spreche auch Russisch und Georgisch. Zu Beschwerden oder Krankheiten befragt, führte sie aus, bei der rechten Brust ein bisschen geschwollen zu sein.
Als die BF befragt wurde, ob sie Ergänzungen/Korrekturen machen wolle, führte diese aus, dass ihre Fluchtgründe seit ihrem 1. Asylantrag in Österreich aufrecht seien. Sie hätten Angst vor diesen Leuten, diese würden immer mehr Geld von ihnen wollen und hätten sie immer wieder mit dem Umbringen bedroht. Ihr Enkelkind sei von diesen Leuten gestoßen und dabei verletzt worden. Sie könne dazu ein Foto und Bestätigungen beim Asylamt vorlegen.
2.2. In der am 10.02.2017 erfolgten niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA führte die BF an, Ende April 2016 aus Österreich ausgereist zu sein, da sie ansonsten nach Tschechien gebracht worden wäre. Per PKW sei sie in die Ukraine und dann nach Russland gefahren. Die anderen Länder, über welche sie gefahren sei, seien ihr unbekannt. Sie hätte sich sieben Monate lang in Russland aufgehalten, wobei sie am 12.12. wieder ausgereist sei.
Befragt, warum sie erneut aus Russland ausgereist sei, gab die BF an, dass sich ihre Fluchtgründe geändert hätten. Ihr Kind (gemeint: ihre Enkelin) sei zusammengeschlagen worden, weshalb sie wieder ausgereist seien. Auf die Frage, ob sie vorgehabt hätten, in Russland zu bleiben, gab die BF an, sie hätten gedacht, dass sich alles beruhigt habe und sie in ihre Heimat zurückkehren können. Dies sei aber nicht der Fall gewesen. Vor allem nach dem Vorfall mit der Enkelin, hätten sie sich wieder entschieden Russland zu verlassen.
Es wurden elektronische Tickets in russischer Sprache, ein Foto ihrer Enkelin sowie ein Schreiben in russischer Sprache vorgelegt.
2.3. In der Folge brachte die BF diverse medizinische Unterlagen in Vorlage, aus denen sich zusammengefasst nach Durchführung einer Mammographie ergab, dass sie einen Tumor an der Brustdrüse hat.
2.4. Mit Stellungnahme vom 20.03.2017 legte die BF diverse Schreiben in russischer Sprache vor. Nach ihren Angaben soll es sich dabei um eine Bestätigung des russischen Innenministeriums handeln, wonach sie vom 15.06.2016 bis zum 01.11.2016 an einer näher bezeichneten Adresse in XXXX wohnhaft gewesen sei, sowie um eine Bestätigung einer Hausärztin, derzufolge die BF vom 03.09.2016 bis zum 29.09.2016 und vom 03.05.2016 bis zum 30.02.2016 bei dieser in Behandlung gewesen sei.
2.5. Am 24.04.2017 fand neuerlich eine niederschriftliche Einvernahme statt, bei der die BF angab, an Brustkrebs zu leiden und am 02.05.2017 einen Termin für eine Chemotherapie zu haben. Zum Beweis ihres mehrmonatigen Aufenthaltes in Russland legte die BF diverse Unterlagen in russischer Sprache vor, bei denen es sich ihren Angaben zufolge um Wohnsitzbescheinigungen und Bestätigungen handle. Weiters führte sie abermals an, Ende April 2016 illegal per PKW nach Russland zurückkehrt zu sein, wobei sie nicht wisse, welche Länder sie durchquert hätten.
Nach dem Grund für den Aufenthalt in Russland von April-Dezember 2016 befragt, gab die BF an, sie seien nach Erhalt der negativen Entscheidung zurückgereist. Sie hätten gehofft, dass sie die Verfolger zu Hause schon vergessen hätten. Ein paar Tage später hätten sich die Verfolger aber wieder gemeldet.
Zu ihrem Aufenthalt in Tschechien gab sie an, sie seien nur vier Tage dort gewesen. Da sie ein Visum gehabt hätten, hätten sie die Verfolger schnell gefunden. Sie habe einen der Verfolger auf der Straße gesehen. Er sei zuerst in Russland, dann in Tschechien gewesen. Die Leute, die sie verfolgen, würden wissen, wenn sie in Tschechien seien. Befragt, was sie in Russland gegen die Gefahr gemacht habe, gab die BF an, sie sei von zu Hause weggegangen, sei bei mehreren Freundinnen gewesen und habe öfters die Adresse wechseln müssen.
2.6. In der Folge wurde im Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand der BF ein Konvolut an medizinischen Unterlagen vorgelegt. Demnach wurde diese am 23.03.2017 wegen ihrer Brustkrebserkrankung operiert und ihr am 16.05.2017 ein Portkathetersystem zur Durchführung einer Chemotherapie implantiert.
2.7. Mit Bescheid vom 24.05.2017 wurde der zweite Antrag der BF auf internationalen Schutz – ebenso wie die Anträge ihrer Angehörigen – ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Tschechien gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG eine Abschiebung nach Tschechien zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Das BFA führte begründend aus, dass das Vorbringen der BF, sie hätte das Gebiet der Mitgliedstaaten für mindesten drei Monate verlassen, nicht glaubhaft sei.
2.8. Gegen diesen Bescheid erhob die BF (ebenso wie ihre Angehörigen) fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde, worin im Wesentlichen neuerlich vorgebracht wurde, dass die BF und ihre Angehörigen von Ende April-Dezember 2016 in Russland aufhältig gewesen sei bzw. das BFA ihren Gesundheitszustand nicht berücksichtigt habe. Der Beschwerde wurden diverse ärztliche Schreiben betreffend die BF beigelegt, denen zufolge sie am 24.05.2017 den ersten Zyklus der Chemotherapie erhalten habe und in den nächsten sechs Monaten in regelmäßiger onkologischer Betreuung stehe. Anschließend sei eine Bestrahlung der Brust geplant. Ferner wurde attestiert, dass die BF auf die Hilfe ihrer beiden Töchter angewiesen sei.
2.9. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes (in der Folge BVwG) vom 03.07.2017 wurde den Beschwerden gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt und wurden in der Folge diverse weitere medizinische Unterlagen übermittelt, aus denen sich ergibt, dass die BF mittlerweile vier Zyklen der Chemotherapie erhalten habe und bis 22.01.2018 in strahlentherapeutischer Behandlung steht. Die BF sei aufgrund ihrer Brustkrebserkrankung nicht transportfähig.
2.10. Mit Beschluss des BVwG vom 28.03.2018 wurde der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben, wobei die Angehörigen der BF gleichlautende Entscheidungen erhielten. In der Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es das BFA unterlassen habe, Tschechien das relevante Vorbringen mitzuteilen bzw. die vorgelegten Unterlagen anzuführen, um eine Beurteilung durch Tschechien (betreffend die Zuständigkeit) zu ermöglichen. Zudem seien die vorgelegten Schreiben in russischer Sprache nicht übersetzt worden, sodass eine Überprüfung, ob diese das Vorbringen der BF betreffend die behauptete Wohnsitznahme in Russland stützen oder nicht, nicht möglich sei. Auch liege keine abschließende Beurteilung des Gesundheitszustandes der BF vor. Abschließend wurde der Behörde im Detail aufgetragen, diverse Ermittlungen zum aktuellen Gesundheitszustand bzw. der Behandlung der BF vorzunehmen.
2.11. Im fortgesetzten Verfahren wurde die BF am 02.05.2018 erneut einvernommen. Zu ihrem Gesundheitszustand gab sie an, sie habe bereits drei Operationen und acht Chemotherapien hinter sich, allerdings habe sich der Brustkrebs lediglich verschlechtert. Seit einem Monat leide sie an Fieber, die Ärzte würden meinen, dass die Metastasen bereits im Knochen seien. Ferner machte die BF genauere Angaben zu der von ihr behaupteten Rückkehr nach Russland, ihrem dortigen Aufenthalt und ihre erneuten Reise nach Österreich.
Auf die Frage, warum sie zurück nach Russland gereist sei, gab die BF an, dass man sie nach Tschechien habe schicken wollen, dies hätten sie nicht gewollt. Sie hätten gedacht, dass sie in Russland Ruhe haben würden.
In Russland sei sie nicht medizinisch behandelt worden. Der Brustkrebs sei erst in Österreich diagnostiziert worden. Sie habe Probleme mit dem rechten Fuß gehabt, dieser sei gelähmt gewesen. Die Ärzte in Russland hätten ihr gesagt, dass es ein hoffnungsloser Fall sei. Die österreichischen Ärzte hätten ihn hingegen im Juni 2016 behandeln lassen, aber sie seien im April 2016 ausgereist.
Nach Vorhalt, dass sie angegeben habe, sieben Monate in Russland gewesen zu sein und auf die Frage, ob sie weiterhin verfolgt worden sei bzw. es sonstige Vorfälle gegeben habe, gab die BF an, dass man sie gesucht und einmal gefunden habe. Sie habe ihre Tochter verteidigt und sei dabei geschlagen worden. Sie verbinde dies mit ihren jetzigen Problemen. Sie hätten sich bei Bekannten versteckt. Sie sei durchgehend einer Verfolgung ausgesetzt gewesen, sei aber nicht früher ausgereist, da sie Geld sammeln habe müssen. Sie hätten sich durchgehend bei Bekannten versteckt, gelegentlich hätten sie zum Arzt müssen. Befragt, wie sie das Geld gesammelt hätte, führte die BF aus, dass sie eine Hälfte schon gehabt habe, die andere Hälfte hätten sie von Verwandten bzw. ihrer Cousine erhalten. Auf die Frage, warum dies sieben Monate lang gedauert habe, antwortete die BF, dass ihr Sohn im August 2012 eine Wohnung gekauft habe und er im Dezember umgebracht worden sei. Sie wisse nicht, wie sie dies erklären solle, sie würden nicht von einfachen Menschen verfolgt werden. Sie würden die Wohnung nicht betreten können, obwohl sie einen Schlüssel hätten. Sie hätten gehofft, dass es sich beruhige. Drei bis vier Monate hätten sie gehofft, das Geld selbstständig zu erwerben. Sie habe sehr viel Gold und Schmuck und sei nach dem Verkauf dieser Waren auf die 4.000 EUR gekommen. Sie hätten die Hoffnung gehabt, in Russland verbleiben zu können, deshalb hätten sie nicht sofort nach Österreich ausreisen wollen. Nachdem ihr Kind geschlagen worden sei, hätten sie erneut ausreisen wollen. Dies sei nach ca. vier Monaten in Russland passiert. Sie habe nicht ausreisen wollen, aber ihre Kinder hätte sie überredet. Sie habe bis zum Schluss gehofft, nicht ausreisen zu müssen. Nach Vorhalt, ob es nicht möglich gewesen wäre, in eine andere Provinz Russlands auszureisen, gab die BF an, dass man sich vor diesen Menschen nicht verstecken könne. Auf den weiteren Vorhalt, ob es in Anbetracht der Fluchtgründe nicht sinnvoller gewesen wäre, in einen anderen EU-Mitgliedstaat zu reisen, gab die BF an, sie habe unbedingt zurück nach Russland gewollt.
2.12. In der Folge wurde die BF einer PSY III-Untersuchung unterzogen. Laut gutachterlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren vom 09.06.2018 wurde bei der BF eine Anpassungsstörung F43.2 diagnostiziert, eine akute suizidale Einengung sei derzeit nicht fassbar. Therapeutische oder medizinische Maßnahmen wurden keine empfohlen. Die BF legte daraufhin einen Befund vom 24.05.2017 vor, dem ein Therapieprotokoll und die einzunehmenden Medikamente zu entnehmen sind.
2.13. Mit Bescheid des BFA vom 19.06.2018 wurde der zweite Antrag der BF auf internationalen Schutz – sowie jener ihrer Angehörigen - erneut ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Tschechien gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG eine Abschiebung nach Tschechien zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Das BFA führte wiederum aus, dass das Vorbringen der BF, sie hätte das Gebiet der Mitgliedstaaten für mindesten drei Monate verlassen, nicht glaubhaft sei. Die BF hätten keine Angaben zur ihrem Reiseweg machen können. Mit den vorgelegten Zugtickets würde nicht bewiesen werden, dass diese in Russland gekauft worden wären. Es sei außerdem nicht auszuschließen, dass die vorgelegten Schreiben aus Russland geschickt worden wären, ohne dass sich die BF tatsächlich dort aufgehalten hätte. Bezüglich des Gesundheitszustandes werde in keinem der vorgelegten ärztlichen Befunde erwähnt, dass der momentane Zustand der BF eine Überstellung nicht ermöglichen würde. Ferner wurde auf die gutachterliche Stellungnahme verwiesen, welche als aktuellster Befund am stärksten gewichtet werde und in der nicht erkannt werden hätte können, dass ein Aufenthalt der BF in Tschechien unzumutbar wäre.
2.14. Gegen diesen Bescheid erhob die BF – sowie ihre Angehörigen - fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen das Vorbringen betreffend eine Ausreise nach Russland wiederholt, auf die Erkrankung der BF hingewiesen und wurden medizinische Unterlagen in Vorlage gebracht.
2.15. Mit Beschluss des BVwG vom 02.08.2018 wurde der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.
2.16. Mit weiterem Beschluss des BVwG vom 10.08.2018, GZ.: W241 2162027-2/3E, wurde der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverwiesen.
In der Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dem Akteninhalt sei nicht zu entnehmen, dass das BFA im fortgesetzten Verfahren Tschechien hinreichend über das relevante Vorbringen der BF zu ihrem Reiseweg informiert habe und die vorgelegten Unterlagen übermittelt habe. Weiters seien die in russischer Sprache vorgelegten Schreiben nicht übersetzt worden. Auch eine abschließende Beurteilung des Gesundheitszustandes der BF liege nicht vor, sondern habe das BFA die im Beschluss vom 18.03.2018 ausgeführten Ermittlungsaufträge schlichtweg ignoriert. Zwar sei eine PSY III-Untersuchung bei der BF durchgeführt worden, darin würden aber nur psychologische Schlussfolgerungen gezogen werden, aber keiner Aussagen betreffend den physischen Gesundheitszustand, die Krebserkrankung der BF und die Folgen der Überstellung nach Tschechien in Zusammenhang mit dieser Erkrankung getroffen werden. Erneut wurde dem BFA aufgetragen, die tschechischen Behörden über das relevante Vorbringen zu informieren sowie ergänzende Ermittlungen betreffend den Gesundheitszustand der BF durchzuführen.
Ebenso wurden mit Beschlüssen des BVwG vom 10.08.2018, GZlen.: W192 2162511-2/3E, W192 2162505-2/3E und W235 2162026-2/3E die bekämpften Bescheide der Angehörigen behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung von neuen Bescheiden an das BFA zurückverwiesen.
3. Gegenständliches Asylverfahren:
3.1. Nachdem das Verfahren nunmehr zugelassen wurde, führte das BFA am 18.06.2019 eine Einvernahme der BF durch, wobei diese auch detailliert zu ihren Asylgründen befragt wurde.
Zu ihrem Gesundheitszustand gab die BF an, dass sie Probleme mit der Wirbelsäule und den Beinen habe. Sie sei am Bauch operiert worden, der Termin für die Knie-OP sei im August. Sie habe einen Bandscheibenvorfall und nehme Medikamente ein. Zudem habe sie Brustkrebs und sei 3 Mal operiert worden. Dieser sei schon viel besser geworden. Die BF habe 8 Mal eine Chemo und 20 Mal eine Strahlentherapie gehabt. Als sie nach Traiskirchen gekommen seien, sei sie gesund gewesen. Ihr habe nichts wehgetan. Die Probleme hätten im Dezember 2016 angefangen, da habe man ihr gesagt, dass sie Krebs habe. Die Probleme mit den Bandscheiben und den Knien hätten nach dem Tod des Mannes (2004) angefangen. Derzeit sei sie bei verschiedenen Onkologen in Behandlung.
Zu ihrer Reise und ihren Wohnverhältnissen in der Russischen Föderation gab die BF an, sie hätten ihre Reisepässe - als sie Tschechien verlassen hätten - zerrissen und weggeworfen. Zuletzt sei sie in Russland ( XXXX ) in der Straße namens XXXX gemeldet gewesen, gelebt hätten sie aber in der Straße XXXX . Ihre eigene Wohnung, welche sie im Jahr 2015 gekauft habe, sei in der Straße XXXX gewesen. Es sei nicht möglich gewesen an der gleichen Adresse zu wohnen, wo sie gemeldet gewesen seien. In der eigenen Wohnung habe sie 8 Monate lang alleine gelebt, als sie ausgereist sei, habe sie die Wohnung versperrt. Zuletzt sei sie wahrscheinlich im Dezember 2015 in der Wohnung gewesen.
Weiters gab die BF an, verwitwet zu sein. Ihr Mann sei an einer Rauchgasvergiftung gestorben. Sie würde nicht wissen, wie das passiert sei, sie schließe Selbstmord aus. Er habe zu ihr gesagt, dass er zu den Eltern fahre, sei aber betrunken gewesen. Das Auto sei in der Garage gestanden. In der Früh hätten sie ihn gesehen, da sei er schon tot gewesen.
Zu ihren Familienangehörigen gab die BF an, dass sie - neben den in Österreich aufhältigen Verwandten - noch einen Sohn gehabt habe, welcher bei den Behörden gearbeitet habe und durch Vergiftung verstorben sei.
Zu ihren persönlichen Verhältnissen in der Russischen Föderation führte die BF weiters aus, sie gehöre der ossetischen Volksgruppe an. Sie spreche Georgisch, Russisch, Ossetisch und Armenisch. Sie habe 11 Jahre die Grundschule besucht und 2 Mal ein Technikum (für Buchhaltung und Handel) abgeschlossen. Sie habe 2 Jahre lang als Buchhalterin gearbeitet, nach der Geburt des Sohnes habe sie 9 Jahre lang als Verkäuferin gearbeitet. Die BF habe einen Bruder, der in XXXX lebe. Zu diesem habe sie täglich Kontakt. Zudem habe sie eine Schwester in XXXX , welche ein Mitglied der Zeugen Jehovas sei. Weiters habe sie zwei Halbgeschwister, zu welchen wenig Kontakt bestehe und würden auch alle Verwandten ihres verstorbenen Mannes in der Russischen Föderation leben. Zu diesen hätte sie aber keinen Kontakt, da diese der Meinung seien, sie sei schuld an dessen Tod.
Zum Zweck der Einreise nach Österreich, gab die BF an, sie hätten nicht vorgehabt nach Österreich zu kommen. Sie seien drei Tage in Tschechien gewesen und habe sie geglaubt, einen von den Leuten, welcher in Russland zu ihnen nach Hause gekommen seien, dort gesehen zu haben und habe sie große Angst bekommen. Sie seien mit dem Auto in der Stadt unterwegs gewesen, da habe sie das Gefühl gehabt einen Mann schon früher gesehen zu haben. Sie sei sich aber nicht 100% sicher. Ihre Töchter hätten den Mann nicht gesehen, sie habe es ihnen nicht gesagt, um sie nicht einzuschüchtern.
Zu ihrem Fluchtgrund befragt, führte die BF zusammengefasst aus, dass ihr Sohn – welcher in XXXX gelebt habe – ihr am Telefon erzählt habe, dass er geschäftlich nach XXXX fahre und sie danach besuchen werde. Der Sohn sei nach 4 Tagen gekommen und habe sich in einem schlechten Gesundheitszustand befunden. In der Nacht sei es ihm so schlecht gegangen, dass sie die Rettung verständigt hätte und er ins Spital gebracht worden sei, wo er stationär aufhältig gewesen sei. Als der Sohn gespürt habe, dass es ihm ganz schlecht gehe, habe er ihr erzählt, dass er bei der Kadyrow-Gruppe dabei sei, zu einer Abteilung nach XXXX gefahren sei und dort – in einem Hotel - jemanden von der Hochschule getroffen habe. Im Hotel hätten sie Kaffee bestellt, nachdem der Sohn diesen getrunken habe, habe er sich nicht gut gefühlt und sich unter die Dusche gestellt. Danach sei sein Auto und die Schlüssel weggewesen. Ihr Sohn habe ihr gesagt, dass er wahrscheinlich vergiftet worden sei. Die Analysen (Blut, Harn) hätten nichts ergeben, er habe nur hohes Fieber gehabt und sei nach 10 Tagen verstorben. Zwei Wochen nach dem Begräbnis des Sohnes seien Leute mit zwei Autos gekommen und hätten nach dem Auto des Sohnes gefragt. Sie habe den Leuten mitgeteilt, dass ihr Sohn ohne Auto gekommen sei und sie nicht wisse, wo es sei. Die BF wisse nicht, was man gesucht habe, aber die Leute hätten angenommen, dass sie es haben würden. Sie hätten gesagt, dass sie es nicht wissen würden. Die Leute seien – viele Male bzw. jede Woche, manchmal 2 Mal die Woche - wiedergekommen und hätten jedes Mal etwas gesucht. Zuvor hätten jemand auch am Telefon des Sohnes angerufen und habe nach ihm gefragt, wobei ihre Tochter gesagt habe, dass der Sohn verstorben sei. Das letzte Mal seien die Männer vor Weihnachten 2015 gekommen.
Genauer zu den Leuten befragt, gab die BF an, sie wisse nicht, wer sie seien. Diese hätten keine Namen genannt. Sie habe eine Anzeige bei der Polizei erstattet, auch dort habe sie gesagt, deren Namen nicht zu kennen. Eine Anzeigenbestätigung habe sie nicht. Betreffend deren Namen habe sie auch nicht nachgefragt. Diese hätten aber gesagt, dass sie mit ihrem Sohn zusammengearbeitet hätten, da habe sie gewusst, dass es besser sei nicht zu fragen. Befragt, was die Leute gesucht hätten, führte die BF aus, dies nicht zu wissen. Die Leute hätten gesagt, dass ihr Sohn Geld und einen „Stick“ zurückgeben solle. Aber das Auto sei ja weg gewesen und darum habe sie gesagt, dass sie nichts davon wisse. Was auf dem Stick sei, wisse sie nicht und habe sie auch nicht gefragt. Zum genauen Ablauf der Besuche gefragt, gab die BF an, man habe zuerst „nicht grob“, dann „eher grob“ mit ihr gesprochen. Sie hätten an der Tür geklingelt, dann hätten sie aufgemacht und versucht zu erklären, dass sie nichts wissen würden bzw. selbst Opfer seien, da der Sohn vergiftet worden sei. Man habe ihnen vorgeworfen, darüber Bescheid zu wissen, mit wem sich der Sohn getroffen habe. Es sei ein Mann gewesen, mit dem der Sohn die Ausbildung gemacht habe. Im Telefon des Sohnes sei der Mann als „ XXXX “ gespeichert gewesen. Die BF habe gesagt, dass sie nicht wisse, wie der Mann heiße und habe sie den Leuten auch das Telefon des Sohnes gezeigt und ihnen erklärt, dass dort nur die 3 Buchstaben stehen würden. Die Leute hätten gesagt, dass ihr Sohn für das Geld und den Stick die Verantwortung gehabt habe und hätten gefordert, dass sie das Auto samt Inhalt zurückgeben sollen.
Befragt, ob es bei den Besuchen bei Gesprächen geblieben sei, gab die BF an, sie sei ausgereist, als diese begonnen hätten, Gewalt anzuwenden. Ihre ältere Tochter habe in XXXX gearbeitet, das Kind sei im Kindergarten gewesen. Die Erzieherin habe angerufen und gemeint, dass jemand das Kind holen hätte wollen. Die Tochter habe Angst bekommen, weil es niemanden gegeben habe, der das Kind holen hätte können. Die Tochter sei dann zu ihr gekommen. Weiters gab die BF – nach Befragung - an, sie habe nach dem Tod des Sohnes mit ihren Töchtern in ihrer eigenen Wohnung in einem Haushalt gelebt.
Befragt, ob sie die Männer beschreiben könne, führte die BF aus, diese seien – so wie ihr Sohn – etwa ein 1,90m groß und kräftig gewesen. Manche von den Leuten hätten einen Bart gehabt. Einer sei mehrere Male zu ihnen gekommen. Die Leute seien zu zweit oder zu dritt gekommen. Es seien immer andere gewesen, aber einer habe wie der Sohn ausgesehen, deswegen habe sie sich ihn gemerkt.
Befragt, ob es nach ihrer Rückkehr von Österreich in die Russische Föderation weitere Vorfälle gegeben habe, gab die BF an, die Leuten seien - als sie erfahren hätten, dass sie wieder da seien - wiedergekommen und seien gewalttätig gewesen.
Zu ihrem Leben in Österreich führte die BF aus, sie habe eine österreichische Familie von der katholischen Kirche kennengelernt, diese würde sie oft besuchen kommen. Zudem habe sie Freunde aus Armenien und Georgien, welche sie im Quartier kennengelernt habe. Zu integrativen Schritten befragt, gab die BF an, sie würde die Sprache lernen, aber es falle ihr schwer, da sie im Krankenhaus gewesen sei, operiert worden sei und Chemo erhalten habe. Sie lebe mit ihren Töchtern und der Enkeltochter gemeinsam in einer Unterkunft. Nach einer Mitgliedschaft in Vereinen oder einer Organisation befragt, führte die BF aus, sie gehe in die Kirche, sonst nichts. Sie mache den Haushalt, Hobbys habe sie nicht. Befragt, wie sie sich ihr weiteres Leben in Österreich vorstelle, gab die BF an, sie wolle gesund werden und wolle sie - weil sie Konditorin sei - wieder Torten backen. Dies habe sie sich selbst beigebracht. In XXXX habe sie eine Bäckerei gehabt und selbst Torten gemacht. Nach dem Tod des Sohnes habe sie die Bäckerei aufgegeben.
Im Zuge der Einvernahme legte die BF folgende Unterlagen vor:
- Diverse medizinische Unterlagen und Befunde (Röntgen- und Mammographie-Befunde sowie Patientenbriefe aus den Jahren 2017-2019);
- Russische Sterbeurkunde des Mannes (gestorben XXXX in XXXX , ausgestellt am XXXX , es wird kein Grund angeführt);
- Russische Sterbeurkunde des Sohnes (gestorben am XXXX in XXXX , ausgestellt am XXXX , es wird kein Grund angeführt);
- Mitgliedsbestätigung einer evangelischen Kirchengemeinschaft (Pfingstbewegung);
- Auszeichnung des Sohnes der Hochschule des Innenministeriums der Russischen Föderation vom 08.09.2003.
3.2. Mit gegenständlichen Bescheid vom 26.06.2019 wies das BFA den Antrag der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 idgF, sowie bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz ab (Spruchpunkt I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Absatz 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Asylstatus führte das BFA aus, dass die BF keine genauen Angaben über die Bedroher (Männer) in der Russischen Föderation machen habe können. Sie habe weder gewusst, wer die Männer seien, noch woher sie stammen würden oder was sie genau gesucht hätten. Es sei äußerst unglaubwürdig, dass jemand, der drei Jahre lang, jede Woche Besuch von unbekannten Männern bekommt, sich nicht darüber informiert, wer die Männer seien oder zu was für einer Organisation diese gehören würden. Die BF habe im Laufe der Einvernahme bzw. nach der Rückübersetzung ihre Angaben auch stets mit neuen Details ergänzt und zudem keine Bestätigung betreffend die Anzeige bei der Polizei vorlegen können. Ihre Angaben seien höchst vage und unkonkret geblieben. Weiters sei die BF von Österreich freiwillig in die Russische Föderation zurückgereist, bevor sie dann erneut nach Österreich gekommen sei. Laut ihren eigenen Angaben habe sie weder bei der Aus- noch bei der Einreise nach Russland Probleme gehabt. Es sei weiters nicht glaubwürdig bzw. nachvollziehbar, dass die Männer auch nach der Rückkehr nach Russland erneut zur BF gekommen seien und dann plötzlich gewalttägig geworden seien. Würden diese Männer tatsächlich dem Kadyrow-Regime angehören, dann sei zu erwarten, dass diese die ausgesprochenen Sanktionen auch wirksam umsetzen würden. Das Vorbringen der BF sei daher insgesamt unlogisch, nicht nachvollziehbar und völlig unglaubwürdig.
Zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten wurde ausgeführt, dass die BF arbeitswillig und –fähig sei, über langjährige Schulbildung verfüge und in der Vergangenheit in verschiedenen Branchen Berufserfahrung gesammelt habe. Sie verfüge in Russland nach wie vor über familiäre Beziehungen, zumal sie dort mit ihrem Bruder und ihrer Halbschwester in Kontakt stehe. Sie habe den Großteil ihres Lebens in Russland verbracht, es sei ihr zuzumuten durch eigene Arbeitsleistung und eventuell mit Unterstützung der Angehörigen ihren Lebensunterhalt zu sichern. Selbst wenn sie aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mehr dazu in der Lage sein sollte, einer Arbeit nachzugehen, könne sie auf Unterstützung der Angehörigen bauen. Eine medizinische Versorgung für ihre Leiden sei in Russland gewährleistet, Medikamente gegen Krebs seien teilweise kostenlose erhältlich. Auch ihre anderen Beschwerden würden in Russland behandelt werden können.
Hinsichtlich der Rückkehrentscheidung kam die belangte Behörde zum Schluss, dass die öffentlichen Interessen an der Ausreise der BF gegenüber den persönlichen Interessen überwiegen würden und nicht von einer umfassenden Integration ausgegangen werden könne.
Ebenso wurden mit Bescheiden des BFA vom 26.06.2019 die Anträge der beiden Töchter und der Enkeltochter hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten sowie der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Es wurden Rückkehrentscheidungen erlassen, eine Abschiebung in die Russische Föderation als zulässig erachtet und eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.
3.3. Gegen diesen Bescheid brachte die BF – wie auch ihre Angehörigen - fristgerecht eine vollumfassende und gleichlautende Beschwerde ein, worin nach Wiederholung des Verfahrensganges/der Fluchtgründe, zusammengefasst ausgeführt wurde, dass die BF ihre Heimat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hätten. Die Sicherheitsbehörden der Russischen Föderation seien nicht gewillt bzw. nicht imstande, den BF den notwendigen Schutz zu bieten. Es stehe auch keine IFA in zur Verfügung. Weiters wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass Frauen in Russland Diskriminierung (z.B. am Arbeitsplatz) ausgesetzt seien und eine geringere Pension bekommen würden. Die Fluchtgründe seien schlüssig, ausführlich und glaubhaft angegeben worden und habe eine Angst vor der Rückkehr glaubhaft gemacht werden können. Weiters gehe aus dem LIB zur Sicherheitslage in Russland hervor, dass in der Heimatrepublik (dem Nordkaukasus) die Situation der Frauen, insbesondere der alleinstehenden Frauen äußerst problematisch sei. Für alleinstehende Frauen bestehe ein größeres Risiko Opfer eines Verbrechens zu werden. Im Falle einer Rückkehr könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Lebensgrundlage gesichert sei. Zudem sei eine Rückkehr als Mutter (ohne Ehemann) im konservativen Gesellschaftsbild nicht akzeptabel und könnten die staatlichen Behörden keine ausreichende Unterstützung bieten. Die BF würden niemanden haben, der sie unterstützen könnte. Die Behörde habe nicht erhoben bzw. nicht festgestellt, ob bei einer Rückkehr eine Unterstützung durch die Angehörigen tatsächlich möglich sei. Bei einer Rückkehr sei daher von einer Notlage entsprechend Art. 2, 3 EMRK auszugehen. Auch würden sich die BF um eine Integration in Österreich bemühen, weshalb eine Rückkehrentscheidung gegen Art. 8 EMRK verstoßen würde.
3.4. Am 06.08.2019 brachte die BF eine Ambulanzkarte einer Neurochirurgischen Ambulanz vom 31.07.2019, ein ärztliches Attest vom 02.08.2019 (samt Aufzählung ihrer aktuellen Diagnosen) sowie einen Bericht des Unterkunftgebers über die BF und ihre Familie in Vorlage.
3.5. Mit 02.09.2019 wurde ein Patientenvormerkblatt einer klinischen Abteilung für Orthopädie vorgelegt, wonach die BF am 19.09.2019 stationär aufgenommen und operiert werde.
3.6. Im Zuge einer Beschwerdeverhandlung vom 15.06.2021 wurden die BF und ihre beiden Töchter durch das erkennende Gericht nochmals ergänzend zu ihren Fluchtgründen, ihren Rückkehrbefürchtungen und ihrer Integration in Österreich befragt.
3.7. Am 16.06.2021 wurden für die BF folgende Unterlagen vorgelegt:
- Bestätigung betreffend eine ambulante Kontrolle in einer klinischen Abteilung für Onkologie am 24.06.2021;
- diverse CT- und Röntgenbefunde betreffend die LWS (zuletzt von Mai 2021);
- Fachärztlicher Befund eines psychosozialen Zentrums vom 31.05.2021, wonach die psychiatrischen Diagnosen „F33.2.-Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, F43.1-Posttraumatische Belastungsstörung“ erstellt wird. Als aktuelle Medikation werden Paroxat Hexal 20 mg und Mirtazapin G.L. 15mg angeführt;
- Patientenbrief, wonach bei der BF am 02.07.2020 eine Decompression L3-5 durchgeführt wurde;
- Konvolut an diversen Patientenbriefen und Befunden (aus den Jahren 2017-2019) betreffend die durchgeführten Maßnahmen/Behandlungen hinsichtlich der orthopädischen Probleme sowie der Brustkrebserkrankung.
3.8. Am 07.07.2021 legte die BF ein Schreiben ihrer Wohneinrichtung vor, wonach sie wegen ihrer psychiatrischen Diagnosen einen Sonderbetreuungsbedarf aufweise und wegen ihres gesundheitlichen Zustandes verhältnismäßig auf mehr Unterstützung und Betreuung in ihrer Lebens- und Alltagsbewältigung angewiesen sei. Zudem nehme die BF an regelmäßigen Behandlungsterminen (psychologischen Gesprächen) im Haus teil.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat nach Durchführung einer Beschwerdeverhandlung wie folgt erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Feststellungen zur Person der BF, ihrem Reiseweg und den durchgeführten Dublinverfahren:
Die BF ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehört der Volksgruppe der Osseten an und bekennt sich zum christlich-orthodoxen Glauben.
Die Identität der BF steht mangels der Vorlage eines russischen Identitätsdokumentes nicht zweifelsfrei fest.
Die BF (sowie ihre beiden Töchter und ihre minderjährige Enkeltochter) reisten im Dezember 2015 in Besitz von tschechischen Schengenvisa (legal) nach Tschechien, hielten sich dort wenige Tage lang auf und reisten in weiterer Folge, nachdem sie dort ihre Reisepässe zerstört haben, weiter nach Österreich, wo sie am 31.12.2015 einen (ersten) Antrag auf internationalen Schutz stellten.
Mit Bescheid des BFA vom 08.04.2016 wurde dieser erste Antrag der BF auf internationalen Schutz – ebenso wie die Anträge ihrer Angehörigen – ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Tschechien gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrages zuständig ist (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG eine Abschiebung nach Tschechien zulässig ist (Spruchpunkt II.). Mangels Erhebung eines Rechtsmittels erwuchs dieser Bescheid vom 08.04.2016 in Rechtskraft.
Ende April 2016 hat die BF - gemeinsam mit ihren beiden Töchtern und der minderjährigen Enkeltochter – freiwillig das österreichische Bundesgebiet verlassen und ist in die Russische Föderation zurückgekehrt, wo sie sich bis 12.12.2016 in XXXX bei einer Freundin aufgehalten hat. Danach reiste die BF mit ihren Angehörigen erneut nach Europa bzw. nach Österreich ein und stellten die BF und ihre Angehörige am 15.12.2016 einen weiteren (zweiten Antrag) auf internationalen Schutz in Österreich.
Mit Bescheid vom 24.05.2017 wurde der zweite Antrag der BF auf internationalen Schutz – ebenso wie die Anträge ihrer Angehörigen – ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Tschechien gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG eine Abschiebung nach Tschechien zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gegen diesen Bescheid erhob die BF (ebenso wie ihre Angehörigen) fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.
Nachdem das BVwG mit Beschluss vom 03.07.2017 der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannte, wurde der Beschwerde mit Beschluss des BVwG vom 28.03.2018 gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben, wobei die Angehörigen der BF gleichlautende Entscheidungen erhielten.
Nach Durchführung weiterer Ermittlungen wurde mit Bescheid des BFA vom 19.06.2018 der zweite Antrag der BF auf internationalen Schutz erneut ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Tschechien gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG eine Abschiebung nach Tschechien zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gegen diesen Bescheid erhob die BF – sowie ihre Angehörigen, die gleichlautende Entscheidungen erhalten hatten - fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.
Mit Beschluss des BVwG vom 02.08.2018 wurde der Beschwerde gemäß § 17 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt und mit weiterem Beschluss des BVwG vom 10.08.2018 der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückverwiesen.
Ebenso wurden mit Beschlüssen des BVwG vom 10.08.2018 die bekämpften Bescheide der beiden Töchter und der Enkeltochter der BF behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung von neuen Bescheiden an das BFA zurückverwiesen.
In weiterer Folge wurde das Verfahren vom BFA zugelassen, eine Einvernahme zu den Fluchtgründen der BF durchgeführt und der zweite Antrag auf internationalen Schutz mit gegenständlichem Bescheid vom 26.06.2019 hinsichtlich der Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten sowie der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen, eine Abschiebung in die Russische Föderation als zulässig erachtet und eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt. Die beiden Töchter sowie die Enkeltochter der BF erhielten gleichlautende Entscheidungen.
1.2. Zu den Fluchtgründen und einer Rückkehr der BF in den Herkunftsstaat:
Nicht festgestellt werden kann, dass der BF in der Russischen Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende Verfolgung maßgeblicher Intensität – oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität – in der Vergangenheit gedroht hat bzw. aktuell droht.
Nicht festgestellt werden kann, dass die BF im Fall der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation in ihrem Recht auf Leben gefährdet wäre, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen würde oder von der Todesstrafe bedroht wäre.
Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
Die BF wurde in Georgien geboren, lebte aber den Großteil ihres Lebens in der Russischen Föderation ( XXXX ).
Sie ist verwitwet, ihr Mann ist am XXXX in XXXX gestorben. Die genaue Todesursache kann nicht festgestellt werden. Auch ihr Sohn ist bereits verstorben.
Die BF verfügt über eine Schulbildung im Umfang von 11 Jahren und hat zweimal ein Technikum (für Buchhaltung und Handel) abgeschlossen. Sie hat als Buchhalterin, Verkäuferin und Konditorin gearbeitet und hat eine eigene Bäckerei in XXXX betrieben.
Die BF hatte in der Russischen Föderation keine wirtschaftlichen Probleme. Sie ist Eigentümerin von zwei Wohnungen in XXXX und bezieht in der Russischen Föderation nach wie vor eine staatliche Invalidenpension.
In der Russischen Föderation halten sich nach wie vor zahlreiche Verwandte der BF auf. So lebt eine Schwester in XXXX und ein Bruder in XXXX . Weiters leben noch mehrere Verwandte des verstorbenen Ehemannes in der Russischen Föderation.
Bei der BF wurde Brustkrebs diagnostiziert. Sie wurde deshalb in Österreich im Jahr 2017 operiert, wobei ihr das Karzinom entfernt werden konnte. Anschließend wurden bei der BF eine Chemo- sowie eine Strahlentherapie durchgeführt. Der Gesundheitszustand der BF hat sich durch die in Österreich durchgeführte medizinische Behandlung verbessert. Sie nimmt nach wie vor noch Medikamente ein und muss alle 6 Monate eine (Kontroll-) Untersuchung bei einem Onkologen durchführen lassen. Die BF leidet zudem schon seit vielen Jahren an orthopädischen Problemen und ist auch deshalb in Österreich in Behandlung. Sie hat einen Bandscheibenvorfall erlitten, hat Schmerzen in der Wirbelsäule und in den Beinen bzw. in den Knien. Es wurden bereits diverse orthopädische Eingriffe (etwa eine Knie-OP) durchgeführt. Zudem wurde die BF in Österreich am Bauch operiert. Sie nimmt aufgrund der orthopädischen Probleme schmerzstillende Medikamente ein und benötigt zur Fortbewegung derzeit einen Rollator. Bei der BF wurde weiters eine „Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome“ sowie eine „Posttraumatische Belastungsstörung“ diagnostiziert und ihr die Medikamente Paroxat Hexal 20 mg und Mirtazapin 15mg verschrieben. Sie nimmt regelmäßig an psychologischen Gesprächen in der Asylunterkunft teil.
Die BF leidet zwar an diversen gesundheitlichen Problemen, bei ihr liegen gegenwärtig aber keine Krankheiten mehr vor, welche einer Rückkehr in die Russische Föderation entgegenstehen würden. Sie kann die regelmäßigen onkologischen Kontrolluntersuchungen auch in der Russischen Föderation wahrnehmen und sich auch betreffend ihre orthopädischen und psychischen Probleme in der Heimat medizinisch/psychologisch behandeln lassen. Auch die von ihr benötigten Medikamente sind im Heimatland verfügbar.
1.3. Zur Integration der BF:
Die unbescholtene BF und ihre Angehörigen hielten sich – wie bereits oben festgestellt – von Dezember 2015 bis Ende April 2016 (sohin etwa vier Monate) im Bundesgebiet auf. Nach ihrer freiwilligen Ausreise in ihr Heimatland die Russische Föderation reisten sie erneut ins österreichische Bundesgebiet ein, wo sie sich nunmehr seit Mitte Dezember 2016 (sohin seit etwa 4,5 Jahren) durchgängig aufhalten.
Die BF wohnt gemeinsam mit ihren beiden Töchtern sowie der Enkeltochter in einer Asylunterkunft. Ansonsten leben keine Verwandten der BF in Österreich. Die beiden Töchter sowie die Enkeltochter verfügen in Österreich nicht über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht, sondern wird ihr Asylverfahren mit heutigen Tage ebenfalls in allen Spruchpunkten negativ entschieden.
Die BF hat sich während ihres Aufenthaltes in Österreich keine nennenswerten Deutschkenntnisse angeeignet. Sie legte keine Bestätigungen betreffend den Besuch von Deutschkursen oder die Absolvierung von Deutschprüfungen vor. Auch sonst hat die BF keine Ausbildungen im Bundesgebiet absolviert.
Sie ist weder einer legalen Arbeit nachgegangen, noch hat sie ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeübt. Die BF ist nicht selbsterhaltungsfähig, sondern bezieht laufende Leistungen aus der Grundversorgung.
In ihrer Freizeit besucht die BF die Kirche, wo sie Bekanntschaften knüpfen konnte. Dabei handelt es sich aber nicht um enge soziale Kontakte. Ansonsten kümmert sich die BF um den Haushalt. Hobbys hat sie keine.
Eine nachhaltige Integration der BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet kann insgesamt nicht erkannt werden.
1.4. Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat der BF:
1. Politische Lage
Letzte Änderung: 21.07.2020
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
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- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 17.7.2020
- Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020
- Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020
- MDR 16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff 21.7.2020
- ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020
- OSCE/O