TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/13 W196 2236289-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.07.2021
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Entscheidungsdatum

13.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W196 2236289-1/13E

W196 2231583-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. SAHLING als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , beide StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 01.10.2020 zu den Zl. 1.) 1128883809-161229537, und vom 08.05.2020 Zl. 2.) 1128797003-161225595, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführer, Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellten nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 06.09.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 08.09.2016 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Erstbeschwerdeführerin nach dem AsylG 2005 statt. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, dass ihr Sohn XXXX im Jahr 2009 von der russisch-tschetschenischen Polizei getötet worden sei, da er verdächtigt wurde, mit den tschetschenischen Untergrundkämpfern zusammenzuarbeiten. Am 02.09.2009 sei ihr zweiter Sohn XXXX von der russisch-tschetschenischen Polizei verhört und einen Tag festgehalten worden. Nach seiner Freilassung und aus Angst um sein Leben habe sie ihn im Jahr 2010 nach Europa (Belgien) zu Verwandten geschickt, um dort um Asyl anzusuchen. Ihr anderer Sohn XXXX , der Zweitbeschwerdeführer, habe sich im Jahr 2011 nach einem Sturz mit dem Fahrrad den Arm gebrochen. Aufgrund falscher Behandlung sei in Tschetschenien eine Amputation des Armes in Aussicht gestellt worden. Um diese Amputation zu vermeiden, wäre sie mit den Zwillingsgeschwistern XXXX , dem Zweitbeschwerdeführer, und XXXX in die Schweiz gereist, wo nach der Operation der Arm erhalten blieb. Gleichzeitig hätten sie auch um internationalen Schutz angesucht. Im Jahr 2013 sei ihre Nichte XXXX nach Syrien gereist und habe 2015 die IS Führungspersönlichkeit namens „ XXXX “ geheiratet. Nach dieser Heirat sei deren Großfamilie der Sympathie und Unterstützung für die IS-Kämpfer verdächtigt worden. Sie selbst sei oft zur Polizei vorgeladen und dauernd belästigt worden. Durch ihre Reisen nach Syrien, um ihre Nichte zurückzuholen, sei sie der Zusammenarbeit mit dem IS verdächtigt worden. Da sie in Tschetschenien keine Zukunft mehr gesehen hätten und auch die Polizei ihnen mitgeteilt habe, dass sie Tschetschenien verlassen sollten, wären sie mit Hilfe von Freunden ihres verstorbenen Sohnes nach Europa geflohen. Da sie hier in Österreich von der Polizei aufgehalten worden seien, hätten sie hier um internationalen Schutz angesucht. Im Falle einer Rückkehr fürchte sie um ihr und das Leben ihrer Kinder.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 19.04.2017, Zl. XXXX , wurde die Erstbeschwerdeführerin wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127 Abs. 1, 130 Abs. 1 erster Fall, 15 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen.

Am 19.04.2017 wurde der Zweitbeschwerdeführer durch das Landesgericht XXXX , Zl. XXXX wegen §§ 127, 130 (1) 1. Fall StGB § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe (Jugendstrafe) von 2 Monaten, 2 Monate bedingt und einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt.

Am 26.06.2017 erfolgte nach Zulassung der Verfahren der Beschwerdeführer eine niederschriftliche Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.

Dabei gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen an, dass sie in der Russischen Föderation seitdem ihre Nichte im Jahr 2013 nach Syrien ausgereist sei, Probleme bekommen hätten. Über Nachfrage, was ihr Ausreisegrund gewesen sei, gab sie an, zwei Mal in Syrien gewesen zu sein, um ihre Nichte zu holen. Fortan hätten die Probleme begonnen und sie sein einvernommen worden.

Im Zuge der Einvernahme brachte der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst vor, dass sie in der Russischen Föderation Probleme gehabt hätten, weil sein älterer Bruder gestorben und seine Cousine nach Syrien gereist sei, mehr wisse er nicht. Die Frage, ob dies sein einziger Fluchtgrund sei, bejahte der Zweitbeschwerdeführer und erklärte, nicht mehr angeben zu können, als dass das mit seinem Bruder gewesen sei. Zu seinem Vater habe er keinen Kontakt. Der letzte Kontakt wäre vor einem Jahr am Telefon. Im Falle eine Rückkehr fürchte er, dass sie, der Zweitbeschwerdeführer und seine Mutter, die Erstbeschwerdeführerin, dauernd von den Behörden belästigt würden.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 13.02.2018, Zl. XXXX , wurde die Erstbeschwerdeführerin wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs 1 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt.

Die Beschwerdeführer stellten am 24.09.2018 einen Antrag auf freiwillig Rückkehr. Die Erstbeschwerdeführerin kehrte am 24.10.2018 freiwillig in ihr Herkunftsland zurück. Am 30.10.2018 wurde das Asylverfahren der Erstbeschwerdeführerin gem. § 24 Abs 2 AsylG eingestellt. Für den Zweitbeschwerdeführer langte am 18.10.2018 der Widerruf des Antrages auf freiwillige Rückkehr ein.

Mit Beschluss vom 23.11.2018, Zl. 3 Ps 123/18h, wurde der Erstbeschwerdeführerin vom örtlich zuständigen Bezirksgericht die Obsorge für den damals minderjährigen Zweitbeschwerdeführer entzogen.

Am 24.01.2019 und am 14.02.2019 langte eine Abgängigkeitsmitteilungen hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers bei der Behörde ein.

Am 15.02.2019 wurde gegen den Zweitbeschwerdeführer gemäß § 34 Abs. 4 BFA-VG (Entziehung vom Asylverfahren) ein Festnahmeauftrag erlassen. Am 16.02.2019 langte die Mitteilung des BKA-NÖ über die Anhaltung und Rückführung beim Bundesamt ein. Am 21.02.2019 entfernten sich der Zweitbeschwerdeführer erneut aus der UMF-Unterkunft, ohne Angabe seines nunmehrigen ordentlichen Aufenthaltsortes im Bundesgebiet. Am 14.03.2019 wurde sein Asylverfahren gem. § 24 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AsylG eingestellt.

Die Erstbeschwerdeführerin reiste neuerlich in das Bundesgebiet ein und stellte sie, und auch der Zweitbeschwerdeführer, am 08.08.2019 erneut einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Am 30.08.2019 wurde die Erstbeschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie zunächst an, dass ihre Angaben auch für den Zweitbeschwerdeführer gelten würden. Zu ihrer freiwilligen Rückkehr befragt, gab sie an, dass sie glaublich im September 2018, gemeinsam mit ihrer Tochter ausgereist und zurück in die Russische Föderation gereist seien. Am 05.07.2019 habe sie Grosny glaublich wieder verlassen. Während 24.10.2018 und ihrer Einreise nach Österreich am 08.08.2019 habe sie sich in Grosny aufgehalten und bei ihrer Schwägerin in einem Privathaus gelebt. Befragt, warum sie die Russische Föderation verlassen habe, gab sie an, wegen ihrer Tochter ihr Herkunftsland verlassen zu haben. Eigene Gründe habe sie nicht. Zudem sei ihre Nichte nach Syrien geflohen, weshalb sie immer unter Beobachtung der Behörden gestanden sei. Es wären immer Militärleute bei ihnen und hätten sie befragt, wer hier wohne und dergleichen, auch Telefonnummern hätten sie aufgeschrieben. Im Februar, am 20. oder 21.02.2019 sei ihre Tochter einkaufen gegangen und wäre dort über 40 Minuten. Sie sei nicht zurückgekommen. Sie habe sich Sorgen gemacht und habe erfahren, dass sie von zwei Männer im schwarzen Auto mitgenommen worden sei und sie auf der Polizeistation befragt hätten. Sie hätten sie mitunter über Onkel und Bruder gefragt.

Am 04.12.2019 wurde die Erstbeschwerdeführerin ein weiteres Mal vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie zusammengefasst an, nicht nach Tschetschenien zurückzukönnen, da ihre Kinder hier wären und ein Ausbildung bekämen. Sie wolle nur hierbleiben, wo ihre Kinder seien.

Mit Bescheid der EASt Ost vom 19.12.2019, Zl. 1128883809/161229537, wurde der Antrag der Erstbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom 06.09.2016 zurückgewiesen, die Zuständigkeit Deutschlands festgestellt und eine Anordnung zur Außerlandesbringung erlassen. Die Zulässigkeit ihrer Abschiebung nach Deutschland wurde festgestellt.

Dagegen erhob die Erstbeschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, das mit Beschluss vom 14.01.2020, Zl. W185 2227386-1, die aufschiebende Wirkung zuerkannte und mit Erkenntnis vom 24.06.2020, Zl. W243 2227386-1, der Beschwerde stattgab, das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz zuließ und den bekämpften Bescheid behob.

Daraufhin wurde die Erstbeschwerdeführerin am 10.08.2020 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erneut zu einer niederschriftlichen Einvernahme geladen. Dabei wurden in der Handtasche (unter anderem) Diebstahlswerkzeug sowie mehrere Diebstahlssicherungen entdeckt.

Am 16.09.2020 wurde die Erstbeschwerdeführerin vom zur Entscheidung berufenen Organwalter im Beisein eines geeigneten Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen. Dabei bezog sie sich im Wesentlichen darauf, dass ihre Nichte im Jahr 2013 nach Syrien geflohen sei und seither die Probleme begonnen hätten. Sie sei zweimal in Syrien gewesen, um ihre Nichte zurückzuholen. Als sie zurückgekehrt sei, sei sie sehr oft von den Behörden vorgeladen und verhört worden. Sie habe in ständiger Angst gelebt und Kadyrov habe ihren Bruder verhaften lassen. Mit so einer Entlassung, könne er nirgends in Russland arbeiten, es wurde gesagt, dass dessen Tochter eine Terroristin sei. Dann sei ihre gesamte Familie aus Tschetschenien geflohen. So wären sie hier hergekommen. Sie hätten folglich Asylanträge gestellt und seien nach Mistelbach verlegt worden, wo ihre Tochter einen Afghanen kennengelernt habe. Er habe sie öfters besucht und Süßigkeiten sowie Geschenke gebracht. Zwei bis drei Wochen später habe er sie zu McDonalds nach Floridsdorf eingeladen. Beim McDolands sagte er zu ihr, sie solle woanders hingehen, es seien hier zu viele Tschetschenen. Er sagte, er schwöre bei Allah, er würde sie nicht anrühren. Dann habe er sie in eine Wohnung gebracht und vergewaltigt. Sie wäre damals 16. Jahre alt gewesen. Aufgrund der Vergewaltigung ihrer Tochter und weiterer Drohungen durch Afghanen wären sie in die Heimat zurückgereist. Ihr Exmann habe von der Vergewaltigung erfahren und gesagt, dass dies eine Schande sei und dass die Tochter umgebracht werden solle, auch sie, die Erstbeschwerdeführerin, solle umgebracht werden, da sie sich hier mit einem Mann getroffen habe. Ihr Exmann habe hier einen Freund mit dem sie sich hin und wieder treffe. Aus Angst, umgebracht zu werden, sei sie mit ihrer Tochter wieder geflüchtet. Über Nachfrage gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass es sich um jene Tochter handle, die in Tschetschenien mit einem Soldaten verheiratet und nach wie vor in Tschetschenien aufhältig sei.

Am 17.09.2019 und am 03.03.2020 wurde der Zweitbeschwerdeführer niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass seine Mutter immer wieder durch das Militär verhört worden sei. Sie hätten geglaubt, dass er auch verhört werden würde und dass man ihn auch nicht in Ruhe lassen würde. Ein Unschuldiger könne dort festgenommen werden und die Behörden würden sagen, dass er ein Kämpfer wäre. Seine Mutter habe beschlossen, dass sie hier herkämen, um ein ruhiges Leben zu führen. Sein älterer Bruder sei getötet worden, weil er angeblich den Widerstandskämpfern Lebensmittel gebracht hätte. Aus diesen Gründen habe er Angst um sein weiteres Leben dort. Er habe auch Angst, dass mit seiner Mutter etwas passieren könne. Seine Mutter sei sogar nach Syrien gereist, um seine Cousine zurückzuholen. Die Kämpfer in Syrien hätten gesagt, dass sie seine Mutter erschießen würden, wenn sie seine Cousine nur anrühren würden. Wegen seiner Cousine seien immer wieder Behördenvertreten zu ihnen gekommen. Nachdem sein ältester Bruder getötet worden sei, habe seine Mutter seinen Bruder nach London geschickt. Der wäre zuerst in Belgien und sei dann nach London gegangen. Er befürchte, dass ihn seine Verwandten väterlicherseits töten könnten, weil er nicht auf seine Schwester aufgepasst und Schande für die Familie gebracht habe. Er wolle hinzufügen, dass das Oberhaupt der Republik ein gutes Leben führe, aber nicht das einfache Volk.

Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und die Anträge gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russischen Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihnrn gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen die Beschwerdeführer jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.) Im Fall der Erstbeschwerdeführerin wurde gemäß § 53 Absatz 1 iVm Abs. 2 Ziffer 6 und Ziffer 7, Abs. 3 Ziffer 1 FPG gegen sie ein auf die Dauer von 7 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wesentlichen aus, dass nicht festgestellt werden könne, dass die Beschwerdeführer aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Gründen verfolgt würden. Sie hätte ihren Herkunftsstaat aus ausschließlich persönlichen und asylfremden, nämlich wirtschaftlichen, Motiven verlassen. Im Falle der Erstbeschwerdeführerin handle es sich um eine gesunde Frau mittleren Alters, die in der Lage sei, durch Arbeit selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie habe in ihrer Heimat zehn Jahre schulische Ausbildung genossen und eine Berufsausbildung als Köchin abgeschlossen. Sie verfüge auch über Arbeitserfahrung als Köchin. Abgesehen von ihrem Sohn, dem Zweitbeschwerdeführer, verfüge sie über keine Angehörigen in Österreich. In Deutschland halte sich neben ihrer Tochter auch eine Schwester auf. In Großbritannien verfüge sie über einen Sohn. Private Kontakte im Bundesgebiet seien nicht vorliegend. Insbesondere liege auch keine besondere Integration in die österreichische Gesellschaft vor. In Tschetschenien lebe eine ihrer Töchter. Die zweite Tochter halte sich in Deutschland als Asylwerberin auf. Zum Einreiseverbot der Erstbeschwerdeführerin wurde festgehalten, dass sie zwei Mal von österreichischen Strafgerichten verurteilt und auch in der Schweiz nachteilig in Erscheinung getreten sei. Darüber hinaus würden im Akt zahlreiche polizeiliche Meldungen und Berichte, deren Grundlage Gewalt in der Familie zum Nachteil ihrer Tochter wäre, aufliegen. Im Übrigen sei sie als mittellos anzusehen und habe den gegenständlichen Asylantrag ausschließlich aus asylfremden Motiven, sohin rechtsmissbräuchlich, gestellt. Des Weiteren sei sie der Schwarzarbeit nachgegangen. Die Fortsetzung ihres Aufenthalts bedeute aus Sicht des erkennenden Bundesamtes eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, welcher ausschließlich mit der Verhängung eines mehrjährigen Einreiseverbots wirksam begegnet werden könne.

Im Rahmen des Bescheides des Zweitbeschwerdeführers wurde moniert, dass die von ihm angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes, nämlich seine Ausführungen in Bezug auf die Verfolgung durch staatliche Stellen im Heimatland, seiner Mutter wegen unterstellten Verbindungen seiner Cousine mit dem IS, nicht hätten glaubhaft festgestellt werden können. Sie hatten niemals Probleme mit den staatlichen Behörden Tschetscheniens. Er werde in der Russischen Föderation/ Tschetschenien nicht aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt. Er habe weder aufgrund seiner Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit noch aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe Probleme in Tschetschenien. Es könne sohin nicht festgestellt werden, dass er in der Russischen Föderation/ Tschetschenien konkreten, seine Person betreffenden Verfolgungshandlungen ausgesetzt wäre oder solche für die Zukunft zu befürchten seien. Glaubhaft sei, dass er im Familienverband nach Europa gereist sei in der Hoffnung auf eine wirtschaftliche Verbesserung. Ihm drohe aufgrund seiner Ausreise, seiner Asylantragstellung in Österreich oder anderer Umstände, die sich außerhalb des Herkunftsstaates ereignet hätten, keine Verfolgung. Es könne nicht festgestellt werden, dass den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einem realen Risiko einer ernsthaften Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt bzw. der Gefährdung des Lebens, Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären oder der Gefahr ausgesetzt wären, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten. Eine Rückkehr in die Russische Föderation werde ihnen zugemutet.

Mit Schriftsatz 22.05.2020 vom 16.10.2020 und wurde durch die Beschwerdeführer Beschwerde erhoben. In dieser wurden die erstinstanzlichen Bescheide unter näherer Begründung wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung aufgrund Feststellungs- und Begründungsmängeln im vollen Umfang angefochten. Verwiesen wurde im Wesentlichen darauf, dass deren gesamte Familie verfolgt werde, weil alle Medien in der Russischen Föderation und in der Türkei über die gesamte XXXX Familie berichtet hätten. Nach Meinung der Beschwerdeführer handle es sich in ihrem Fall um eine asylrelevante Verfolgung, sodass die belangte Behörde zum Schluss hätte kommen müssen, ihnen den internationalen Schutz zu gewähren. Die belangte Behörde habe gegenüber der Erstbeschwerdeführerin ein siebenjähriges Einreiseverbot erlassen und dies mit der Mittellosigkeit und ihren Straftaten begründet. Entgegenzuhalten sei, dass die Erstbeschwerdeführerin im Zulassungsverfahren als Asylwerberin keiner legalen Arbeit nachgehen dürfe, weshalb ihr die Mittellosigkeit nicht vorgeworfen werden dürfe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerden gegen die angefochtenen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen und zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Die Identität der Beschwerdeführer steht fest. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter des mittlerweile volljährigen Zweitbeschwerdeführers. Sie sind gemeinsam in das Bundesgebiet eingereist. Sie sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehöre der Volksgruppe der Tschetschenen an und sind Sunniten. Sie stammen aus Grozny, wo sie bis vor ihrer Ausreise gelebt haben.

Die Beschwerdeführer sprechen Tschetschenisch auf muttersprachlichem Niveau, Russisch und ein wenig Deutsch.

Die Erstbeschwerdeführerin ist seit elf Jahren nach islamischem Ritus von ihrem Exgatten geschieden. Die Erstbeschwerdeführerin hat vier volljährige Kinder. Die Erstbeschwerdeführerin besuchte zehn Jahre die Schule, sie arbeitete vor ihrer Ausreise als Köchin.

Der Zweitbeschwerdeführer hat acht Jahre lang die Schule besucht.

Die Beschwerdeführer sind arbeitsfähig. Der Zweitbeschwerdeführer ist ledig und hat keine Obsorgeverpflichtungen.

Die Beschwerdeführer leiden an keinen schwerwiegenden Erkrankungen. Der Zweitbeschwerdeführer leidet an PTBS; F 43.1. Er nimmt Medikamente, Seroquel 25 mg und Sertralin 50 mg; es besteht kein Behandlungsbedarf aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Die Verfügbarkeit von Medikamenten sind in der Russischen Föderation verfügbar.

In der Russischen Föderation verfügen die Beschwerdeführer über Familienangehörige und weitere Verwandte. Eine Tochter der Erstbeschwerdeführerin ist verheiratet und lebt in Tschetschenien. Es besteht Kontakt.

Die Beschwerdeführer wurden im Bundesgebiet straffällig:

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 19.04.2017, Zl. XXXX , wurde die Erstbeschwerdeführerin wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127 Abs 1, 130 Abs 1 erster Fall, 15 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von sechs Monaten verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 13.02.2018, Zl. XXXX , wurde die Erstbeschwerdeführerin nach §§ 127 Abs 1, 130 Abs. 1 erster Fall, 15 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 15 Monaten verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 19.04.2017, Zl. XXXX wurde der Zweitbeschwerdeführer wegen §§ 127, 130 (1) 1. Fall StGB § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe (Jugendstrafe) von 2 Monaten, 2 Monate bedingt und einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt.

Der Zweitbeschwerdeführer hat seine Mitwirkungspflicht verletzt.

Die Beschwerdeführer stellten am 06.09.2016 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, die Verfahren wurden nicht abgeschlossen.

Die Beschwerdeführer stellten am 24.09.2018 einen Antrag auf freiwillig Rückkehr. Die Erstbeschwerdeführerin kehrte am 24.10.2018 freiwillig in ihr Herkunftsland zurück. Am 30.10.2018 wurde das Asylverfahren der Erstbeschwerdeführerin gem. § 24 Abs 2 AsylG eingestellt. Für den Zweitbeschwerdeführer langte am 18.10.2018 der Widerruf des Antrages auf freiwillige Rückkehr ein. Am 14.03.2019 wurde sein Asylverfahren gem. § 24 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AsylG eingestellt. Die Erstbeschwerdeführerin hat sich im Zeitraum von Oktober 2018 bis ca. August 2019 bei ihrer Schwägerin in Grozny aufgehalten.

Die Obsorge des damals minderjährige Zweitbeschwerdeführers wurde mit 18.10.2018 von der Jugendwohlfahrt übernommen. Von 14.03.2019 bis 08.08.2019 war sein Aufenthalt unbekannt, doch wurde das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von ihm jedenfalls nicht wieder verlassen.

Die Erstbeschwerdeführerin reiste neuerlich in das Bundesgebiet ein und stellte sie und auch der Zweitbeschwerdeführer am 08.08.2019 erneut einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Die Beschwerdeführer befinden sich seither gemeinsam in einer Betreuungsstelle; sie leben im gemeinsamen Haushalt. In Österreich beziehen die Beschwerdeführer Grundversorgung. Die Beschwerdeführer sind nicht selbsterhaltungsfähig. In Österreich verfügen sie über keine familiären Anknüpfungspunkte.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer ihre Heimat aufgrund asylrelevanter Verfolgung verlassen haben.

Die Beschwerdeführer wären im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation nicht gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden oder von der Todesstrafe bedroht. Sie würden auch nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten und wäre ihm nicht die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation:

Sicherheitslage

Politische Lage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 2.2020c, vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 2.2020a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 2.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der [derzeitigen] Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt (GIZ 2.2020a). Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten:

Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c).

Im Jänner 2020 kündigte Präsident Putin bei seiner Neujahrsrede Verfassungsänderungen an. Daraufhin trat die Regierung unter Ministerpräsident Medwedew zurück (Spiegel Online 15.1.2020). Kurz darauf wurde Putins Kandidat Michail Mischustin, der zehn Jahre lang Leiter der russischen Steuerbehörde war, von der Duma zum neuen Ministerpräsident gewählt (Spiegel Online 16.1.2020). Dmitrij Medwedew wird Vizevorsitzender im Sicherheitsrat. Die angestrebte Verfassungsänderung ist ein umfangreicher Maßnahmenkatalog, bei dem es sich laut Putin um von der Gesellschaft geforderte Veränderungen handelt (Spiegel Online 15.1.2020). Das Volk wird über die Verfassungsänderungen abstimmen, um diese zu legitimieren (NZZ 19.3.2020), jedoch wird die Abstimmung aufgrund der Corona-Pandemie vom geplanten Termin im April nach hinten verschoben (ORF.at 25.3.2020). Vorgesehen ist nicht nur eine Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten. Putin soll nach einem Votum der Abgeordneten auch die Möglichkeit haben, sich noch einmal für maximal zwei Amtszeiten zu bewerben – er könnte also bei Wiederwahl bis 2036 im Amt bleiben. Nach bisheriger Verfassung könnte er 2024 nicht mehr antreten. Kritiker und Oppositionelle werfen Putin einen Staatsstreich vor. Das Verfassungsgericht hat den Änderungen bereits zugestimmt (NZZ 19.3.2020).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 2.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016, vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht infrage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 2.2020a, vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 2.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 2.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019).

Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710, Zugriff 10.3.2020

-        CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 10.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 10.3.2020

-        Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020

-        Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (19.3.2020): Putin hält trotz Coronavirus-Krise an der Verfassungsabstimmung fest, https://www.nzz.ch/international/coronavirus-in-russland-krise-ueberschattet-verfassungsabstimmung-ld.1547213, Zugriff 26.3.2020

-        ORF.at (25.3.2020): Putin verschiebt Abstimmung über Verfassungsänderung, https://orf.at/stories/3159340/, Zugriff 26.3.2020

-        ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020

-        OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020

-        Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020

-        RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020

-        Spiegel Online (15.1.2020): Putins Operation Machterhalt, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-putins-operation-machterhalt-a-aafe31f8-54b2-4d38-9bf4-6e613e586b96, Zugriff 2.3.2020

-        Spiegel Online (16.1.2020): Michail Mischustin ist neuer Premierminister Russlands, https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-michail-mischustin-ist-neuer-premierminister-a-1b3bd2eb-bc42-43cf-9033-25c8221cc7ed, Zugriff 2.3.2020

-        Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020

-        Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020

-        Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019).

Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020

-        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich-zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück.

Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS (Islamischer Staat) kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

-        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

-        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

-        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

-        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl aufseiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

-        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

-        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 27.03.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017).

Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, US DOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

-        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

-        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

-        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.ne

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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