Entscheidungsdatum
15.07.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W117 2149507-1/26E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. DRUCKENTHANER über die Beschwerde von XXXX (vormals: XXXX ), geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2017, Zl. 740267810-170128039, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.06.2021, zu Recht:
A) Der Beschwerde wird gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 iVm Abs. 3 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, stattgegeben und der bekämpfte Bescheid ersatzlos behoben. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG idgF wird festgestellt, dass XXXX als immer noch Asylberechtigter kraft Gesetzes weiterhin die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin (in der Folge: BF) stellte am 16.02.2004 (durch ihre Mutter als gesetzliche Vertreterin) in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz (damals: „Asylantrag“).
Mit Bescheid des (damals zuständigen) Unabhängigen Bundesasylsenates (in der Folge: UBAS) vom 28.12.2006, Zl. 257.048/0-III/09/05, wurde der BF rechtskräftig der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
Am 26.03.2012 wurde der BF von der (damals:) Bundespolizeidirektion Wien ein Konventionsreisepass mit Gültigkeit bis zum 25.03.2014 für alle Staaten mit Ausnahme der Russischen Föderation ausgestellt.
Am 23.07.2013 wurde der BF von der Landespolizeidirektion Wien neuerlich ein Konventionsreisepass mit Gültigkeit bis zum 22.07.2015 für alle Staaten mit Ausnahme der Russischen Föderation ausgestellt.
Am 10.03.2015 wurde das BFA von der Landespolizeidirektion Wien – Landesamt Verfassungsschutz darüber informiert, dass die BF im Herbst 2014 nach Tschetschenien zurückgereist sei und wahrscheinlich nicht mehr nach Österreich zurückkommen werde. Angeschlossen wurde ein entsprechender Ermittlungs-Bericht vom 01.12.2014 übermittelt.
In weiterer Folge wurde der Verwaltungsakt vom BFA Wien zur Prüfung der allfälligen Einleitung eines Aberkennungsverfahrens an die Regionaldirektion Steiermark übermittelt.
Mit Aktenvermerk des BFA – Regionaldirektion Steiermark vom 24.06.2016 wurde ein Aberkennungsverfahren (gestützt auf § 7 Abs. 3 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention, im Folgenden: GFK) ausdrücklich nicht eingeleitet. Dies wurde vonseiten des BFA – Regionaldirektion Steiermark auch mit E-Mail vom 18.10.2016 gegenüber dem Bundesministerium für Inneres (Abt. II/3 Fremdenpolizei und Grenzkontrolle) bestätigt.
Am 03.10.2016 langte beim BFA – Regionaldirektion Steiermark ein Schreiben der österreichischen Botschaft in Kiew ein, worin mitgeteilt wurde, dass die BF im Zuge einer persönlichen Vorsprache am 27.09.2016 gemeinsam mit ihrer Mutter einen Antrag auf Ausstellung eines „Laissez-Passer“ gestellt hätte, um die Heimreise nach Österreich antreten zu können, da ihr Konventionsreisepass 2015 während ihres nunmehr zweijährigen Aufenthaltes in Tschetschenien abgelaufen sei.
Die BF habe dabei angegeben, dass sie nach Erhalt des abgelaufenen Konventionsreisepasses (23.07.2013 – 22.07.2015) den russischen Reisepass (29.08.2014 – 29.08.2019), mit welchem sie aus Tschetschenien aus- und in die Ukraine eingereist sei, beantragt hätte. Es werde um Prüfung des aktuellen Asylstatus gebeten.
Am 31.10.2016 forderte das BFA – Regionaldirektion Oberösterreich die Übermittlung des Verfahrensaktes der BF an. Dem wurde am 02.11.2016, bzw. am 08.11.2016, entsprochen.
Am 30.01.2017 wurde die Mutter der BF vor dem BFA – Regionaldirektion Oberösterreich zum – offenbar zwischenzeitlich eingeleiteten – Asylaberkennungsverfahren der BF (als gesetzliche Vertreterin) einvernommen.
Mit Bescheid des BFA – Regionaldirektion Oberösterreich vom 20.02.2017 wurde der BF der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Absatz 1 Ziffer 2 iVm Abs. 3 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt und gemäß § 7 Absatz 4 AsylG festgestellt, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG wurde der BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ihr ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen, gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei und ihr gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt III.).
Begründend wurde dazu ausgeführt, dass die BF sich im Sommer des Jahres 2015 freiwillig nach XXXX /Tschetschenien begeben habe und seither – mit Unterbrechung durch einen Aufenthalt in Kiew/Ukraine im Oktober/November 2016 – dort aufhältig sei, wobei sie bei ihrer Tante mütterlicherseits lebe. Die Umstände, die zur Asylgewährung geführt hätten, seien weggefallen und die BF könne es daher nicht mehr ablehnen, den Schutz jenes Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Nach eingehender rechtlicher Würdigung sei das BFA zur Ansicht gelangt, dass § 7 Abs. 1 Ziffer 2 AsylG 2005 voll inhaltlich erfüllt und daher der Asylstatus von Amts wegen abzuerkennen sei.
Zudem wurde festgestellt, dass die BF in der Republik Österreich nicht strafrechtlich verurteilt worden und im Bundesgebiet nach wie vor aufrecht gemeldet sei.
Die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz lägen nicht vor, ebensowenig jene zur Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG. Der Eingriff in das Privat- und Familienleben der BF werde dadurch relativiert, dass diese sich nunmehr schon fast zwei Jahre nicht mehr bei ihrer Mutter und ihren Geschwistern in Österreich aufhalte und seit Sommer 2015 ihren dauernden Wohnsitz in Tschetschenien begründet haben.
Gegen diesen Bescheid erhob die BF durch ihren ausgewiesenen Rechtsvertreter mit Schriftsatz vom 06.03.2017 fristgerecht vollumfänglich Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Begründend wurde darin ausgeführt, dass die BF 2015 nach Tschetschenien gereist sei und wieder nach Österreich zurückkehren wollte, was sich jedoch als undurchführbar erwiesen habe, weil die österreichische Botschaft in Kiew nicht bereit gewesen sei, den abgelaufenen Konventionsreisepass der BF zu verlängern, oder ein anderes entsprechendes Dokument für die Heimreise auszustellen, weshalb die BF gezwungen gewesen sei, nach Tschetschenien zurückzukehren.
Die BF sei unbestrittenerweise auch nicht straffällig geworden und sei ihr kein Aufenthaltstitel von der nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zuständigen Behörde erteilt worden, sodass ihr gemäß § 7 Abs. 3 AsylG der Asylstatus nicht aberkannt werden hätte dürfen. Dass die BF zuletzt keinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hatte, könne ihr nicht angelastet werden, da dies durch die österreichische Botschaft in Kiew verhindert worden sei, obwohl diese zur Ausstellung eines entsprechenden Reisepapieres, bzw. zur Verlängerung des Reisepasses verpflichtet gewesen wäre.
Da der BF die Einreise nach Österreich verwehrt worden sei und sie daher ihre Rechte im Verfahren nicht wahrnehmen habe können, hätte aufgrund der Minderjährigkeit der BF außerdem gemäß § 10 Abs. 4 BFA-VG der Jugendwohlfahrtsträger als gesetzlicher Vertreter bestellt werden müssen. Wäre die BF einvernommen worden, hätte sie darauf hinweisen können, dass sie nunmehr, mit dem baldigen Eintritt der Volljährigkeit, der Bedrohung durch die Zwangsverheiratung in Tschetschenien ausgesetzt sei.
Beantragt wurde die Aufhebung des angefochtenen Bescheides, allenfalls die Gewährung von subsidiärem Schutz, allenfalls die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, allenfalls die Zurückverweisung der Sache zur Verfahrensergänzung an die Behörde sowie die Anberaumung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
Das BFA legte dem erkennenden Gericht die Beschwerde sowie den Verwaltungsakt, einlangend am 09.03.2017, vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde.
Am 21.09.2017 langte eine Stellungnahme der BF beim Bundesverwaltungsgericht ein, in der die BF mitteilte, dass sie nunmehr wieder in Österreich aufhältig sei. Zudem sei sie schwanger, der errechnete Geburtstermin sei der 06.10.2017. Die BF habe nun eigene Fluchtgründe, da ihr als alleinstehende Mutter eines außerehelichen Kindes im streng muslimischen Tschetschenien Verfolgung drohe. Ihre Familie in Tschetschenien wisse nichts von ihrer Schwangerschaft und sie fürchte im Falle ihrer Rückkehr den Ehrenmord. Auch könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werde, dass die Lebensgrundlage der alleinerziehenden BF und ihres Kindes bei einer Rückkehr in die Russische Föderation gesichert seien. Die BF verfüge über keinerlei Ausbildung oder Berufserfahrung und mit Unterstützung durch ihre Familienangehörigen sei nicht zu rechnen, weshalb die BF auf sich alleine gestellt wäre. Es sei daher davon auszugehen, dass die BF bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht in der Lage wäre, ihren Lebensunterhalt zu sichern und in eine ausweglose Lage geraten würde, es drohe ihr daher eine Gefahr iSd Art. 3 EMRK.
Am 15.05.2020 wurde der BF vom BFA ein neuer Konventionsreisepass mit Gültigkeit bis zum 14.05.2025 ausgestellt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.06.2021 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die russische Sprache und in Anwesenheit der BF sowie ihrer Rechtsvertreterin eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. Dabei wurde auch die Schwester der BF, XXXX , als Zeugin einvernommen.
Die Verhandlung nahm entscheidungswesentlich folgenden Verlauf:
„[…]
RI: Sie haben sich in der russischen Föderation aufgehalten, von wann bis wann?
BF: 2014 bis ich volljährig wurde 2017.
RI: Wo haben Sie da gelebt?
BF: Ich habe in Tschetschenien gelebt.
RI: Bei wem haben Sie gelebt?
BF: Bei der Mutter von meinem Vater gelebt, also bei meiner Großmutter.
RI: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, wieder in die russische Föderation zurückzukommen?
BF: Ich möchte die ganze Wahrheit erzählen, wie das wirklich alles passiert ist. Ich hatte meinen Vater noch nie gesehen, bis ich 11 wurde, dann kam er plötzlich wieder mit meiner Mutter zusammen. Sie waren in Tschetschenien verheiratet, bis ich mit meinen Geschwistern und meiner Mutter geflüchtet bin. Meine Mutter ist vor meinem Vater geflüchtet, weil er damals schon gewalttätig war, so kam sie auf die Idee ganz aus Tschetschenien zu flüchten. Mein Vater bleib dann in Tschetschenien und meine Mutter blieb mit mir und den restlichen Kindern hier. Es ging dann sehr schnell, dass wir hierhergekommen sind, weil wir am Weg gute Leute getroffen haben.
RI: Lebt Ihre Mutter heute noch in Österreich?
BF: Ja.
BF setzt fort: In Österreich hatten wir ein sehr gutes Leben, wir hatten alle unsere Hobbys etc., bis mein Vater plötzlich von Tschetschenien nach Österreich gekommen ist. Das war 2011. Da war ich gerade 11 Jahre alt. Mein Vater lebt seitdem in Österreich, meine beiden Eltern haben den Asylstatus. Er hat damals Asyl angefragt, weil seine Familie hier gelebt hat. Er hatte sehr viel gemacht, was wir auch der Polizei gemeldet haben. Er war zu uns sehr gewalttätig. Meine Mutter lebt mit meinem Vater heute nicht mehr zusammen.
RI: Seit wann sind Ihre Eltern getrennt?
BF: Seit 2013 oder 2014 sind sie offiziell getrennt. Wir wollten eigentlich nicht, dass er den Aufenthaltstitel bekommt, weil er sich nicht wie ein Vater benommen hatte.
RI: Ihre Mutter hat am 30.01.2017 eine Einvernahme als Ihr gesetzlicher Vertreter damals und sie sagte folgendes aus (der BF wird AS 68 ff. vorgehalten).
BF: Ich glaube nicht, dass der schlechte Einfluss von meinen Freunden kam, sondern der kam von zuhause, weil ich mich zuhause nie wie zuhause gefühlt hatte. Deswegen bin ich auch von zuhause sehr oft weggelaufen, weil ich meiner Mutter gesagt, wenn mein Vater nicht geht, solange werde ich gehen.
RI: Der Vater ist aber 2014 schon weg und Sie sind erst 2015 zurückgefahren?
BF: Nein, das ist nicht richtig. Ich bin schon 2014 gefahren.
RI: Der erste Schritt war aber Kiew?
BF: Das war eben nicht so. Die Aussage meiner Mutter ist nicht so richtig, richtig ist nämlich, dass meine Mutter selbst nach den Streitereien eine Auszeit benötigte, dass ich, meine Mutter und meine Schwester einen kleinen Urlaub in Moskau zu machen.
RI: Wie kommen wir dann zu Kiew?
BF: Kiew kommt später ins Spiel. Meine Mutter hatte einfach entschieden, da war ich nämlich noch 15 und ich kannte mich nicht mit den Regeln in Österreich aus. Ich wusste zwar, dass ich einen Konventionsreisepass hatte, mir waren die rechtlichen Konsequenzen aber nicht, die mit diesem Pass verbunden sind, bekannt. Etwa im August 2014 reiste ich mit meiner Mutter und meiner, heute 24-jährigen Schwester nach Moskau. Das war nicht freiwillig von mir, sondern das war von der Mutter bestimmt. Meine Schwester hat heute ein Visum.
RI: Was ist mit dem Asylstatus der Schwester passiert?
BF: Meine Schwester hat zwischenzeitig geheiratet und heute verfügt sie über einen normalen Aufenthaltstitel. In Moskau verbrachten wir eine Woche, das war bei einer weitschichtigen Verwandte von uns. Die eine Woche war sogar ziemlich schön, weil wir uns Moskau angeschaut haben. Dann sind wir zum Moskauer Flughafen. Meine Schwester und ich dachten, dass wir jetzt wieder in ein Flugzeug nach Österreich steigen, aber dann meinte meine Mutter, dass wir noch ein bis zwei Wochen in Tschetschenien verbringen sollten. Dann stiegen wir in ein Flugzeug und landeten in XXXX . Die erste Woche in Tschetschenien war noch ziemlich schön, weil wir zu Besuch bei Verwandten meiner Mutter waren. Da war ich auch zum ersten Mal eigentlich in Tschetschenien. Ich kam sobald nach Österreich, dass ich keine Erinnerung an Tschetschenien hatte. Dann meinte meine Mutter wiederum, dass es respektlos wäre nicht zu Besuch zur Vaterseite zu fahren, weil die uns ja auch sehr lange nicht gesehen hatten. Wir haben dann also die Verwandten des Vaters besucht, der erste Eindruck war nicht so besonders. Wir hätten dort eigentlich nur zwei bis drei Tage bleiben sollen und dann gingen die Wochen ins Land. Es stellte sich heraus, dass mein Vater seinen Bruder in Tschetschenien angerufen hatte und er dann die Pässe von uns wegnahm. Meine Schwester und ich waren somit in Tschetschenien. Dann hatten meine Schwester und ich im Dorf XXXX . Ich habe dort drei Jahre gelebt. Ich lebte dann dort bis Ende Juli, Anfang August und kehrte dann wieder nach Österreich zurück. Nachdem ich und meine Schwester in XXXX waren, war der erste Monat schon vergangen. Meine Mutter hatte sich wieder mit meinem Vater in Kontakt gesetzt, meinen älteren Bruder angerufen und alles getan, um wieder unsere Pässe zurückzubekommen. Das war aber vergeblich. Ich habe von dort aus an die Polizei und das Jugendamt, im 2. Bezirk sehr viele E-Mails geschrieben, dass ich in Tschetschenien gefangen gehalten werde. Ich hatte die Adresse online aus dem Internet. Ich erhielt aber keine Antwort. Man hat meiner Schwester und mir den Kontakt zu meiner Mutter verboten, aber die Frau von meinem Onkel hatte noch die Nummer von meiner und wir durften manchmal mit ihr über WhatsApp videotelefonieren.
RI: Wie haben Sie die Zeit in Tschetschenien verbracht?
BF: Ich habe den ganzen Tag nur Filme geschaut. Ich bin in keine Schule gegangen. Im Dorf von meinem Vater gab es das Grundstück, wo ein großes Haus ist. In diesem zweistöckigen hat mein Onkel und seine Familie gewohnt. Da war auch ein Gartenhäuschen und dort waren die Schwester und ich. Meine Schwester kann das alles bestätigen, die hat ein noch größeres Trauma als ich. Wir hatten alten Computer, da konnte man sich Filme anschauen, aber nicht über das Internet. Das Internet hatte ich über das Handy. Meine Mutter ist kehrte zwischenzeitig nach einem Monat nach Österreich zurück, weil mein kleiner Bruder noch hier war. Ich hatte dort außer für zwei Wochen Urlaub keine richtige Kleidung und sagte meiner Mutter, sie möge mir Kleidung und ein Handy schicken, weil mein ursprüngliches Handy in Tschetschenien nicht funktioniert. Dann hat sie mir von Österreich ein sehr billiges Handy, aber ein Smartphone mit Touchscreen mit der Kleidung mitgeschickt. Das hat sie mir aber nicht über den normalen Postweg zukommen lassen, sondern einfach über Personen, die zwischen Österreich und Tschetschenien hin- und herpendeln. Dann wurde das Handy aber einmal entdeckt und bevor sie die SIM-Karte auslesen konnten, habe ich die kaputt gemacht. Meine Schwester heiratete 2016 dort einen Tschetschenen, das war aber keine Zwangsehe. Nachdem sie heiratete, gab man auch den Pass wieder zurück, Man begründete das so, dass sie verheiratet waren und machen können, was sie wollen. Sie blieb dann aber noch eine längere Zeit in Tschetschenien. Sie kam dann aber zurück nach Österreich, gab den Konventionspass zurück und hat einen normalen Aufenthaltstitel bekommen. Derzeit ist sie in Österreich, der Mann lebt aber in Tschetschenien. Meine Schwester ist derzeit 23 Jahre und in XXXX . Ich wohne bei meiner Mutter in XXXX mit meiner Tochter und meinem kleinen Bruder. Gestern hat die Schwester zwar bei uns geschlafen, aber sie hat eine eigene Wohnung in XXXX . Ich selbst wollte nicht heiraten, die hätten mich mit 18 Jahren schon mit irgendjemanden verheiratet. Bei meiner Schwester war es anders, sie hat sich verliebt und wollte selber heiraten.
RI: Wie sind Sie dann wieder nach Österreich gekommen?
BF: Meine Schwester zog dann zur Familie des Ehegatten. Ich war dann alleine dort beim Onkel und seiner Familie. Dann hat meine Mutter meinem Onkel gesagt, dass ich in die Stadt dürfe zu meiner Tante für einen Monat, weil es ihr schlecht geht. Sie hatte keine Kinder und war nicht verheiratet. Bei uns war das nicht-heiraten gar nicht so unüblich, weil meine andere Tante hat auch nicht geheiratet. Die Familie meiner Mutter ist auch nicht so streng, wie die Familie meines Vaters. Ich meine damit die schon heute angeführte XXXX . Dort war ich einen Monat. Das war in XXXX , aber in der Stadt. Dort ging es mir gut. Da mein Konventionsreisepass abgelaufen war, sind wir in die Ukraine gefahren, aber ich bin nicht mit dem Konventionspass in die Ukraine gefahren, sondern mit dem russischen Inlandspass. Diesen Inlandspass hatte mir meine Mutter dort machen lassen, damit ich in die Ukraine fahren kann. Beim Grenzübergang in die Ukraine wollte man, meiner Meinung nach, so eine Art „Einladung“ von mir haben. Die hatte dann eben meine Tante vorgezeigt und so konnten wir einreisen. Dann waren wir am Bahnhof in Kiew. Es war sehr stressig, weil wir wussten irgendwo nicht so richtig, wohin. Dann nahmen wir ein Taxi zu einem Hotel, ich glaube, dass war das „ XXXX Hotel“. In diesem Hotel verbrachten wir dann zwei Tage. Dann sind wir sofort zur österreichischen Botschaft und sagte, dass ich meinen Konventionsreisepass verloren habe und dass ich irgendein Dokument brauche, um wieder nach Österreich zurückzufahren. Die gaben mir aber kein Dokument und ich musste wieder nach Tschetschenien zurück. Wir haben in der Ukraine noch zwei bis drei Wochen verbracht, aber nicht mehr im Hotel. Wir gingen zurück zum Bahnhof und dort standen Personen, die billigste Zimmer vermieten. Dann haben wir so ein Billigstzimmer gemietet. Währenddessen habe ich versucht, von der österreichischen Botschaft versucht, eine Antwort zu erhalten, mehrmals, aber es war vergeblich. Dann sind wir mit dem Bus wieder zurück nach Tschetschenien. In der Ukraine waren 2016, ungefähr Oktober/November, dann waren wir in Tschetschenien. Dann lebte ich zwar wieder beim Onkel meines Vaters und dessen Familie, durfte aber immer öfter zu meiner Tante. Während des Aufenthalts bei meiner Tante konnte ich immer öfter das Haus verlassen. Ich lernte dann auch ein paar Leute kennen, weil einige Minuten entfernt der Markt in XXXX , ich habe sogar ein koreanisches Mädchen kennengelernt. Mit dieser freundete ich mich dann an. Dann lernte ich einen Mann auf dem Markt kennen, mit dem ich schließlich eine Beziehung einging. Der hatte eine eigene Wohnung und ich wurde von ihm schwanger. Ich sagte ihm aber von der Schwangerschaft nichts, weil mit so etwas kann man die Familie der Frau in den Ruin treiben. Ich hatte auch den Gedanken, dass Kind wegmachen zu lassen, aber das geht in XXXX eben sehr schwer. Ende Jänner 2017 merkte ich also, dass ich schwanger war. Ich möchte anmerken, dass da überhaupt mein erster Mann war und dass mich meine Familie überhaupt falsch eingeschätzt hatte, ich habe mich tatsächlich nicht mit Burschen herumgetrieben. Ich dachte mir dann natürlich auch, dass ich mir das Leben nehmen könne, aber das wollte ich dann auch nicht. Ich war dann bis Anfang des 6. Monats meiner Schwangerschaft in Tschetschenien, bei mir sah man aber die Schwangerschaft nicht. Ich hatte auch Sachen an, wie ich heute angezogen bin, also weite Kleider und man sah sowas nicht. Im Februar, März sagte ich dann meiner Mutter, dass ich schwanger sei. Am 18.05.2017 wurde ich 18 Jahre und man ist auch in Russland mit 18 volljährig. Dann hat meine Mutter einen russischen Auslandsreisepass ausstellen lassen. Das war ungefähr im August 2017, wo ich über die Ukraine letztlich wieder dann nach Österreich zurückkehrte. Der Pass, den ich heute in Vorlage brachte, wurde im Mai 2020 ausgestellt.
RI: Sie sind schon zweimal straffällig geworden (der BF wird das Strafurteil XXXX vorgehalten).
BF: Zu den Verurteilungen möchte ich folgendes sagen: Ich bereue das sehr. Ich hatte keinen gültigen Reisepass und konnte nicht arbeiten. Ich habe auch kein Kindergeld für mein Kind bekommen.
RI: Was arbeiten Sie jetzt?
BF: Mein aktueller Dienstgeber ist XXXX und ich bin dort bis 30.06.2021 als Callcenteragentin tätig. Wir machen Terminvergaben für ganz Österreich wegen z.B. der Apothekentests. Ich war bis Anfang Mai 40 Stunden tätig, da habe ich 1.400 € netto verdient. Ich hatte am 08.02. dort angefangen und davor war ich für XXXX im Callcenter. Im Mai letzten Jahres habe ich den Pass bekommen und habe eine Lehre als Zahnarztassistentin begonnen, aber ich bekam für die Lehre nur 600 € Lehrlingsentschädigung ich bin alleinerziehende Mutter. Dann habe ich diese Lehre als Zahnarztassistentin gelassen und habe mit dem Callcenter für XXXX . Ich habe auch ein Zertifikat über einen entsprechenden Seminarbesuch in Bezug auf das Telefonieren. Bei XXXX war ich von Oktober bis Ende Jänner. Die Lehre habe ich gerade Mal zwei Monate gemacht. Das war sehr anstrengend, weil ich meine Tochter in den Kindergarten bringen musste und von dort in die Arbeit. Jetzt würde ich wieder eine Lehre machen, aber das ist eine sogenannte Schnelllehre, die nur ein Jahr dauert. Ich würde die Lehre als Bürokauffrau machen. Ich würde das riskieren, weil es eben nur ein Jahr dauert und ich auch einen Abschluss brauche. Ich möchte auch noch zu den Verurteilungen sagen, dass ich es anfänglich in Österreich sehr sehr schwer hatte, weil mein Kind uneheliche ist. Bis ich alles wieder auf die Reihe brachte, war es sehr schwierig. Mit meiner Mutter und meiner Schwester ist das Verhältnis wieder ausgezeichnet. Sie passen auch auf das Kind auf. Mit meinem eigenen Vater habe ich keinen Kontakt. Mein Vater hat zwar Kontakt mit meinen älteren zwei Brüder, aber ich selbst habe keinen Kontakt und will das auch nicht. Mit meinem kleinen Bruder bin ich sehr gut. Meine zwei älteren Brüder haben meine Kleine auch lieb.
BFV an BF: Seitdem Sie arbeiten gehen, sind Sie jemals wieder straffällig geworden?
BF: Nein, seitdem ich arbeite, fühle ich mich auch wieder, wie ein normaler Mensch.
Festgehalten wird, dass zwischenzeitlich die Schwester der BF mit der Tochter der BF im Gericht erschienen ist und als Zeugin aussagen möchte.
Beginn der Befragung der Z um 11:20 Uhr.
Die Z wird entsprechend über Entschlagungsgründe und die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage belehrt, außer sie setze sich selbst der strafrechtlichen Verfolgungsgefahr aus bzw. brächte dies ihr einen ungerechtfertigten Vermögensnachteil ein.
Der Schwester wird die Aussage der BF zusammengefasst wiedergegeben.
RI: Sie fuhren mit der BF und der Mutter nach Moskau, wann war das?
Z: Das war ungefähr Juli/August 2014. Wir waren etwas weniger als eine Woche in Moskau, dann fuhren wir nach XXXX . Wir waren in XXXX zunächst bei der Mutterseite und dann bei der Vaterseite. Ich war damals 17 Jahre alt geworden.
RI: Wie muss ich mir das Leben dort vorstellen?
Z: Das war dort beim Bruder des Vaters, also beim Onkel. Es war ein sehr eintöniges Leben und verbrachten die Zeit dort mit Filme schauen und der Familie. Es war eigentlich auch die Idee unseres Vaters, dass wir wieder in die russische Föderation kommen. Meine Schwester wollte selbst nicht nach Moskau. Mein eigener Hinflug erfolgte noch freiwillig, aber als ich dann sah, was dort für ein Leben ist, wollte ich nicht bleiben. Ich wollte dann zurück. Ich habe dort geheiratet, aber es war keine Zwangsehe. Zu meiner Ehe möchte ich ausdrücklich sagen, dass es keine standesamtliche Ehe ist, sondern eine Ehe nach islamischen Ritus. Wir möchten uns scheiden lassen. Mein Noch-Mann nach islamischen Ritus lebt in Tschetschenien. Ich habe ein Kind von diesem Mann, das lebt bei mir und ist zweieinhalb Jahre alt. Mein Noch-Mann hat keinerlei Aufenthaltsstatus in Österreich und wird auch nicht kommen. Es hat sich einmal ein Visum für Italien machen lassen. Er war einmal nicht einmal einen Monat hier und wir haben es nicht zusammen geschafft. Ich habe ihm dann kurz zusammengefasst gesagt, dass er gehen soll. Ein Monat dort verging einigermaßen normal, bis die Verwandten ihr wahres Gesicht gezeigt haben. Das war einsperren, terrorisieren, Kopftuchpflicht, wir durften keinen Kontakt mit der Mutter aufnehmen. Wir haben ein Handy dann aber von der Mutter mit einer Gewandtlieferung geschickt bekommen. Dann haben wir mit der Mutter entsprechend Kontakt aufgenommen. Mir wurden auch Vorschläge hinsichtlich allfällig zukünftiger Ehegatten gemacht, ich war damit aber nicht so richtig einverstanden. Ich hatte den Mann, den ich dann islamisch ehelichte, aber auf normalen Weg kennengelernt. Er war der einzige, mit dem ich in Kontakt war. Ich konnte zunächst nicht Russisch und Tschetschenisch, aber mit ihm konnte ich mich unterhalten, obwohl mein Tschetschenisch nicht gut war. Verständigen habe ich mich schon können, aber keine entsprechende Unterhaltung führen. Ich war mit diesem Mann ungefähr zwei Jahre in Kontakt. Ich wurde schwanger nachdem wir geheiratet haben. Nachdem ich geheiratet habe, hat man mir den Pass wiedergegeben und so konnte ich letztlich wieder nach Österreich.
RI: Wie kommt es zum Wechsel vom Asylstatus zur Daueraufenthaltsbewilligung?
Z: Ich bekam eine Vorladung von der BP XXXX . Die wussten eben, dass wir nach Tschetschenien zurückkehrt waren, weil wir auch E-Mails an die Behörden schickten, dass wir gegen unseren Willen festgehalten werden. Wir hatten uns per E-Mail die österreichischen Behörden gewandt, dass wir festgehalten werden. Die Polizei wusste Bescheid, wir haben aber keine Antwort erhalten. Nachdem ich wieder hergekommen war, erhielt ich eine Ladung. Dann hat mir die Beamtin bei der Einvernahme, ich weiß nicht mehr genau wann die Einvernahme war, ich glaube es war Sommer 2018, es war auf jeden Fall warm, erklärt – es war ein kurzes Interview – sie fragte einfach nach, ob ich nach Tschetschenischen gefahren bin und sagte ihr auch, dass ich dort gegen meinen Willen war. Ich sagte einfach, dass ich nicht verfolgt werde oder bedroht werde. Dann meinte sie, ich habe ja keine Vorstrafe und habe ja gearbeitet gehabt und ich war dann irgendwie einverstanden mit dem Wechsel auf den Aufenthaltstitel, aber eigentlich bin ich nur umgestiegen, weil mir das auch nicht richtig erklärt wurde. Ich möchte auch noch sagen, dass ich die Lehre seinerzeit abgebrochen habe wegen Tschetschenien. Ich lerne derzeit auch Bürokauffrau im 12. Bezirk. Der sogenannte Wiedereinstieg hat mir geholfen, weil mein Kind eben zweieinhalb Jahre alt ist, zu der Lehre zu kommen. Im Oktober fange ich dann mit der Lehre an, ich fange nicht früher an, weil es keine Plätze gibt. Ich selbst wohne alleine.
BF: Statt uns zu helfen, hat man ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.
Die Z verzichtet auf eine Durchsicht ihrer Befragung.
Ende der Befragung der Z um 11:53 Uhr.
Mit der BF wird die Situation in Tschetschenien besprochen (LIB der Staatendokumentation in aktualisierte Form).
BF: Keine Stellungnahme dazu.
RI: Wenn Sie heute nach Tschetschenien zurückkehren würden, was glauben Sie würde mit Ihnen passieren?
BF: Alleine aufgrund des Umstandes, dass ich ein uneheliches Kind habe, würden sie mir das Kind wegnehmen und würde mein Kind als „unehelicher Bastard“, als Mensch zweier Klasse, wenn nicht gar dritter Klasse angesehen werden. Es wäre sogar mein Leben in Gefahr, weil ich die Ehre der Familie verletzt habe durch die uneheliche Mutterschaft. Dadurch würde ich natürlich auch keine Arbeit erhalten, weil „gekennzeichnet“ wäre.
RI: Warum könnten Sie nicht z.B. in Moskau leben?
BF: Dort kann ich nicht leben, weil ich dort keine sozialen Anknüpfungspunkte habe. Außerdem würde mich die Familie meines Vaters, die ich in Unehre gezogen habe, finden. Sie würden mir jedenfalls mein Kind auch dort wegnehmen.
RI: Wie viele Jahre haben Sie insgesamt in Österreich verbracht?
BF: Ich habe insgesamt 17 Jahre hier in Österreich verbracht, abzüglich meines unfreiwilligen Tschetschenienaufenthaltes. Ich möchte auch angeben, dass meine Tochter hier geboren ist und hier sozialisiert ist. Zunächst ging meine Tochter ein halbes Jahr in den privaten Kindergarten, als ich mit der Zahnarztassistenten-Lehre aufgehört habe. Jetzt geht sie in einen städtischen Kindergarten.
RI: Haben Sie einen Lebensgefährten/Freund hier in Österreich?
BF: Ja, ich kenne ihn seit zwei Jahren. In einer Beziehung sind wir weit ungefähr einem Jahr. Er ist Österreicher und heißt XXXX , er ist am XXXX geboren. Er wohnt in XXXX , in der Nähe von XXXX . Er ist bei XXXX der Sekretär. Er versteht sich mit meiner Tochter ausgezeichnet. Wir sind jedenfalls jeden zweiten, dritten Tag zusammen, wenn es sich zeitlich ausgeht.
BF zeigt eine ganze Fotopalette, welches den Freund der BF mit der Tochter zeigt.
RI: Sind Sie sonst bei einem Verein oder privat engagiert?
BF: Nein, privat bin ich ausreichend mit meiner Tochter beschäftigt. Deswegen haben ich und meine Schwester weniger Freundinnen. Ich verbringe auch viel Zeit mit meiner Schwester und die beiden Kinder sind sehr gut miteinander. Ansonsten sind die Kinder immer mit österreichischen Kindern zusammen. Das Kind meiner Schwester spricht eigentlich überhaupt nur noch Deutsch. Auch ich versuche fast immer nur Deutsch mit meiner Tochter zu sprechen.
BFV bringt vor, dass die strafbaren Handlungen, die meine Mandantin zutiefst bereut, für sich selbst genommen keinen Aberkennungsgrund bedeuten und aus der Lebenssituation meiner Mandantin zu erklären sind.
RI: Wer lebt eigentlich noch von Ihren Familienangehörigen in der russischen Föderation?
BF: Es lebt noch die Vaterseite dort. Von der Mutterseite her gibt es nur die Schwester meiner Mutter und die ist schon ca. 70 Jahre und es geht ihr gesundheitlich nicht gut.
Z: Ich möchte auch noch sagen, dass ich und meine Schwester zu unserem Vater keinerlei Kontakt haben. Ich lehne auch jeden Kontakt mit ab, weil wir von ihm dort festgehalten wurden und überhaupt mit der Vaterseite, weil sie das unterstützt haben.
BFV stellt keine Fragen und keine Anträge und erstattet kein weiteres Vorbringen.
Festgehalten wird, dass BF und Z Deutsch wie Österreicher sprechen und die gesamte Verhandlung in Deutsch abgehalten wurde und man vom Outfit nicht einmal ansatzweise den Schluss ziehen könnte, dass sie Personen aus Tschetschenien sind.
Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
I. Sachverhalt:
Zur Person der BF:
Die BF führt die im Spruch genannte Identität, wurde in XXXX geboren und gehört der tschetschenischen Volksgruppe an. Sie reiste im Februar 2004 als Minderjährige im Alter von vier Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern ins Bundesgebiet ein und war bis August 2014 sowie seit August 2017 durchgehend in Österreich aufhältig. Im Zeitraum zwischen August 2014 und August 2017 hielt sich die BF in der Russischen Föderation (Moskau, XXXX /Tschetschenien und XXXX /Tschetschenien) sowie im Herbst 2016 zwei bis drei Wochen in der Ukraine (Kiew) auf. Am 06.10.2017 brachte die BF in Österreich eine Tochter zur Welt. Sie ist ledig und führt seit einem Jahr eine Partnerschaft mit einem österreichischen Staatsangehörigen.
In Österreich leben auch die Mutter der BF sowie ihre Schwester, ihre drei Brüder und ihr Vater, zu dem sie jedoch keinerlei Kontakt hat.
Im Herkunftsstaat leben noch die Angehörigen ihres Vaters (Dorf XXXX /Tschetschenien) sowie eine Tante mütterlicherseits ( XXXX /Tschetschenien). Darüber hinaus hat die BF – abgesehen von weitläufig entfernten Verwandten in Moskau – keine Familienangehörigen oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation.
Zum Leben der BF in Österreich bis August 2014:
Nach ihrer Einreise nach Österreich 2004 lebte die BF im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern. 2011 reiste auch der Vater der BF nach Österreich ein, beantragte internationalen Schutz und nahm ebenfalls Unterkunft bei der BF, ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Der Vater der BF war gewalttätig gegenüber der Mutter und den Kindern, weshalb die BF immer wieder von zuhause weglief. Am 07.09.2012 wurde die Ehe der Eltern der BF geschieden, die endgültige Trennung erfolgte erst 2013/2014. Die BF besuchte in Österreich von Herbst 2006 bis Sommer 2014 die Schule, zuletzt eine Mittelschule in XXXX .
Zur Ausreise und zum Leben der BF von August 2014 bis August 2017 in Tschetschenien:
Die BF reiste im August 2014 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in die Russische Föderation, um – wie die Mutter vorgab – einen Urlaub bei entfernten Verwandten in Moskau zu machen. Nachdem sie eine Woche in Moskau verbracht hatten, verkündete die Mutter der BF ihren Töchtern, dass sie nicht, wie von der BF angenommen, zurück nach Österreich, sondern weiter nach Tschetschenien reisen würden. Dort verbrachte die Familie zunächst eine Woche bei Verwandten der Mutter. Anschließend teilte die Mutter ihren Töchtern mit, dass sie noch für einige Tage die Verwandten des Vaters der BF und ihrer Schwester besuchen würden, was sie schließlich auch taten. In weiterer Folge nahm der Vater der BF mit seinem Bruder in Tschetschenien Kontakt auf, der der BF und ihrer Schwester daraufhin die Reisepässe abnahm. Die Mutter der BF reiste nach etwa einem Monat wieder nach Österreich zurück und versuchte vergeblich, den Vater der BF dazu zu bewegen, dass ihren Töchtern die Reisepässe ausgehändigt werden. Der BF und ihrer Schwester wurde der Kontakt zur Mutter verboten. Diese ließ der BF jedoch über Personen, die zwischen Tschetschenien und Österreich hin- und herpendeln, Kleidung und, darin versteckt, ein Smartphone mit Internetzugang zukommen.
Die BF ging während ihres Aufenthaltes in Tschetschenien in keine Schule und verbrachte ihre Zeit hauptsächlich damit, sich Filme anzuschauen. Ihre Schwester heiratete im Jahr 2016 einen Tschetschenen, woraufhin diese ihren Reisepass zurück erhielt und zur Familie ihres Ehegatten zog. Die BF lebte indes weiterhin bei ihrem Onkel und dessen Familie im Dorf XXXX .
Im Herbst 2016 veranlasste die Mutter der BF unter einem Vorwand, dass diese für einen Monat zu ihrer Tante mütterlicherseits – dieser gehe es gesundheitlich schlecht – in die Stadt XXXX fahren durfte. Die Mutter der BF reiste indes, ebenso wie die BF (unter Verwendung eines russischen Inlandsreisepasses, den die Mutter für sie ausstellen ließ) in die Ukraine, nach Kiew, wo sie einander trafen und zwei bis drei Wochen verbrachten. Die BF versuchte in dieser Zeit erfolglos, über die österreichische Botschaft in Kiew einen neuen Konventionsreisepass bzw. ein anderes Reisedokument, das ihr eine Rückkehr nach Österreich ermöglicht hätte, ausgestellt zu bekommen.
Letztlich musste die BF – mangels eines entsprechenden Reisedokuments – wieder zurück nach Tschetschenien reisen. Dort lebte sie weiterhin bei den Angehörigen ihres Vaters, durfte jedoch fortan öfters ihre Tante mütterlicherseits in XXXX besuchen, wo sie letztlich auch den Vater ihrer Tochter kennenlernte, dem sie jedoch nichts von ihrer Schwangerschaft erzählte.
Im Februar/März 2017 teilte die BF ihrer Mutter mit, dass sie schwanger sei. Nachdem die BF im Mai 2017 die Volljährigkeit erlangte, ließ ihre Mutter für sie einen russischen Auslandsreisepass ausstellen, mit dem die BF im August 2017 schließlich über die Ukraine nach Österreich zurückkehren konnte.
Zum Leben der BF in Österreich seit August 2017:
In Österreich lebt die BF seit ihrer Rückkehr aus Tschetschenien im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter, ihrem jüngsten Bruder und – seit deren Geburt – ihrer Tochter. Sie besuchte von 12.02.2018 bis 18.01.2019 einen Lehrgang („Pflichtschulabschluss“) an der XXXX Volkshochschule, absolvierte am 16.10.2018 die Abschlussprüfung eines Berufsorientierungskurses (ebenfalls an der XXXX Volkshochschule) und am 11.01.2019 ihren Pflichtschulabschluss. Im Mai 2020 begann sie eine Lehre zur Zahnarztassistentin, die sie jedoch aufgrund der Lehrlingsentschädigung von lediglich EUR 600,00 und der Sorgepflichten für ihre Tochter bereits nach zwei Monaten wieder abbrach und war in weiterer Folge von Oktober 2020 bis Jänner 2021 im Callcenter von „ XXXX “ beschäftigt. Am 04.12.2020 nahm sie am Seminar „Die hohe Schule des Telefonierens“ („ XXXX “) teil. Von 08.02.2021 bis 30.06.2021 war sie als Callcenteragentin für „ XXXX “ tätig. Die BF plant, demnächst eine Schnelllehre zur Bürokauffrau zu beginnen.
Neben ihrer Mutter und ihrem jüngsten Bruder, mit denen die BF im gemeinsamen Haushalt lebt, pflegt die BF ein intensives Naheverhältnis zu ihrer Schwester, die ebenfalls ein Kind hat und mit der sie viel Zeit verbringt. Auch mit ihren älteren Brüdern steht sie in Kontakt.
Die Tochter der BF besucht einen städtischen Kindergarten. Die BF spricht überwiegend deutsch mit ihr.
Die BF hat einen westlichen Kleidungsstil und verfügt über ausgezeichnete Deutschkenntnisse.
Die BF ist arbeitsfähig und gesund.
Die BF wurde in Österreich bislang zweimal als junge Erwachsene strafgerichtlich verurteilt:
1. Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 11.12.2018 ( XXXX ) wegen Körperverletzung und versuchten Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Wochen, wobei ihr diese unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen und über sie die Bewährungshilfe angeordnet wurde.
2. Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 15.05.2019 ( XXXX ) vom 15.05.2019 wegen versuchten Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, die ihr bedingt nachgesehen wurde, wobei die Probezeit auf insgesamt fünf Jahre verlängert wurde.
Seit ihrer letzten Verurteilung hat sich die BF wohlverhalten.
Zu den (vermeintlichen) Asylaberkennungsgründen:
Die BF hat sich nicht freiwillig wieder unter den Schutz ihres Heimatlandes gestellt und sich auch nicht freiwillig in der Russischen Föderation niedergelassen.
Die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen zwar nicht mehr, sie kann es jedoch weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, da sie dort nach wie vor asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt ist.
Zum Zeitpunkt der Erlassung des Aberkennungsbescheides war die BF minderjährig, strafgerichtlich unbescholten und verfügte über eine aufrechte Hauptwohnsitzmeldung im Bundesgebiet, wenngleich sie im Zeitraum von August 2014 bis August 2017 in der Russischen Föderation aufhältig war.
Es liegen keine Hinweise auf eine Verständigung der nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (in der Folge: NAG) zuständigen Aufenthaltsbehörde durch das BFA vor. Der BF kam zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung kein Aufenthaltstitel nach dem NAG zu.
Zu den Fluchtgründen und der Rückkehrsituation der BF:
Die BF liefe im Falle ihrer Rückkehr nach Tschetschenien Gefahr, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Familienverbandes ihres Vaters von ihren Angehörigen väterlicherseits verfolgt zu werden. Insbesondere bestünde die reale Gefahr, dass diese ihr die Tochter wegnehmen würden und staatliche Stellen nicht willens, bzw. nicht in der Lage wären, ihr in diesem Zusammenhang ausreichenden Schutz ihres Rechts auf ein Familienleben iSd Art. 8 EMRK zu gewähren. Darüber hinaus bestünde für die BF im Falle ihrer Rückkehr nach Tschetschenien ein nicht unerhebliches Risiko, Opfer eines Ehrenmordes durch ihre Familienangehörigen väterlicherseits zu werden. Auch in diesem Zusammenhang ist nicht davon auszugehen, dass staatliche Stellen willens, bzw. in der Lage wären, der BF ausreichenden Schutz vor Verfolgung zu bieten.
Zum (Nicht-)Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative:
Bei einer Niederlassung in einem Landesgebiet der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens liefe die BF ebenfalls Gefahr, von den Angehörigen ihres Vaters verfolgt zu werden; diese wären schon aufgrund der zwingenden Registrierungspflicht in der Lage, die BF bei einer Ansiedlung in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation, etwa in einer Großstadt wie Moskau, zu finden.
Durch die Registrierungspflicht wiederum ist aber gerade für die BF – unabhängig vom Bestehen eines konkreten Bedrohungsszenarios – die Wohnsitznahme in den übrigen Landesteilen praktisch unmöglich:
Registrieren lassen kann sich nämlich nur, wer über Wohnraum verfügt und eine Bescheinigung seines Vermieters vorweisen kann. Einige regionale Behörden schränken überdies die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein.
Zwar können BürgerInnen wie die BF ohne Unterkunft und sehr geringem Einkommen (sogar) kostenfreie Wohnungen beantragen, dabei ist jedoch mit einer Wartezeit von einigen Jahren (!) zu rechnen.
Die BF ist überdies alleinerziehende Mutter einer Tochter im Kindergartenalter. Aufgrund der daraus resultierenden Betreuungspflichten und der Tatsache, dass sie in ihrem Herkunftsstaat außerhalb Tschetscheniens über keinerlei familiären oder sonstigen sozialen Anknüpfungspunkte verfügt, wäre es ihr nicht möglich, in einem Landesteil der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens, einer (vollen) Erwerbstätigkeit nachzugehen und den notwendigen Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu sichern. Es werden zwar in der Russischen Föderation unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung (darunter auch für Kinder) gewährt, alle Sozialleistungen liegen aber auf einem derart niedrigen Niveau, dass ohne volle Erwerbstätigkeit für eine Person wie die BF (mit Sorgepflichten und ohne soziales Unterstützungsnetzwerk) nicht das Auslangen zu finden ist.
Es ist demnach davon auszugehen, dass die BF – unabhängig von der Bedrohung durch die Familienangehörigen des Vaters – im Falle des Versuches einer Niederlassung in einem Landesteil der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens zum einen (hinsichtlich der Rechtmäßigkeit einer Niederlassung) mit bürokratischen, zum anderen aber (hinsichtlich der Wohnraumbeschaffung ohne – abgesehen von einer allfälligen Rückkehrhilfe – finanzielle Mittel und soziale Anknüpfungspunkte) auch mit unüberwindbaren faktischen Hürden konfrontiert wäre. Es liegt auf der Hand, dass die BF mit Sorgepflichten für eine dreijährige Tochter, ohne Berufsausbildung und (ausreichende) Erwerbsmöglichkeit, ohne Unterkunft und ohne Unterstützung im Familienverband mit hoher Wahrscheinlichkeit bald in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die BF sich mit ihrer Tochter in einem Landesteil der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens niederlassen könnte.
Zum Herkunftsstaat:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zur Russischen Föderation (generiert am 15.03.2021, Schreibfehler teilweise korrigiert):
Politische Lage
Letzte Änderung: 04.09.2020
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer „smarten Abstimmung“ aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
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• EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-ofprotection.pdf, Zugriff 10.3.2020
• FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020
• GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020
• GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 17.7.2020
• Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/politics-2016.htm, Zugriff 10.3.2020
• Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau, Zugriff 10.3.2020
• MDR 16.7.2020: Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nachrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html, Zugriff 21.7.2020
• ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-55603/, Zugriff 10.3.2020
• OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 10.3.2020
• Presse.at (19.3.2018): Putin: „Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen“, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesstsich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 10.3.2020
• RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/20160923/1477668197.html, Zugriff 10.3.2020
• Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 10.3.2020
• Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 10.3.2020
• Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 10.3.2020
Tschetschenien
Letzte Änderung: 09.04.2020
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über ma