TE Vwgh Erkenntnis 2021/9/15 Ra 2021/17/0059

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Veröffentlicht am 15.09.2021
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Index

19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
FrPolG 2005 §52 Abs3
MRK Art8

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie den Hofrat Mag. Berger und die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des B D in W, vertreten durch die Kocher & Bucher Rechtsanwälte OG in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. September 2020, W283 2222853-1/17E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, verfügte seit dem 23. März 2007 über eine - wiederholt verlängerte - Aufenthaltsbewilligung für Studierende, zuletzt mit Gültigkeit bis zum 23. September 2017. Ein von ihm am 1. September 2017 gestellter weiterer Verlängerungsantrag wurde mit Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 19. April 2018 abgewiesen. Der Revisionswerber hält sich seitdem unrechtmäßig in Österreich auf.

1.2. Am 15. Juni 2018 stellte der Revisionswerber den hier gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2.1. Mit Bescheid vom 6. August 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Behörde) den Antrag des Revisionswerbers ab; unter einem erließ es gegen ihn gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG die Zulässigkeit seiner Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Serbien fest und legte gemäß § 55 Abs. 1 (bis 3) FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

2.2. Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen, die Voraussetzungen für die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels seien erfüllt, eine Rückkehrentscheidung sei nicht zulässig.

Der Revisionswerber sei legal eingereist und halte sich seit mehr als zwölf Jahren überwiegend rechtmäßig in Österreich auf. Er lebe im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter, zu der er ein besonderes Naheverhältnis habe. So betreue er seine Mutter auch im Hinblick auf diverse Krankheiten, umgekehrt werde er von ihr finanziell unterstützt. Sein Vater verfüge ebenso seit kurzem über einen Aufenthaltstitel und lebe in Österreich. Ferner lebten seine Schwester, zu der er intensiven Kontakt habe, und deren Ehemann sowie weitere Verwandte im Bundesgebiet. Der Revisionswerber habe in Österreich zunächst Technische Informatik studiert, dafür aber mehr Zeit benötigt, sodass sein Interesse geschwunden sei und er das Studium letztlich abgebrochen habe, was ihm nicht vorzuwerfen sei. Er wolle sich nunmehr in die Arbeitswelt integrieren und einer Erwerbstätigkeit als Elektrotechniker nachgehen. Er sei in den vergangenen Jahren auch bereits zeitweise geringfügig beschäftigt gewesen und verfüge über eine aufrechte Einstellungszusage, sodass seine (künftige) Selbsterhaltungsfähigkeit anzunehmen sei. Der Revisionswerber habe im Rahmen seines Studiums die Ergänzungsprüfung Deutsch abgelegt und seine Sprachkenntnisse stetig verbessert, sodass von einer perfekten Sprachbeherrschung auszugehen sei. Er habe einen großen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich und werde auch aufgrund seiner Freundlichkeit, seiner Hilfsbereitschaft und seines Engagements geachtet und geschätzt.

Unter den aufgezeigten Umständen liege der Lebensmittelpunkt des Revisionswerbers in Österreich. Er weise eine hervorragende soziale und wirtschaftliche Integration und folglich ein berücksichtigungswürdiges Privat- und Familienleben auf. Bei Abwägung des öffentlichen Interesses an der Beendigung seines Aufenthalts gegen die persönlichen Interessen an seinem weiteren Verbleib in Österreich sei auf Grund des Überwiegens der privaten Interessen der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen und von einer Rückkehrentscheidung abzusehen.

3.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab.

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht ging von dem eingangs wiedergegebenen unstrittigen Sachverhalt aus. Ferner hielt es im Wesentlichen fest:

Der Revisionswerber sei in Serbien aufgewachsen und habe dort gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester in einem - im Hälfteeigentum seines Vaters stehenden - Haus gelebt. Er habe in Serbien die Schule besucht und im Jahr 2005 die Matura abgelegt. Im Jahr 2006 habe er ein Semester an einer technischen Universität studiert.

Der Revisionswerber wohne seit seiner Einreise gemeinsam mit seiner Mutter, die wie seine Schwester bereits seit August 2006 in Österreich lebe, und zuletzt auch mit seinem Vater, der sich seit Juni 2019 legal im Bundesgebiet aufhalte, in der Mietwohnung der Mutter zusammen, wo er auch mit Hauptwohnsitz gemeldet sei. Seine Schwester sei inzwischen verheiratet und lebe gemeinsam mit ihrem Ehemann. Der Revisionswerber habe regelmäßige Kontakte mit seiner Schwester und deren Ehemann, mit einer Tante, dem Onkel und seinen Cousins im Bundesgebiet. Zwischen ihm und den genannten Personen bestünden jedoch keine Abhängigkeitsverhältnisse. In Serbien lebten noch die Großeltern mütterlicherseits, mit denen er monatlich telefoniere, und ein Onkel.

Die Mutter des Revisionswerbers habe seit dem Jahr 2006 gesundheitliche Probleme (unter anderem Depressionen). Sie sei jedoch arbeitsfähig und seit dem Jahr 2007 auch vollzeitbeschäftigt. Sie verdiene derzeit in Kurzarbeit € 1.150,-- monatlich und bestreite aktuell die Lebenshaltungskosten für sich, ihren arbeitslosen Ehemann (Vater des Revisionswerbers) und den Revisionswerber, sie bezahle insbesondere auch die Prämien für dessen Krankenversicherung. Umgekehrt unterstütze sie der Revisionswerber von Beginn seines Aufenthalts an unter anderem im Zusammenhang mit ihren Depressionen und sonstigen gesundheitlichen Problemen (etwa durch gutes Zureden, Begleiten und Übersetzen bei Arzt- und Krankenhausterminen etc.). Die Unterstützung seiner Mutter erfolge ferner durch seinen Vater und könne zum Teil auch durch seine Schwester wahrgenommen werden. Es bestehe jedenfalls keine über eine normale gefühlsmäßige Verbindung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hinausgehende besondere Abhängigkeit zwischen dem Revisionswerber und seiner Mutter bzw. auch seinem Vater.

Der Revisionswerber habe im Rahmen seines Studiums im Juni 2008 zunächst die Ergänzungsprüfung Deutsch abgelegt. In der Folge habe er für 20 Semester das Bachelorstudium Technische Informatik inskribiert, er habe dabei nur 74,5 ECTS-Punkte (von 180) erreicht, wobei auch bloß 15 bis 20 Prozent Lehrveranstaltungen aus dem Curriculum jenes Studiums gewesen seien. Er habe daher das Studium nicht ernsthaft betrieben und insbesondere seit dem Jahr 2012 nicht viel Motivation und Kraft dafür aufgewendet. Er habe die Aufenthaltsberechtigung als Studierender erwirkt, um die sonst strengeren Bestimmungen des NAG für das Erlangen eines Titels zu umgehen.

Der Revisionswerber sei unbescholten, ledig und kinderlos. Er weise sehr gute Deutschkenntnisse auf, seine Muttersprache sei Serbisch. Er sei gesund, arbeitswillig und arbeitsfähig. Bis zum Jahr 2015 sei er von seiner Großmutter väterlicherseits finanziell unterstützt worden. Nach deren Ableben sei er von Dezember 2015 bis September 2016 und von Dezember 2016 bis März 2018 geringfügig beschäftigt gewesen und habe zuletzt € 445,45 netto im Monat verdient. Seit März 2018 sei er mangels Arbeitserlaubnis nicht mehr berufstätig und werde von seiner Mutter unterstützt, wobei er auch deren Wohnung unbefristet und mietfrei mitbenützen könne. Er verfüge über einen Arbeitsvorvertrag als Hilfsarbeiter bei einem Unternehmen in Österreich mit einem Monatslohn von € 1.822,55 brutto. Sein letzter Arbeitgeber habe ihm eine hervorragende Arbeitsleistung, viel Engagement und Zuverlässigkeit sowie fachliche Qualifikation, Teamfähigkeit und Freundlichkeit bescheinigt.

Der Revisionswerber habe ein paar Freunde in Österreich. Zuletzt habe er sich vor zwei oder drei Jahren mit seinen Studienfreunden persönlich getroffen, es bestehe aber - wenngleich sehr seltener - telefonischer Kontakt. Er sei sonst in keinem Verein aktiv und nicht ehrenamtlich tätig.

Der Revisionswerber sei in der Vergangenheit regelmäßig - für etwa zehn Tage im Jahr - in Serbien gewesen und habe dabei im Haus seines Vaters gewohnt; er könne dort auch im Fall seiner Rückkehr Unterkunft nehmen. Ebenso könne er in Serbien einer Arbeit nachgehen und sich selbst erhalten, seine Familie könne ihn dabei zumindest vorübergehend unterstützen. Er könne von Serbien aus auch den Kontakt zu seinen Angehörigen in Österreich per Telefon bzw. sozialen Medien sowie durch Besuche aufrechterhalten. Ferner könne er vom Heimatstaat aus die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nach dem NAG beantragen.

Nicht zuletzt traf das Bundesverwaltungsgericht - durch weitläufige Zitierung aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Serbien - Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat.

3.3. Rechtlich folgerte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen:

Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK habe jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Der Begriff des Familienlebens umfasse nicht nur die Beziehungen zwischen Eltern und minderjährigen Kindern (Kernfamilie), sondern auch darüber hinausgehende familiäre Beziehungen; dies allerdings nur, wenn eine gewisse Beziehungsintensität (besondere Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgingen) vorliege. Gegenständlich sei nach den getroffenen Feststellungen ein Eingriff in das Familienleben des Revisionswerbers nicht gegeben, weil es an einer über die normalen gefühlsmäßigen Bindungen hinausgehenden besonderen Beziehungsqualität (zu seinen Eltern bzw. sonstigen Angehörigen) fehle.

Der Begriff des Privatlebens umfasse persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv seien. Vorliegend sei auf Grund der Aufenthaltsdauer und der daraus resultierenden sozialen Anknüpfungspunkte sowie des Wunsches des Revisionswerbers, sein künftiges Leben in Österreich zu gestalten, ein Eingriff in das Privatleben anzunehmen. Es sei daher zu prüfen, ob der Eingriff im Sinn des Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässig sei. Dies sei aus den nachfolgenden Erwägungen zu bejahen.

Was die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts betreffe, so halte sich der Revisionswerber zwar bereits seit dem Jahr 2007 im Bundesgebiet auf, wobei sein Aufenthalt zunächst rechtmäßig gewesen sei. Allerdings habe er nie über einen unbefristeten Aufenthaltstitel verfügt, er habe daher nicht darauf vertrauen dürfen, dauerhaft in Österreich bleiben zu können. Vielmehr sei für ihn vorhersehbar gewesen, dass er bei Ablauf des Titels bzw. Nichterfüllung der Voraussetzungen für die weitere Erteilung das Bundesgebiet wieder verlassen müsse. Dem sei er freilich nicht nachgekommen, sondern sei unrechtmäßig in Österreich verblieben, worin eine Verwaltungsübertretung im Sinn des § 120 FPG mit hohem sozialen Unwert zu erblicken sei. Sein Privatleben sei unter diesen Umständen nicht schützenswert.

Auch ein mehr als zehnjähriger Aufenthalt führe nicht zwingend zum Überwiegen der persönlichen Interessen, wenn Umstände vorlägen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärkten bzw. die lange Aufenthaltsdauer relativierten. Davon sei hier auszugehen, zumal der Revisionswerber jedenfalls seit dem Jahr 2012 nicht mehr ernsthaft studiert habe. Er habe von Beginn an bloß die für die Titelverlängerung erforderlichen ECTS-Punkte (ohne Rücksicht auf Pflichtveranstaltungen laut dem Studienplan) erlangt und zuletzt keinerlei Erfolg mehr erzielt, sodass er im Ergebnis nur einen geringfügigen Teil des Studiums absolviert habe, obwohl er die Regelstudiendauer um ein Mehrfaches überschritten habe. Sein Aufenthalt habe daher jedenfalls seit dem Jahr 2012 auf einer beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung beruht.

Was den Grad der Integration anbelange, so verfüge der Revisionswerber zwar über diverse familiäre Beziehungen im Bundesgebiet, spreche sehr gut Deutsch, sei bereits geringfügig beschäftigt gewesen und verfüge auch über einen Arbeitsvorvertrag. Diesen Umständen sei jedoch keine entscheidende Bedeutung beizumessen, komme doch nach der Rechtsprechung selbst dem Umstand, dass ein Fremder perfekt Deutsch spreche und vielfältig sozial vernetzt und integriert sei, nur untergeordnete Bedeutung zu, wenn er keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale aufweise. Im Übrigen verfüge der Revisionswerber kaum über private Beziehungen in Österreich, mit ein paar Freunden habe er seit einigen Jahren (nur mehr) telefonischen Kontakt. Das Empfehlungsschreiben seines letzten Arbeitgebers dokumentiere zwar eine gewisse soziale Vernetzung, eine außergewöhnliche Integration sei auch daraus nicht zu entnehmen.

Was die Bindungen zum Herkunftsstaat betreffe, so habe der Revisionswerber den überwiegenden Teil seines bisherigen Lebens in Serbien verbracht, sei dort aufgewachsen, zur Schule gegangen, habe maturiert und zu studieren begonnen. Er beherrsche die dortige Sprache, habe noch Verwandte im Heimatstaat, und es sei davon auszugehen, dass er dort über einen gewissen Freundes- und Bekanntenkreis verfüge, sei er doch bis zum Jahr 2017 jährlich zu Besuch gewesen. Davon ausgehend weise nichts darauf hin, dass er sich im Fall der Rückkehr nicht neuerlich in Serbien integrieren könnte.

Was die strafrechtliche Unbescholtenheit anbelange, so habe diese weder eine Stärkung der persönlichen Interessen noch eine Schwächung des öffentlichen Interesses zur Folge.

Insgesamt ergebe die Interessenabwägung somit, dass das öffentliche Interesse an einer geordneten Zuwanderung bzw. an der Einhaltung der aufenthaltsrechtlichen Regelungen höher wiege als die persönlichen Interessen des Revisionswerbers an seinem weiteren Verbleib in Österreich. Folglich sei der Antrag gemäß § 55 AsylG 2005 abzuweisen und eine Rückkehrentscheidung samt den sonstigen Aussprüchen zu erlassen gewesen.

3.4. Das Bundesverwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4. Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, deren Behandlung mit Beschluss vom 23. Februar 2021, E 3719/2020-14, abgelehnt wurde. Nach Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof erhob der Revisionswerber die hier gegenständliche außerordentliche Revision.

Die Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Die Revision ist - entgegen dem den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden (§ 34 Abs. 1a VwGG) Ausspruch des Bundesverwaltungsgerichts - zulässig und auch begründet, weil - wie der Revisionswerber (unter anderem) rügt - das Bundesverwaltungsgericht in Bezug auf die für die Abweisung des Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 gleichermaßen wie für die Erlassung der Rückkehrentscheidung maßgebliche Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen ist.

6. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

Die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich nehmen grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren.

Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt ist regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, werden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach einem so langen Inlandsaufenthalt noch als verhältnismäßig angesehen (vgl. zum Ganzen VwGH 8.11.2018, Ra 2016/22/0120, mwN).

7.1. Vorliegend hielt sich der Revisionswerber bis zur rechtskräftigen Abweisung seines letztmaligen Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für Studierende bereits durchgehend mehr als elf Jahre - rechtmäßig (vgl. § 24 Abs. 1 dritter Satz NAG) - im Inland auf. Daran schloss bis zum nunmehr angefochtenen Erkenntnis ein weiterer knapp zweieinhalbjähriger unrechtmäßiger Aufenthalt an. Demzufolge war der Revisionswerber - im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa VwGH 11.8.2021, Ra 2020/18/0309, mwN) - jedenfalls bereits ungefähr dreizehneinhalb Jahre lang, davon die weit überwiegende Zeit rechtmäßig im Inland aufhältig.

Bei einem derart langen - noch dazu weit überwiegend rechtmäßigen - inländischen Aufenthalt ist nach der oben aufgezeigten Rechtsprechung regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen. Nur wenn der Revisionswerber die im Inland verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hätte, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wäre eine Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise noch als verhältnismäßig anzusehen.

7.2. Gegenständlich kann freilich keine Rede davon sein, dass der Revisionswerber die Zeit seines langjährigen Aufenthalts überhaupt nicht genützt hätte, um sich in Österreich sozial und beruflich zu integrieren, ging doch (auch) das Bundesverwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis davon aus, dass der Revisionswerber gewisse nicht zu vernachlässigende Integrationsschritte gesetzt hat. So stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass der Revisionswerber die Ergänzungsprüfung Deutsch abgelegt habe und sehr gute Deutschkenntnisse aufweise, dass er mehr als zwei Jahre lang neben dem betriebenen Studium geringfügig beschäftigt gewesen sei und ein (überaus positives) Empfehlungsschreiben seines letzten Arbeitgebers vorweisen könne, dass er einen Arbeitsvorvertrag (über eine - seine künftige Selbsterhaltung ermöglichende - Vollzeitbeschäftigung) abgeschlossen habe, dass er einen gewissen Freundeskreis im Bundesgebiet (wenngleich mit zuletzt nur telefonischen Kontakten) aufgebaut habe und dass er auch über diverse familiäre Beziehungen mit seinen Eltern und sonstigen Angehörigen (wenngleich - nach Ansicht des Verwaltungsgerichts, deren Richtigkeit hier dahinstehen kann - ohne besondere Abhängigkeitsverhältnisse) verfüge.

Mit Blick auf die aufgezeigten zahlreichen Anknüpfungspunkte ist jedenfalls davon auszugehen, dass der Revisionswerber seinen Lebensmittelpunkt mittlerweile in Österreich hat, mögen auch gewisse Bindungen zum Herkunftsstaat (Kontakte zu Angehörigen, ein Freundes- und Bekanntenkreis, die Beherrschung der Sprache, eine Unterkunft und Erwerbsmöglichkeit) fortbestehen.

7.3. Zwar ist - wie das Verwaltungsgericht zutreffend hervorhebt - nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt bei Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren würden (vgl. etwa VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).

Derartige Umstände hat das Verwaltungsgericht jedoch - abgesehen vom (nur) zu einem geringen Teil unrechtmäßigen Inlandsaufenthalt, dem in einer Konstellation wie hier kein entscheidendes Gewicht zukommt (vgl. etwa VwGH 25.4.2014, Ro 2014/21/0054) - nicht in Ansatz gebracht.

Insbesondere ist dem vom Verwaltungsgericht hervorgehobenen Umstand, dass der Aufenthaltsstatus ein unsicherer gewesen sei, zwar Bedeutung beizumessen (vgl. § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG). Der Umstand hat aber bei der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der erlangten Integration (überhaupt) kein Gewicht beizumessen wäre bzw. dass das private und familiäre Interesse nicht zur Unzulässigkeit der Aufenthaltsbeendigung führen könnte (vgl. etwa VwGH 4.8.2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253).

Auch der weitere vom Verwaltungsgericht erhobene Vorwurf, der Revisionswerber habe von Anfang an beabsichtigt, die Regelungen über eine geordnete Zuwanderung zu umgehen, ist bei dem festgestellten Sachverhalt - wonach der Revisionswerber während des weit überwiegenden Teils seines Aufenthalts ein Studium betrieben und zu dem Zweck über regelmäßig verlängerte Aufenthaltstitel verfügt hat, deren Erteilung immerhin den Nachweis eines gewissen Studienerfolgs voraussetzte - nicht nachvollziehbar (vgl. jüngst VwGH 23.7.2021, Ra 2018/22/0282).

7.4. Soweit sich das Verwaltungsgericht auf (vermeintlich) gegenteilige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs beruft, kann dem ebensowenig gefolgt werden. Der Verwaltungsgerichthof ist in ähnlich gelagerten Fallkonstellationen von einer nicht zu vernachlässigenden sozialen und beruflichen Integration eines Fremden im Zusammenhang mit einer jeweils sehr langen weit überwiegend rechtmäßigen Aufenthaltsdauer ausgegangen und hat dabei ein Überwiegen der privaten Interessen am weiteren Verbleib in Österreich gegenüber dem gegenläufigen öffentlichen Interesse anerkannt (vgl. neuerlich VwGH Ra 2016/22/0120 und Ra 2018/22/0282).

Dem steht insbesondere das vom Verwaltungsgericht hervorgehobene Erkenntnis VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0243, nicht entgegen, lag doch jener Entscheidung ein in maßgeblichen Punkten verschiedener Sachverhalt (um zwei Jahre kürzere Aufenthaltsdauer, offenbares Fehlen jeglichen Schul- bzw. Studienerfolgs) zugrunde. Was die vom Verwaltungsgericht zitierte Entscheidung VwGH 25.3.2010, 2009/21/0188, betrifft, so war auch dort (allein schon mit Blick auf den nur ungefähr siebeneinhalbjährigen Aufenthalt) ein nicht vergleichbarer Sachverhalt gegeben.

8. Insgesamt ist daher vorliegend jedenfalls von einer nicht zu vernachlässigenden sozialen und beruflichen Integration des unbescholtenen Revisionswerbers im Verlauf seines langjährigen weit überwiegend rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich auszugehen. Folglich kommt eine Aufenthaltsbeendigung nicht in Betracht, das Bundesverwaltungsgericht hätte vielmehr am Maßstab der dargestellten Judikatur den privaten Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich den Vorrang geben müssen.

9. Das angefochtene Erkenntnis war deshalb - hinsichtlich sämtlicher Aussprüche (vgl. erneut VwGH Ra 2016/22/0120) - wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Eine mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte im Hinblick darauf unterbleiben (§ 39 Abs. 2 Z 4 VwGG).

10. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. September 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021170059.L00

Im RIS seit

11.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

09.12.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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