TE Bvwg Erkenntnis 2020/11/20 G314 2210394-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.11.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

20.11.2020

Norm

BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs4
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


G314 2210394-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, vertreten durch Mag. Dr. Helmut BLUM, Rechtsanwalt in Linz, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 23.10.2018, Zl. XXXX , zu Recht:

A) Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer (BF) wurde in Österreich seit 2015 mehrmals strafgerichtlich verurteilt. Zuletzt wurde durch das Landesgericht XXXX zu AZ XXXX eine Freiheitsstrafe von 15 Monaten verhängt, aus deren Vollzug der BF am XXXX .2018 bedingt entlassen wurde.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) leitete ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen den BF ein und forderte ihn mit Schreiben vom 10.08.2018 auf, sich dazu zu äußern. Der BF erstattete im September 2018 eine entsprechende Stellungnahme, in der er insbesondere auf seine Bindungen zu Österreich hinweist.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid erließ das BFA gegen den BF gemäß § 52 Abs 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt I.) und stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Bosnien-Herzegowina zulässig sei (Spruchpunkt II.). Gemäß § 55 Abs 1 bis Abs 3 FPG wurde eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 53 Abs 1 iVm Abs 3 Z 1 FPG ein mit fünf Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Die Rückkehrentscheidung wurde mit dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 52 Abs 4 Z 4 FPG begründet. Der BF sei bereits fünf Mal rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt worden. Sein Aufenthalt widerspräche dem öffentlichen Interesse, was einen Versagungsgrund bezüglich der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels darstelle. Das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit überwiege das persönliche Interesse des erwachsenen BF, der kein besonderes Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis zu seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen habe, an einem Verbleib.

Dagegen richtet sich die Beschwerde des BF mit den Anträgen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und den angefochtenen Bescheid zu beheben, in eventu die Dauer des Einreiseverbots zu reduzieren. Hilfsweise wird auch ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt. Der BF begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass er seit 1993 mit seiner gesamten Familie in Österreich lebe. Er habe hier die Schule besucht, eine Lehre abgeschlossen und sei nachhaltig am österreichischen Arbeitsmarkt integriert. In Bosnien und Herzegowina habe er außer seinen Großeltern keine Anknüpfungen. Er sei zwar straffällig geworden, habe sein Leben seither aber mit Unterstützung von Bewährungshilfe und Drogenberatung grundlegend geändert. Er gehe auch nach der Haftentlassung wieder einer regelmäßigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach, sodass aufgrund der Änderung seines Lebens und des Rückhalts seiner Familie eine positive Zukunftsprognose zu erstellen sei. In der gebotenen Gesamtbetrachtung verletze die Rückkehrentscheidung sein Recht auf Privat- und Familienleben.

Das BFA legte die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem Antrag vor, die Beschwerde abzuweisen.

In der Folge wurde das BVwG darüber informiert, dass gegen den BF ein Strafverfahren wegen des Verdachts auf unerlaubten Umgang mit Suchtgiften (§ 27 Abs 2 SMG) geführt worden sei und dass die Staatsanwaltschaft vorläufig von der Verfolgung zurückgetreten sei.

Die Anfrage des BVwG, ob zum Zeitpunkt der Ausstellung des letzten Aufenthaltstitels die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF bekannt gewesen seien, beantwortete der Bürgermeister der Stadt XXXX als Behörde nach dem NAG am 11.11.2020 dahingehend, dass das BFA am 06.07.2017 mitgeteilt habe, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen aufgrund der diversen Verurteilungen nicht zulässig seien, aber die Voraussetzungen für eine Rückstufung gemäß § 28 Abs 1 NAG vorlägen. Nach der Haftentlassung sei dem BF daher sein unbefristetes Aufenthaltsrecht entzogen und ein von XXXX .2018 bis XXXX .2021 gültiger Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ erteilt worden.

Feststellungen:

Der BF ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina. Seine Muttersprache ist Bosnisch, er verfügt auch über sehr gute Deutschkenntnisse. Er ist ledig und kinderlos, gesund und arbeitsfähig. Er besitzt einen am XXXX .2014 ausgestellten bosnisch-herzegowinischen Reisepass, der noch bis XXXX .2024 gültig ist.

Der BF wurde am XXXX in der bosnisch-herzegowinischen Stadt XXXX geboren. Kurz nach seiner Geburt übersiedelte er mit seinen Eltern nach Österreich, wo er erstmals von XXXX .1994 bis XXXX .1994 meldeamtlich erfasst war. Danach scheint er von XXXX .1995 bis XXXX .1996 und von XXXX .1996 bis XXXX .1997 mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet auf. Seit XXXX .1997 ist er durchgehend in XXXX mit Hauptwohnsitz gemeldet. Er lebt dort in einem gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern und seinem 2005 geborenen Bruder. Bis 2019 lebte dort auch die XXXX geborene Schwester des BF, die nach ihrer Eheschließung mittlerweile in XXXX wohnt.

Der BF wuchs in Österreich auf, wo er nach der Pflichtschule eine Lehre zum XXXX absolvierte, die er XXXX mit der Lehrabschlussprüfung beendete. Seither ging er im Bundesgebiet mit Unterbrechungen, in denen er Arbeitslosengeld und einmal (von Oktober bis Dezember 2016) Krankengeld bezog, als (teilweise geringfügig beschäftigter) Arbeiter einer Erwerbstätigkeit nach. Zu Bosnien und Herzegowina, wo er sich nur gelegentlich besuchsweise aufhielt, hat er abgesehen von seinen dort lebenden Großeltern kaum Anknüpfungen.

Ab XXXX .1999 hatte der BF in Österreich ein unbefristetes Aufenthaltsrecht, zuletzt dokumentiert durch den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EG“ (Kartengültigkeit XXXX .2012 bis XXXX .2017).

Die BF weist fünf rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen im Inland auf. Erstmals wurde er am XXXX (rechtskräftig mit XXXX ) vom Bezirksgericht XXXX zu XXXX wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung (§ 88 Abs 1 StGB) zu einer Geldstrafe von EUR 750 (50 Tagessätze zu je EUR 15) verurteilt. Dieser Verurteilung lag zu Grunde, dass er als Lenker eines Autos den Vorrang missachtete und dadurch mit einem anderen Fahrzeug kollidierte, dessen Lenker dabei leichte Verletzungen (Kratzer am linken Unterarm und Zeigefinger, Zerrung der Halswirbelsäule) erlitt. Als mildernd wurden das Geständnis des BF und dessen Unbescholtenheit, als erschwerend das Fehlen einer Lenkberechtigung gewertet. Die Geldstrafe wurde am XXXX .2015 vollzogen.

Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom 22.05.2015,
XXXX , wurde der BF wegen der Vergehen des (teils versuchten) Suchtgifthandels (§ 27 Abs 1 Z 1 achter Fall und Abs 3 SMG) und des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§ 27 Abs 1 Z 1 und Abs 2 SMG) zu einer sechswöchigen, bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe verurteilt. Dem Urteil lag zu Grunde, dass er im XXXX 2014 zwei Abnehmern 50 g Cannabis verkauft bzw. zu verkaufen versucht hatte sowie in wiederholten Angriffen Cannabis und opioidhaltige Subutex-Tabletten (Wirkstoff Buprenorphin) ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen hatte. Als mildernd wertete das Gericht das Geständnis, die Unbescholtenheit, die teilweise Sicherstellung des Suchtgifts und den teilweisen Versuch; als erschwerend das Zusammentreffen von Vergehen. 2016 wurde die ursprünglich dreijährige Probezeit auf fünf Jahre verlängert.

Am XXXX folgte zu XXXX des Bezirksgerichts XXXX wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgift (§ 27 Abs 2 iVm Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG) die Verurteilung zu einer einmonatigen, zunächst bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe. Der Verurteilung lag zu Grunde, dass der BF von XXXX 2014 bis XXXX .2015 Subutex-Tabletten ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen hatte. Als mildernd wurde das Geständnis, als erschwerend zwei Vorverurteilungen, davon eine einschlägige, gewertet. 2017 wurde die bedingte Strafnachsicht anlässlich einer Folgeverurteilung widerrufen.

Am XXXX .2016 wurde der BF verhaftet und in der Folge in der Justizanstalt XXXX in Untersuchungshaft angehalten. Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , XXXX , wurde er wegen der Vergehen des Suchtgifthandels (§ 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 3 erster Fall SMG), des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§ 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall SMG) und nach § 50 Abs 1 Z 3 WaffG nach dem ersten Strafsatz des § 28a Abs 3 SMG zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Ein Strafteil von sechs Monaten wurde unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen. Dem Urteil lag zu Grunde, dass er von Anfang 2015 bis Anfang XXXX 2016 Suchtgift in einer die Grenzmenge des § 28b SMG übersteigenden Menge (1,210 g Cannabiskraut) gewinnbringend an diverse Abnehmer verkauft hatte, wobei er an Suchtmittel gewöhnt war und die Tat vorwiegend beging, um sich für seinen persönlichen Gebrauch Suchtmittel oder Mittel zu deren Erwerb zu verschaffen. Außerdem hatte er ab XXXX .2014 Cannabiskraut und ab XXXX .2015 Buprenorphin (Subutex-Tabletten) zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen sowie zwischen XXXX 2014 und XXXX 2016 entgegen einem Waffenverbot eine Gasdruckpistole samt Munition besessen. Als mildernd wurden das Geständnis und die teilweise Sicherstellung des Suchtgiftes, als erschwerend zwei einschlägige Vorstrafen, das Zusammentreffen strafbarer Handlungen, der lange Tatzeitraum und der teilweise rasche Rückfall gewertet. Der BF verbüßte den unbedingten Strafteil bis XXXX .2016 in der Justizanstalt XXXX . Anlässlich der nächsten Verurteilung wurde die Probezeit des bedingten Strafteils auf fünf Jahre verlängert.

Am XXXX wurde der BF erneut festgenommen und anschließend in der Justizanstalt XXXX in Untersuchungshaft angehalten. Mit dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , XXXX , wurde er wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels (§ 28a Abs 1 fünfter Fall SMG) und der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§ 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall und Abs 2 SMG) zu einer 15-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er zwischen XXXX .2016 und XXXX 2017 diversen Abnehmern Suchtgift in einer die Grenzmenge übersteigenden Menge (Cannabiskraut, Cocain, Amphetaminsulfat, MDMA-haltige XTC-Tabletten und Methamphetamin) überlassen hatte. Außerdem hatte er von XXXX .2016 bis zu seiner Verhaftung Cannabiskraut, Cocain, Amphetaminsulfat und Subutex-Tabletten für den persönlichen Gebrauch erworben und besessen. Als mildernd wurden das teilweise Geständnis und die teilweise Schadensgutmachung durch Sicherstellung des Suchtgifts gewertet, als erschwerend drei einschlägige Vorverurteilungen, das Zusammentreffen strafbarer Handlungen sowie der rasche Rückfall nach dem Vollzug der letzten Freiheitsstrafe.

Am XXXX .2018 wurde der BF unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit und unter Anordnung der Bewährungshilfe bedingt aus der Haft entlassen. Am XXXX .2020 wurde die Bewährungshilfe, mit der der BF verlässlich und zuverlässig zusammengearbeitet hatte, aufgehoben.

Da das BFA dem Bürgermeister der Stadt XXXX als Niederlassungsbehörde am XXXX .2017 mitgeteilt hatte, dass aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen des BF zwar aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht zulässig seien, jedoch die Voraussetzungen für eine Rückstufung gemäß § 28 Abs 1 NAG vorlägen, wurde ihm mit Bescheid vom XXXX .2018 das unbefristete Aufenthaltsrecht entzogen und ein bis XXXX .2021 gültiger Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ erteilt. Zum Zeitpunkt der Ausstellung dieses Aufenthaltstitels war die Niederlassungsbehörde über die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF informiert.

Nach der Haftentlassung war der BF von XXXX .2018 bis XXXX .2019 vollversichert erwerbstätig. Von XXXX .2019 bis XXXX .2019 und von XXXX .2019 bis XXXX .2019 war er geringfügig beschäftigt. Seit XXXX .2019 besteht wieder ein vollversichertes Beschäftigungsverhältnis, daneben war er von XXXX .2020 bis XXXX .2020 und von XXXX .2020 bis XXXX .2020 geringfügig beschäftigt. Aufgrund der Gewöhnung an Suchtmittel suchte er von XXXX 2018 bis zumindest XXXX 2018 regelmäßig eine Drogenberatungsstelle in XXXX auf.

Im XXXX 2019 trat die Staatsanwaltschaft XXXX von der Verfolgung des BF wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln (§ 27 Abs 1 SMG) vorläufig zurück, nachdem er im Rahmen einer Befragung vor Beamten des Stadtpolizeikommandos XXXX zugegeben hatte, eine geringe Menge Cannabiskraut erhalten bzw. für seinen persönlichen Gebrauch erworben zu haben.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang und die Feststellungen ergeben sich aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG. Entscheidungswesentliche Widersprüche bestehen nicht.

Die Feststellungen basieren insbesondere auf den Angaben des BF, den von ihm vorgelegten Urkunden und den Daten aus dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und dem Strafregister sowie auf den Sozialversicherungsdaten.

Die Feststellungen zu Namen, Geburtsdatum, Geburtsort und Staatsangehörigkeit des BF beruhen auf den entsprechenden Feststellungen im angefochtenen Bescheid, denen die Beschwerde nicht entgegentritt, sowie auf seinem Reisepass, dessen Datenblatt dem BVwG in Kopie vorliegt (AS 287). Seine persönlichen und familiären Verhältnisse können aufgrund der plausiblen Angaben in der Beschwerde und der Stellungnahme festgestellt werden. Anhaltspunkte für Kinder oder andere Sorgepflichten sind nicht aktenkundig, ebensowenig für eine Ehe oder Lebensgemeinschaft oder für relevante Gesundheitsbeeinträchtigungen.

Aufgrund der Herkunft des BF und des Aufwachsens in einem bosnisch-herzegowinischen Familienverband liegen muttersprachliche Kenntnisse der bosnischen Sprache nahe, die auch aus der Erkennungsdienstlichen Evidenz hervorgehen. Da der BF seit seiner frühen Kindheit in Österreich lebt, hier die Schule besuchte, eine Lehre abschloss und einer Erwerbstätigkeit nachgeht, können auch sehr gute Deutschkenntnisse festgestellt werden, zumal er im vorgelegten Abschlusszeugnis der Berufsschule im Pflichtgegenstand Deutsch mit der Note „Gut“ beurteilt wurde.

Der Aufenthalt des BF in Österreich und der gemeinsame Haushalt mit seinen Eltern, seinem jüngeren Bruder und (bis 2019) auch mit seiner Schwester wird anhand seiner Angaben dazu und der Wohnsitzmeldungen laut ZMR festgestellt. Demgemäß verfügte er laut dem Schreiben der Niederlassungsbehörde vom XXXX .2020 (OZ 6) seit 1999 über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. Die zuletzt ausgestellte Karte, die dieses dokumentierte, ist im IZR ersichtlich.

Die Ausbildung des BF geht aus seiner Stellungnahme hervor, die insoweit mit den vorliegenden Lehrabschlusszeugnissen (AS 435 ff) übereinstimmt. Die Erwerbstätigkeit des BF im Bundesgebiet sowie der Bezug von Arbeitslosen- und Krankengeld können anhand des Versicherungsdatenauszugs festgestellt werden; von seinem Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung liegt ein Arbeitszeugnis vor (AS 431).

Über die Kontakte zu den dort lebenden Großeltern hinausgehende Anknüpfungen zu Bosnien-Herzegowina sind weder den Verwaltungsakten noch dem Bescheid oder der Beschwerde zu entnehmen.

Die Feststellungen zum Suchtgiftkonsum und zur Beschaffungskriminalität des BF beruhen auf den entsprechenden Feststellungen im Urteilen des Landesgerichts XXXX vom XXXX , XXXX (Urteilseite 1) und seinen Angaben im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung vom XXXX .2017 (AS 69 ff) und des Abtretungs-Berichts (OZ 4).

Die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF, die zugrundeliegenden Taten und die Strafbemessungsgründe ergeben sich aus dem Strafregister und den vorliegenden Urteilsausfertigungen. Der Vollzug der Geld- und Freiheitsstrafen ergibt sich aus dem Strafregister, aus Wohnsitzmeldungen des BF in Justizanstalten laut ZMR, den aktenkundigen Vollzugsinformationen vom XXXX .2016, vom XXXX .2017, und vom XXXX .2017 sowie aus Vorhaftanrechnungen laut den Strafurteilen. Der Widerruf der bedingten Nachsicht und die Probezeitverlängerungen ergeben sich aus dem Strafregister und den entsprechenden Beschlüssen des Landesgerichts XXXX . Die bedingte Entlassung sowie die Anordnung und Aufhebung der Bewährungshilfe gehen ebenfalls aus dem Strafregister hervor. Da der Entlassungstag laut Strafregister ( XXXX .2018) ein Samstag war, wurde der BF – wie aus dem ZMR ersichtlich - § 148 Abs 2 StVG entsprechend am Vortag entlassen.

Die Zusammenarbeit des BF mit seinem Bewährungshelfer wird anhand des mit der Beschwerde vorgelegten Berichts vom XXXX .2018 festgestellt, der Besuch der Drogenberatungsstelle aus der Bestätigung vom XXXX .2018. Die vorzeitige Aufhebung der Bewährungshilfe laut Strafregister zeigt, dass diese ab Anfang 2020 nicht mehr für notwendig erachtet wurde.

Die Rückstufung des unbefristeten Aufenthaltstitels und die Erteilung einer „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ ergibt sich aus dem Schreiben OZ 6 vom XXXX .2020 sowie aus dem IZR. Die Feststellung, dass die Niederlassungsbehörde bei der Erteilung des befristeten Aufenthaltstitels am XXXX .2018 über die strafgerichtlichen Verurteilungen des BF informiert war, ergibt sich ebenfalls aus dem Inhalt des Schreibens vom XXXX .2020, in dem auf „div. Verurteilungen“ und auf die kurz vor Ausstellung des Aufenthaltstitels erfolgte Haftentlassung des BF Bezug genommen wird.

Der Suchtgiftkonsum des BF im XXXX 2019 und der Rücktritt von der Verfolgung werden anhand der Beschwerdenachreichungen vom XXXX .2019 (OZ 3) und vom XXXX .2019 (OZ 4) festgestellt.

Rechtliche Beurteilung:

Der BF ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina und somit Drittstaatsangehöriger iSd § 2 Abs 4 Z 10 FPG. Er hält sich gemäß § 31 Abs 1 Z 2 FPG auf Grund einer Aufenthaltsberechtigung nach dem NAG rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Gemäß § 52 Abs 4 FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, unter anderem dann mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG oder § 11 Abs 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre (Z 1) oder wenn der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs 1 und 2 NAG) entgegensteht (Z 4). Aufgrund der durch die Delinquenz des BF bewirkten Störung der öffentlichen Ordnung ist zu prüfen, ob der Versagungsgrund gemäß § 11 Abs 2 Z 1 NAG erfüllt ist.

Gemäß § 9 Abs 1 BFA-VG ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des BF eingreift, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei sind gemäß § 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen. Gemäß § 9 Abs 3 BFA-VG ist über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den BF als auf Grund eines gültigen Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen eines Sachverhalts, der die Versagung des ihm zuletzt erteilten Aufenthaltstitels gerechtfertigt hätte, setzt voraus, dass dieser Sachverhalt erst nach Erteilung des Titels eingetreten ist oder der Niederlassungsbehörde erst nachträglich bekannt wurde (siehe VwGH 04.03.2020, Ra 2019/21/0403). Dem BF wurde nach seiner letzten strafgerichtlichen Verurteilung und der folgenden Entlassung aus dem Strafvollzug ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ zu einem Zeitpunkt erteilt, in dem die Niederlassungsbehörde über seine Straftaten informiert war. Allerdings erfolgte die Erteilung des letzten Aufenthaltstitels vor Aufhebung des § 9 Abs 4 FPG durch das FrÄG 2018 (BGBl I Nr. 56/2018), das am 01.09.2018 in Kraft trat. Da der BF von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, erfüllt er die Voraussetzungen des § 9 Abs 4 Z 2 FPG idF vor Inkrafttreten des FrÄG 2018, sodass damals gegen ihn keine Rückkehrentscheidung erlassen werden durfte.

Ungeachtet des Außerkrafttretens des § 9 Abs 4 BFA-VG sind die Wertungen dieser ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG weiterhin beachtlich. In entsprechenden Konstellationen hat die Interessenabwägung daher - trotz einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung - regelmäßig zu seinen Gunsten auszugehen, sodass eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nur bei der Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen erlassen werden darf, etwa bei der Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach § 53 Abs 3 Z 6, 7 und 8 FPG oder bei anderen Formen gravierender Straffälligkeit, z.B. Vergewaltigung oder grenzüberschreitendem Kokainschmuggel (vgl. VwGH 27.08.2020, Ra 2020/21/0276; 16.07.2020, Ra 2019/21/0335 und 19.12.2019, Ra 2019/21/0238).

Der BF hält sich seit Jahrzehnten rechtmäßig in Österreich auf und wurde hier schon im Kleinkindalter sozial integriert. Er spricht Deutsch, schloss im Inland nach dem Schulbesuch eine Berufsausbildung ab und ist (auch nach dem Strafvollzug) am österreichischen Arbeitsmarkt integriert. Durch den nach wie vor bestehenden gemeinsamen Haushalt mit Angehörigen seiner Herkunftsfamilie ist er hier auch sozial verankert. In Bosnien-Herzegowina hat er außer seinen Großeltern keine Bezugspersonen; es bestehen weder private noch familiäre oder berufliche Anknüpfungspunkte. Seine Straftaten sind (auch in ihrer Gesamtheit und bei Berücksichtigung mehrerer rascher Rückfälle) nicht so gravierend, dass trotz dieser starken privaten und familiären Bindungen zu Österreich und der gelockerten Bindung zu seinem Heimatstaat eine Rückkehrentscheidung gegen ihn zu erlassen ist. Die mit Suchtgiftkriminalität erfahrungsgemäß verbundene große Wiederholungsgefahr ist beim BF zudem durch Bewährungshilfe und Drogenberatung sowie dadurch reduziert, dass er sich seit der Haftentlassung im XXXX 2018 im Wesentlichen wohlverhalten hat und nicht mehr strafgerichtlich verurteilt wurde.

Das BVwG verkennt bei der vorzunehmenden Interessenabwägung nicht, dass Suchtgiftdelinquenz (insbesondere das Verbrechen des Suchtgifthandels gemäß § 28a SMG, das der BF zuletzt begangen hat) grundsätzlich ein besonders verpöntes Fehlverhalten darstellt, an dessen Verhinderung ein besonders großes öffentliches Interesse besteht. Eine gewichtende Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in der gebotenen Gesamtbetrachtung trotzdem, dass das Interesse des aufenthaltsverfestigten BF an der Fortführung seines Familien- und Privatlebens in Österreich höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Eine Trennung von seiner Herkunftsfamilie und seinem gefestigten sozialen Umfeld in Österreich ist nicht gerechtfertigt. Mangels besonders verwerflicher Straftaten oder besonders gravierender Straffälligkeit ist der vorliegende Sachverhalt auch nach der Aufhebung des § 9 Abs 4 BFA-VG nicht anders als davor zu beurteilen.

Kommt das BVwG zu der Entscheidung, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 4 FPG unzulässig ist, ist weder ein Ausspruch nach § 9 Abs 3 BFA-VG, eine Rückkehrentscheidung sei auf Dauer unzulässig, zu treffen, noch eine "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 55 Abs 1 AsylG zu erteilen, sondern nur der angefochtene Bescheid des BFA betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zu beheben. Die damit feststehende Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung führt dazu, dass der Aufenthalt des BF auf Grund des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels innerhalb von dessen Gültigkeitsdauer (wieder) rechtmäßig ist (siehe z.B. VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0227). In Stattgebung der Beschwerde ist der angefochtene Bescheid somit ersatzlos zu beheben, zumal die auf der Rückkehrentscheidung aufbauenden Spruchpunkte II. bis IV. des angefochtenen Bescheids aufgrund des Entfalls der Rückkehrentscheidung ebenfalls zu entfallen haben.

Eine Beschwerdeverhandlung entfällt gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

Die Interessenabwägung und die Gefährdungsprognose bei der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sind unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen und daher im Allgemeinen nicht revisibel (siehe zuletzt VwGH 01.09.2020, Ra 2020/20/0239). Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich das BVwG dabei an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung individuelle Verhältnisse mangelnder Anknüpfungspunkt Privat- und Familienleben strafrechtliche Verurteilung Voraussetzungen Wegfall der Gründe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2210394.1.00

Im RIS seit

08.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten