TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/19 W121 2184706-3

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Veröffentlicht am 19.05.2021
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Entscheidungsdatum

19.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs1a

Spruch


W121 2184706-2/18E

W121 2184706-3/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Erika ENZLBERGER-HEIS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom

1. XXXX ,

2. XXXX ,

nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , zu Recht:

ad 1. und 2.:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Rechtskräftiges Verfahren:

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, XXXX und XXXX , brachte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am XXXX einen Antrag auf
internationalen Schutz ein. Der Beschwerdeführer reiste damals mit seinem Bruder ein. Am selben Tag fanden vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftlichen Erstbefragungen des Beschwerdeführers und seines Bruders statt.

1.2. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Hinsichtlich seines Fluchtgrundes führte er auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass er eine Beziehung zu einer reichen Frau aufgenommen habe. Die Frau habe ihn zu sich nach Hause eingeladen und sie hätten Geschlechtsverkehr gehabt. Da sei der Ehemann der Frau überraschend nach Hause gekommen und habe die Anwesenheit eines anderen Mannes im Haus bemerkt. Der Beschwerdeführer sei über das Gästezimmer in den Hof geflohen. Der Ehemann der Frau habe ihn angeschossen, aber nicht verletzt. Der Bruder des Ehemannes arbeite in hoher Position bei der Polizei. Der Beschwerdeführer sei nicht mehr nach Hause gegangen, sondern habe sich zunächst versteckt und sei dann nach XXXX geflohen. Sein Bruder sei wegen des Vorfalls geschlagen worden. Dieser habe rasch das Geschäft verkauft und sei dem Beschwerdeführer nach Nimruz gefolgt. Von dort seien sie gemeinsam zunächst in den Iran und dann nach Europa weitergereist.

1.3. Mit Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers (und mit Bescheid vom XXXX seines Bruders) auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß §§ 57 AsylG kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Zusammenfassend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz damit zu begründen sei, dass der Beschwerdeführer (und sein Bruder) keine konkret gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgungshandlung oder Bedrohung im Heimatland Afghanistan glaubhaft machen konnte.

1.4. Gegen obgenannten Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.

1.5. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , Zlen XXXX , wurde die Beschwerde des Beschwerdeführers (und seines Bruders) als unbegründet abgewiesen und erwuchs die Entscheidung am XXXX in Rechtskraft. Das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts erging nach
Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am XXXX . Dabei wurden
betreffend den Beschwerdeführer und seinen Bruder folgende Feststellungen getroffen:

„Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Die Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehöriger und Angehörige der Volksgruppe der Hazara und bekennen sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Beschwerdeführer wurden im Iran geboren und übersiedelten im Kindesalter im Familienverband in die Stadt XXXX , wo sie bis zum Jahr XXXX aufhältig waren. Die Beschwerdeführer reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellten am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Erstbeschwerdeführer besuchte die Schule bis zur sechsten Schulstufe und war dann als Mechaniker und im Geschäft seines Vaters für Autoersatzteile tätig. Der Zweitbeschwerdeführer besuchte die Schule bis zur zehnten Schulstufe und arbeitete danach ebenfalls im Geschäft seines Vaters. Die Beschwerdeführer sind ledig und haben keine Kinder. Die Familie der Beschwerdeführer besteht aus ihrer Mutter und XXXX Schwestern. Der Vater der Beschwerdeführer ist krankheitsbedingt verstorben. Die Familie der Beschwerdeführer lebt derzeit in der Provinz XXXX . Der Erstbeschwerdeführer steht in Kontakt zu seiner Mutter. Die Beschwerdeführer verfügen über soziale Anknüpfungspunkte in der Stadt XXXX . Es wäre ihnen möglich, den Kontakt wiederaufzunehmen. Die wirtschaftliche Situation der Familie des Beschwerdeführers ist angespannt. Sie lebt von Schneiderarbeiten der Mutter und vom Geld, das ihr der Erstbeschwerdeführer schickt. Die Beschwerdeführer sind im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig. Der Zweitbeschwerdeführer verfügt über Englischkenntnisse. Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist XXXX . Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt aufgrund einer Beziehung des Zweitbeschwerdeführers zu einer verheirateten Frau. Den Beschwerdeführern droht nicht alleine wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Religion konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig ist jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion in Afghanistan alleine aufgrund dieses Merkmals zwangsläufig physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt. Die Beschwerdeführer wären bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt. Die Beschwerdeführer sind seit ihrer Antragstellung am XXXX aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Sie beziehen seit ihrer Antragstellung Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung. Die Beschwerdeführer verfügen in Österreich über keine Verwandten. Der Zweitbeschwerdeführer hat in Österreich eine Freundin; er hat mit ihr noch nie im gemeinsamen Haushalt gelebt. Der Zweitbeschwerdeführer hat bereits Deutschkurse besucht; er verfügt über solide Grundkenntnisse der deutschen Sprache. Er pflegt freundschaftliche Kontakte zu Österreichern. Er hat in Österreich ein unbezahltes Praktikum im Bereich XXXX absolviert. Der Zweitbeschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX wegen des Vergehens der pornografischen Darstellung Minderjähriger nach § 207a Abs. 1 Z 2 und Abs. 3 erster und zweiter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX wurde der Zweitbeschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten und zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt. Schließlich wurde der Zweitbeschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes XXXX wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Der Zweitbeschwerdeführer ist derzeit inhaftiert.“

1.6. Die Frist des Beschwerdeführers zur freiwilligen Ausreise endete mit XXXX .

2. Gegenständliche Verfahren:

Ad 1.: Bescheid vom XXXX , Zl. XXXX (protokolliert hg. zu XXXX ):

2.1. Mit Schreiben des BFA vom XXXX wurde der Beschwerdeführer von der Absicht,
gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen, in Kenntnis
gesetzt. In diesem Zusammenhang wurde er um Beantwortung von Fragen zu seinen
persönlichen Verhältnissen aufgefordert.

2.2. Der Beschwerdeführer kam der Möglichkeit der Stellungnahme innerhalb der gewährten Frist nicht nach.

2.3. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde dem
Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57
AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz,
BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine
Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr.
100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt II.) Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt,
dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig ist
(Spruchpunkt III.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG wurde gegen den
Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen
(Spruchpunkt IV.). Gemäß § 55 Abs. 4 FPG wurde ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt V.). Weiters wurde einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VI.).

Die belangte Behörde führte im Wesentlichen aus, dass sich der Beschwerdeführer seit dem
XXXX in Österreich aufhalte und seit XXXX über kein Aufenthaltsrecht mehr
in Österreich verfüge. Er habe in Österreich kein Privat- und Familienleben und hätte schon mehrere (näher bezeichnete) strafgerichtliche Veurteilungen. Er lebe von der Grundversorgung und sei nicht erwerbstätig. Seine sofortige Ausreise sei im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich. Aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen und der Gesamtbeurteilung seines Verhaltens in Österreich wurde festgestellt, dass die Interessen an einem Einreiseverbot gegenüber seiner Person höher wiegten, als seine Interessen iSd Art. 8 EMRK an einem Verbleib in Österreich.

2.4. In der gegen diesen Bescheid fristgerecht erhobenen Beschwerde bekämpft
der Beschwerdeführer alle Spruchpunkte des Bescheides und führte
begründend aus, dass bei der Beurteilung, ob die Voraussetzung der Zulässigkeit einer
Rückkehrentscheidung in Hinblick auf Art. 8 EMRK vorliegen, eine gesamtheitliche
Betrachtung anzuwenden sei. Zudem hätte sich die Sach- und Rechtslage geändert, weshalb er am XXXX einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hätte, da eine Rückkehr nach Afghanistan für ihn nicht möglich sei. Sein Bruder sei freiwillig nach Afghanistan ausgereist und vor zwei Wochen inhaftiert worden. Der Beschwerdeführer wisse von seinem Bruder, dass nun er gesucht werde, sodass eine Ausreise nicht möglich sei. Deshalb hätte er einen Folgeantrag gestellt. Hinsichtlich des Einreiseverbots wurde eingewandt, dass das Verhalten des Beschwerdeführers im Gefängnis in Österreich und im Flüchtlingsquartier zeige, dass in der Zukunftsprognose zu Unrecht von einer Gefährdung durch den Beschwerdeführer ausgegangen werde.

2.5. Die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am
XXXX vorgelegt.

2.6. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX wurde der Beschwerde gegen den verfahrensgegenständlichen Bescheid die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Ad 2.: Bescheid vom XXXX , Zl. XXXX (protokolliert hg. zu XXXX ):

2.7. Am XXXX stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Niederschriftich befragt gab er zusammengefasst an, einen neuen Asylantrag zu stellen, da er vor ein paar Wochen die Möglichkeit gehabt habe, mit seinem Bruder zu reden. Dieser sei freiwillig nach Afghanistan zurückgereist. Der Beschwerdeführer hätte eigentlich dieselbe Entscheidung treffen wollen, jedoch hätte ihm sein Bruder gesagt, dass er in Afghanistan erneut bedroht worden wäre. Deshalb könne der Beschwerdeführer nicht nach Afghanistan zurückkehren, da ihn die Leute dort weiterhin bedrohen würden. Er hätte eine falsche Beziehung zu gewissen Leuten, die ihn mit Sicherheit umbringen würden.

2.8. Am XXXX gab er beim BFA niederschriftlich hierzu befragt an, dass sein Leben in Gefahr sei. Deswegen sei er nach Österreich gekommen. Er sei mit seinem Bruder nach Österreich gekommen, jedoch sei dieser freiwillig zurückgegangen. Von ihm hätte er gehört, dass die Leute nach dem Beschwerdeführer fragen würden. Der Bruder sei vom Flughafen Kabul abgeholt worden. Es gebe nur einen internationalen Flughafen in Afghanistan. Der Beschwerdeführer hätte seinen Bruder gefragt, ob er ihm Dokumente zukommen lassen könne, damit er seinen Fluchtgrund beweisen könne, weil er schon zwei negative Entscheidungen in Österreich erhalten hätte. Der Beschwerdeführer bekräftigte, dass es sich um dieselben Asylgründe handle, wie bereits zuvor in seinem ersten Asylantrag vorgebracht. Neue Fluchtgründe gebe es nicht. Sein Bruder sei derzeit in Kabul. Er wisse nicht, wo seine Mutter und Schwester wären. Er sei arbeitsfähig.

2.9. Mit Schreiben vom XXXX übermittelte der Beschwerdeführer ein Foto der Vorderseite eines vermeintlichen Schreibens des Ehemannes der Frau, mit der der Beschwerdeführer eine Beziehung gehabt hätte, an eine Staatsanwaltschaft in Afghanistan. Das BFA ließ das Schreiben übersetzen.

2.10. Am XXXX fand daraufhin eine weitere Befragung beim BFA statt. Dem Beschwerdeführer wurde vorgehalten, dass ein krasser Widerspruch zwischen der übermittleten vermeintlichen Anzeige des Ehemannes der afghanischen Frau und seinen eigenen Aussagen vorliege, da in der Anzeige der Name des Beschwerdeführers XXXX laute und er mit dem Mann namens Bashir befreundet gewesen sei. Der Beschwerdeführer gab an, dass Afghanen nur Namen nennen würden und XXXX wie ein Spitzname sei. Er sei nicht mit ihm befreundet gewesen, hätte ihn aber gekannt und gesehen. Er hätte keinen Kontakt mit ihm gehabt. Der Beschwerdeführer führte sodann erneut aus, dass er eine verbotene Beziehung mit einer Frau in Afghanistan gehabt hätte.

2.11. Mit ebenfalls nunmehr angefochtenem Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom XXXX hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf das Herkunftsland Afghanistan gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gem. § 57 AsylG nicht erteilt. Gem. § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen. Es wurde gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist. Gem. § 55 Abs. 1a FPG wurde ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z. 1, 4 FPG wurde ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

Zu seinem neuerlichen Asylvorbringen hielt das BFA fest, dass dieses bereits mit rechtskräftigem Erkenntnis des BVwG vom XXXX entschieden worden sei. Das nunmehr vorgelegte Schreiben des angeblichen Verfolgers sei keineswegs aussagekräftig. Daraus gehe lediglich hervor, dass er mit seinem angeblichen Verfolger perönlich bekannt und sogar befreundet sei. Dies widerspreche jedoch seinen Angaben beim Erstantrag. Diesen Widerspruch hätte er auch nicht nachvollziehbar aufklären können. Auch sein Vorbringen, dass seine Verfolger ihn bei einer etwaigen Rückkehr am Flughafen Kabul bereits erwarten würden, weil dies der einzige internationale Flughafen im Land sei, sei nicht glaubhaft zumal es mehrere internationale Flughäfen in Afghanistan gebe und es nicht möglich sei, alle Flughäfen zu überwachen. Zudem hätte er auch nicht behauptet, dass gegenüber seinem Bruder erneut Gewalt nach dessen Rückkehr ausgeübt worden wäre, um seinen Aufenthaltsort zu erfahren. Es handle sich bei seinem Vorbringen um eine konstruierte Steigerung. Überdies habe er sich bei diesen Angaben auf das gleiche Vorbringen, wie beim ersten Asylantrag berufen.

2.12. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer ebenfalls eine Beschwerde, in der sämtliche Spruchpunkte bekämpft wurden und ausgeführt wurde, dass er in Afghanistan wegen der damaligen Beziehung verfolgt werde. Zudem sei beim Beschwerdeführer keine Gefährdung zu prognostizieren, weshalb das Einreiseverbot zu Unrecht ausgesprochen worden sei.

Die Beschwerdevorlage langte am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX wurde dieser Beschwerde ebenfalls die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

2.13. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines Rechtsvertreters zu seinem neuerlichen Asylantrag und einem etwaigen Privat- und Familienleben in Österreich befragt wurde. Des Weiteren wurde eine gute Bekannte des Beschwerdeführers als Vertrauensperson einvernommen. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm ebenfalls an der Verhandlung teil und verwies auf bereits entschiedene Sache. Der Beschwerdeführer legte Unterlagen vor und machte Angaben zu seinem Privatleben und der Rückkehrsituation in Afghanistan. Er verwies zudem darauf, als Hazara nicht einfach in Afghanistan leben zu können.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person:

Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Afghanistans, gehört der Volksgruppe der XXXX an, beherrscht die Sprache XXXX als Muttersprache, ist schiitischer Moslem, ledig, kinderlos und gesund. Zudem verfügt er über Englischkenntnisse. Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren und übersiedelte im Kindesalter im Familienverband in die Stadt XXXX , wo er bis zum Jahr XXXX aufhältig war.

Der Beschwerdeführer und sein Bruder namens XXXX reisten unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellten am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , wurden ihre Anträge auf internationalen Schutz vollinhaltlich als unbegründet abgewiesen und erwuchs die Entscheidung am XXXX in Rechtskraft. Dabei wurden unter anderem folgende Feststellungen der Entscheidung zu Grunde gelegt: „Den Beschwerdeführern droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt aufgrund einer Beziehung des Zweitbeschwerdeführers zu einer verheirateten Frau. Den Beschwerdeführern droht nicht alleine wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der XXXX oder zur schiitischen Religion konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig ist jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion in Afghanistan alleine aufgrund dieses Merkmals zwangsläufig physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt. Die Beschwerdeführer wären bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht der Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt.“

Der Bruder des Beschwerdeführers ist am XXXX im Rahmen der unterstützten freiwilligen Rückkehr aus dem Bundesgebiet nach Afghanistan ausgereist.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid des BFA vom XXXX wurde dem
Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt I.). Es wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Es wurde gegen ihn ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt IV.). Zudem wurde ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht (Spruchpunkt V.).

Am XXXX stellte der Beschwerdeführer einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz und hielt seine alten Fluchtgründe aufrecht. Außerdem legte er Beweismittel vor und gab an, dass ihm sein Bruder gesagt hätte, dass er nach wie vor in Afghanistan gesucht werde und ihm daher Verfolgung in Afghanistan drohe. Zudem könne er als Hazara nicht in Afghanistan leben.

Der gegenständliche Antrag wurde in der Folge mit dem - ebenfalls verfahrensgegenständlichen - angefochtenen Bescheid vom XXXX wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Zugleich wurde erneut ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht erteilt, gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig ist. Es wurde überdies erneut gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen und ausgesprochen, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise besteht.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer seit Rechtskraft der letzten Entscheidung über seinen ersten Asylantrag kein neues entscheidungsrelevantes individuelles Vorbringen glaubhaft dartun konnte. Er bezieht sich in seinem (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz auf Umstände, die bereits zum Zeitpunkt seiner ersten Asylantragstellung bestanden haben und mangels Glaubwürdigkeit rechtskräftig abgewiesen wurden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass in der Zwischenzeit Umstände eingetreten sind, wonach dem Beschwerdeführer in Afghanistan aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Der Beschwerdeführer leidet an keiner zwischenzeitlich aufgetretenen lebensbedrohlichen oder im Herkunftsland nicht behandelbaren Krankheit.

Außerdem ist zwischenzeitlich auch keine entscheidungswesentliche Änderung der Situation in Afghanistan eingetreten.

Der Beschwerdeführer besuchte die Schule in Afghanistan bis zur zehnten Schulstufe und arbeitete danach als Mechaniker im Geschäft für Autoersatzzeile seines Vaters. Er ist sowohl im Iran als auch in Afghanistan im afghanischen Familienverband aufgewachsen. Er ist mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.

Der Vater des Beschwerdeführers ist krankheitsbedingt verstorben. Die restliche Familie des Beschwerdeführers (Mutter, XXXX Schwestern) lebt derzeit in XXXX . Der zurückgekehrte Bruder des Beschwerdeführers lebt in Kabul. Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seinem Bruder in Kabul. Es kann jedoch nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass ihn seine Familie bei einer Rückkehr nach Afghanistan finanziell unterstützen könnte.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich an mehreren Deutschkursen teilgenommen und verfügt mittlerweile über sehr gute Deutschkenntnisse. Er hat am XXXX die Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau B1 positiv absolviert. Der Beschwerdeführer hat am XXXX die Prüfung ÖSD Zertifikat B2 bestanden. Er hat ein Empfehlungsschreiben und einen Arbeitsvertrag des XXXX vorgelegt, wonach er seit XXXX unbefristet als XXXX beschäftigt war und Brutto XXXX monatlich verdiente. Die Berechtigung für die Ausübung dieser Tätigkeit hatte er aufgrund einer Beschäftigung als XXXX während seiner Haftzeit erlangt. Er befindet sich derzeit in einem Pflichtschulabschlusskurs beim XXXX und sucht nach einer geeigneten Lehrstelle. Er ist derzeit nicht erwerbstätig und bezieht auch keine Grundversorgung. Der Beschwerdeführer hat seine persönlichen Termine bei der Bewährungshilfe eingehalten. Er hat am Projekt „Du kannst was!“ am XXXX teilgenommen. Demnach ist er für eine Teilnahme im Projekt zur Erlangung eines Lehrabschlusses als XXXX gut geeignet. Er hat am XXXX am Seminar „Persönlichkeitstraining mit Mediacoaching“ teilgenommen. Er verfügt in Österreich über keine Verwandten und hat keine sonstigen engen familienähnlichen Bindungen zu sich in Österreich aufhältigen Personen. Der Beschwerdeführer hat lediglich eine gute Bekannte, die auch bei der Verhandlung am XXXX als Vertrauensperson anwesen war. Das Bestehen von besonderen Gründen, die für einen Verbleib des Beschwerdeführers im Bundesgebiet sprechen, sind dem vorliegenden Verwaltungsakt und den Angaben des Beschwerdeführers nicht zu entnehmen. Das Vorliegen einer insgesamt besonders berücksichtigungswürdigen Integration in Österreich kann nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Landesgerichtes XXXX wegen des Vergehens der pornografischen Darstellung Minderjähriger nach § 207a Abs. 1 Z 2 und Abs. 3 erster und zweiter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX wurde er wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von neun Monaten und zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt.

Sodann wurde er mit Urteil des Landesgerichtes XXXX wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.

Schließlich wurde er mit Urteil des Landesgerichtes XXXX wegen der Verbrechen nach §§ 15, 269 Abs. 1 1. Fall StGB (versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt), §§ 15, 83 Abs. 1 StGB (versuchte Körperverletzung), §§ 15, 84 Abs. 4 StGB (versuchte schwere Körperverletzung) sowie § 87 Abs. 1 StGB (absichtliche schwere Körperverletzung) zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten (junger Erwachsener) verurteilt. Dabei ist der Beschwerdeführer mit äußerster Brutalität gegenüber seinem Opfer vorgegangen.

Er wurde am XXXX bedingt, mit einer Probezeit von 3 Jahren aus der Freiheitsstrafe entlassen.

Der Beschwerdeführer war seit seiner Einreise nach Österreich bloß aufgrund seines damaligen Asylantrags vorübergehend zum Aufenthalt berechtigt. Er kam seiner Ausreiseverpflichtung trotz rechtskräftiger Rückkehrentscheidung XXXX nicht nach.

Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK), oder der Prot. Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.

Dem Beschwerdeführer steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung. Er ist jung, gesund, arbeitsfähig und hat eine zehnjährige Schulbildung sowie Berufserfahrung als Mechaniker und Koch sowie Küchenhilfe.

Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Virus kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Zu Afghanitan:

COVID-19:

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Offiziellen Zahlen der WHO zufolge gab es bis 16.11.2020 43.240 bestätigte COVID-19 Erkrankungen und 1.617 Tote (WHO 17.11.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert. Mit dem Herannahen der Wintermonate deutet der leichte Anstieg an neuen Fällen darauf hin, dass eine zweite Welle der Pandemie entweder bevorsteht oder bereits begonnen hat (UNOCHA 12.11.2020).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 23.9.2020; vgl. WB 28.6.2020).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden. Hotels, Teehäuser und andere Möglichkeiten der Unterkunftnahme sind aktuell geöffnet (IOM 23.9.2020).

Die Taliban erlauben in von ihnen kontrollierten Gebieten medizinischen Helfern den Zugang im Zusammenhang mit der Bekämpfung von COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

Mit Stand vom 21.9.2020 war die Zahl der COVID-19-Fälle in Afghanistan seit der höchsten Zahl der gemeldeten Fälle am 17.6.2020 kontinuierlich zurückgegangen, was zu einer Entspannung der Situation in den Krankenhäusern führte (IOM 23.9.2020), wobei Krankenhäuser und Kliniken nach wie vor über Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten berichten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (UNOCHA 12.11.2020; vgl. AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Auch sind die Zahlen der mit COVID-19 Infizierten zuletzt wieder leicht angestiegen (UNOCHA 12.11.2020).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivsta¬tionen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Inten¬sivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung die mit einer Infizierung einhergeht hierbei eine Rolle spielt (UNOCHA 12.11.2020).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß des WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um zwischen 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 23.9.2020; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Frauen und Kinder

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primar- und unteren Sekundarschulen sind bis auf weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt. Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt. Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto: vgl. AAN 1.10.2020).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 23.9.2020). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen wie jenem in Bamyan statt (Flightradar 24 18.11.2020). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 23.9.2020).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Mit Stand 22.9.2020, wurden im laufenden Jahr 2020 bereits 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt - zuletzt jeweils 13 Personen im August und im September 2020 (IOM 23.9.2020).

Quellen:

-        AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (16.7.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/loc al/2035827/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-jjnd_abschiebungsr elevante_LageJn_derJslamischen_Republik_Afghanistan_%28Stand_Juni_2020%29%2C_16.pdf, Zugriff 20.9.2020

-        AAN - Afghanistan Analysts Network (1.10.2020): Covid-19 in Afghanistan (7): The effects of the pandemic on the private lives and safety of women at home, https://www.afghanistan-analysts.org /en/reports/economy-development-environment/covid-19-in-afghanistan-7-the-effects-of-the-pan demic-on-the-private-lives-and-safety-of-women-at-home/, Zugriff 18.11.20020

-        F 24 (18.11.2020): https://www.flightradar24.com/38.14;61.2/4 , Zugriff 31.10.2020

-        Guardian, The (2.5.2020): Civil war, poverty and now the virus: Afghanistan stands on the brink, https://www.theguardian.com/world/2020/may/02/afghanistan-in-new-battle-against-ravages-of-c ovid-19 , Zugriff 28.9.2020

-        IMPACCT - IMPortation And Customs Clearance Together (14.8.2020): COVID-19 Afghanistan Bulletin n° 7-CIQP: 14 August 2020, https://wiki.unece.org/download/attachments/101548399/Af ghanistan_-jCOVID-19j-jCIQPjBulletin_7.pdf?version=1&modificationDate=1597746065204&a pi=v2 , Zugriff 18.11.2020

-        IOM - International Organization for Migration (23.9.2020): Information on the socio-economic situation in light of COVID-19 in Afghanistan, https://www.ecoi.net/en/document/2039345.html , Zugriff 17.11.2020

-        IPS - Inter Press Service (12.11.2020): Despite Conflict and COVID-19, Children Still Dream to Continue Their Education in Afghanistan, http://www.ipsnews.net/2020/11/despite-conflict-covid-1 9-children-still-dream-continue-education-afghanistan/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm _campaign=despite-conflict-covid-19-children-still-dream-continue-education-afghanistan, Zugriff 17.11.2020

-        Martin, Lucile / Parto, Saeed (11.2020): On Shaky Grounds - COVID-19 and Afghanistan's Social, Political and Economic Capacities for Sustainable Peace, https://www.fes-asia.org/news/on-shaky -grounds/, Zugriff 18.11.2020

-        NH - The New Humanitarian (3.6.2020): In Afghanistan, the coronavirus fight goes through Taliban territory, https://www.thenewhumanitarian.org/news/2020/06/03/Afghanistan-Taliban-coronavirus -aid , Zugriff 18.11.2020

-        NYT - New York Times, The (31.7.2020): Border Clashes With Pakistan Leave 15 Afghan Civilians Dead, Officials Say, https://www.nytimes.com/2020/07/31/world/asia/afghanistan-pakistan-border. html , Zugriff 17.11.2020

-        RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (21.8.2020): Pakistan Reopens Key Border Crossing With Afghanistan, https://gandhara.rferl.org/a/pakistan-reopens-key-border-crossing-with-afghani stan/30796100.html , Zugriff 17.11.2020

-        RW - Relief Web [Hall, Samuel] (9.2020): Brief report on the impact of COVID-19 on the situation of elderly people, https://www.ecoi.net/en/document-search/?asalt=8b1bb51cc9&country%5B% 5D=afg&countryOperator=should&useSynonyms=Y&sort_by=origPublicationDate&sort_order=d esc&content=Covid-19&page=5, Zugriff 17.11.2020

-        STDOK - Staatendokumentation des BFA [Tschabuschnig, Florian] (14.7.2020): Afghanistan: IOM- Reintegrationsprojekt Restart III, https://www.ecoi.net/en/document/2033512.html , Zugriff 17.9.2020

-        UNAMA- United Nations Assistance Mission in Afghanistan (10.8.2020): Afghanistan - PROTEC¬TION OF CIVILIANS IN ARMED CONFLICT MIDYEAR REPORT: 1 JANUARY - 30 JUNE 2020, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_poc_midyear_report_2020_-_27_july-revi sed_10_august.pdf, Zugriff 18.11.2020

-        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (12.11.2020): Afgha¬nistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-12-0, Zugriff 17.11.2020

-        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (15.10.2020): Afgha¬nistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-c ovid-19-multi-sectoral-response-operational-situation-report-15 , Zugriff 17.11.2020

-        UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (30.6.2020): Huma¬nitarian Response Plan Afghanistan 2018-2021, https://www.who.int/health-cluster/countries/a fghanistan/Afghanistan-Humanitarian-Response-Plan-COVID-19-June-2020.pdf?ua=1 , Zugriff 17.11.2020

-        WB - World Bank, The (28.6.2020): Awareness Campains Help Prevent Against COVID-19 in Afghanistan, https://reliefweb.int/report/afghanistan/awareness-campaigns-help-prevent-against- covid-19-afghanistan , Zugriff 19.11.2020

-        WHO - World Health Organisation (17.11.2020): Coronavirus Disease (COVID-19) Dashboard, https://covid19.who.int/region/emro/country/af, Zugriff 17.11.2020

-        WHO - World Health Organization (8.2020): Situation Report August 2020, http://www.emro.whoj nt/images/stories/afghanistan/situation-report-august2020.pdf?ua=1,20.10.2020

-        WHO - World Health Organisation (7.2020): AFGHANISTAN DEVELOPMENT UPDATE JULY 2020 - SURVIVING THE STORM, https://documents.worldbank.org/en/publication/documents-reports /documentdetail/132851594655294015/afghanistan-development-update-surviving-the-storm, Zugriff 19.11.2020

1.       Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020).

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012 (UNAMA 27.10.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020).

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 - zurück (UNGASC 17.3.2020).

Die Sicherheitslage im Jahr 2019

Die geographische Verteilung aufständischer Aktivitäten innerhalb Afghanistans blieb, im Vergleich der beiden Jahre 2018 und 2019, weitgehend konstant. Im Jahr 2019 fanden auch weiterhin im Süden und Westen Afghanistans schwere Kampfhandlungen statt; feindliche Aktivitäten nahmen zu und breiteten sich in größeren Gebieten des Nordens und Ostens aus. Der Resolute Support (RS) Mission (seit 2015 die Unterstützungsmission der NATO in Afghanistan) zufolge, waren für das Jahr 2019 29.083 feindliche Angriffe landesweit zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu waren es im Jahr 2018 27.417 (SIGAR 30.1.2020). Mit einer hohen Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen - speziell in den südlichen, nördlichen und östlichen Regionen – blieb die Sicherheitslage vorerst volatil, bevor ein Zeitraum der Reduzierung der Gewalt registriert werden konnte. Die UNAMA (Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan) registrierte für das gesamte Jahr 2019 10.392 zivile Opfer, was einem Rückgang von 5% gegenüber 2018 entspricht (UNGASC 17.3.2020). Es gab im letzten Jahr (2019) eine Vielzahl von Operationen durch die Sondereinsatzkräfte des Verteidigungsministeriums (1.860) und die Polizei (2.412) sowie hunderte von Operationen durch die Nationale Sicherheitsdirektion (RA KBL 12.10.2020).

Seit Ende des Jahres 2019 haben Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente erheblich zugenommen. Im September 2019 fanden die afghanischen Präsidentschaftswahlen statt, in diesem Monat wurde auch die höchste Anzahl feindlicher Angriffe eines einzelnen Monats seit Juni 2012 und die höchste Anzahl effektiver feindlicher Angriffe seit Beginn der Aufzeichnung der RS-Mission im Januar 2010 registriert. Dieses Ausmaß an Gewalt setzte sich auch nach den Präsidentschaftswahlen fort, denn im Oktober 2019 wurde die zweithöchste Anzahl feindlicher Angriffe in einem Monat seit Juli 2013 dokumentiert. Betrachtet man jedoch das Jahr 2019 in dessen Gesamtheit, so waren scheinbar feindliche Angriffe, seit Anfang des Jahres, im Zuge der laufenden Friedensgespräche zurückgegangen. Nichtsdestotrotz führte ein turbulentes letztes Halbjahr zu einem Anstieg feindlicher Angriffe um 6% bzw. effektiver Angriffe um 4% gegenüber 2018 (SIGAR 30.1.2020).

Zivile Opfer

Für das Jahr 2019 registrierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) als Folge des bewaffneten Konflikts 10.392 zivile Opfer (3.403 Tote und 6.989 Verletzte), was einen Rückgang um 5% gegenüber dem Vorjahr, aber auch die niedrigste Anzahl an zivilen Opfern seit dem Jahr 2013 bedeutet. Nachdem die Anzahl der durch ISKP verursachten zivilen Opfer zurückgegangen war, konnte ein Rückgang aller zivilen Opfer registriert werden, wenngleich die Anzahl ziviler Opfer speziell durch Taliban und internationale Streitkräfte zugenommen hatte. Im Laufe des Jahres 2019 war das Gewaltniveau erheblichen Schwankungen unterworfen, was auf Erfolge und Misserfolge im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Taliban und den US-Amerikanern zurückzuführen war. In der ersten Jahreshälfte 2019 kam es zu intensiven Luftangriffen durch die internationalen Streitkräfte und Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte - insbesondere der Spezialkräfte des afghanischen Geheimdienstes NDS (National Directorate of Security Special Forces) (UNAMA 2.2020).

Aufgrund der Suchaktionen der afghanischen Streitkräfte, gab es zur Jahresmitte mehr zivile Opfer durch regierungsfreundliche Truppen als durch regierungsfeindliche Truppen. Das dritte Quartal des Jahres 2019 registrierte die höchste Anzahl an zivilen Opfern seit 2009, was hauptsächlich auf verstärkte Anzahl von Angriffen durch Selbstmordattentäter und IEDs (improvisierte Sprengsätze) der regierungsfeindlichen Seite - insbesondere der Taliban - sowie auf Gewalt in Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen zurückzuführen ist. Das vierte Quartal 2019 verzeichnete, im Vergleich zum Jahr 2018, eine geringere Anzahl an zivilen Opfern; wenngleich sich deren Anzahl durch Luftangriffe, Suchoperationen und IEDs seit dem Jahr 2015 auf einem Rekordniveau befand (UNAMA 2.2020).

Die RS-Mission sammelt ebenfalls Informationen zu zivilen Opfern in Afghanistan, die sich gegenüber der Datensammlung der UNAMA unterscheiden, da die RS-Mission Zugang zu einem breiteren Spektrum an forensischen Daten und Quellen hat. Der RS-Mission zufolge, ist im Jahr 2019 die Anzahl ziviler Opfer in den meisten Provinzen (19 von 34) im Vergleich zum Jahr 2018 gestiegen; auch haben sich die Schwerpunkte verschoben. So verzeichneten die Provinzen Kabul und Nangarhar weiterhin die höchste Anzahl ziviler Opfer. Im letzten Quartal schrieb die RS-Mission 91% ziviler Opfer regierungsfeindlichen Kräften zu (29% wurden den Taliban zugeschrieben, 11% ISKP, 4% dem Haqqani-Netzwerk und 47% unbekannten Aufständischen). 4% wurden regierungsnahen/-freundlichen Kräften zugeschrieben (3% der ANDSF und 1% den Koalitionskräften), während 5% anderen oder unbekannten Kräften zugeschrieben wurden. Diese Prozentsätze entsprechen in etwa den RS-Opferzahlen für Anfang 2019. Als Hauptursache für zivile Opfer waren weiterhin improvisierte Sprengsätze (43%), gefolgt von direktem (25%) und indirektem Beschuß (5%) verantwortlich - dies war auch schon zu Beginn des Jahres 2019 der Fall (SIGAR 30.1.2020).

Die erste Hälfte des Jahres 2020 war geprägt von schwankenden Gewaltraten, welche die Zivilbevölkerung in Afghanistan trafen. Die Vereinten Nationen dokumentierten 3.458 zivile Opfer (1.282 Tote und 2.176 Verletzte) für den Zeitraum Jänner bis Ende Juni 2020 (UNAMA 27.7.2020).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Das Haqqani-Netzwerk führte von September bis zum Ende des Berichtszeitraums keine HPA in der Hauptstadtregion durch. Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtetet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in Provinz Nangarhar zu einem sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriff gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 6.2020). Die Taliban setzten außerdem improvisierte Sprengkörper in Selbstmordfahrzeugen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh ein (UNGASC 17.3.2020).

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten, religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020). Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt (BBC 6.3.2020) und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt (BBC 6.3.2020; vgl. AJ 6.3.2020).

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt (TN 26.3.2020 vgl.; BBC 25.3.2020, USDOD 6.2020). Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien (AJ 26.3.2020; vgl. TTI 26.3.2020). Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt (TTI 26.3.2020; vgl. NYT 26.3.2020, USDOD 6.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019):

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jallaloudine Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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