TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/30 W165 1252270-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 30.05.2021
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Entscheidungsdatum

30.05.2021

Norm

AsylG 1997 §3
AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §9
AsylG 2005 §9 Abs2 Z2
B-VG Art133 Abs4
FPG §52

Spruch


W165 1252270-4/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Ilse LESNIAK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen die Spruchpunkte I. bis IV. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.04.2020, Zl. 732310400/1504813, zu Recht erkannt:

A)       

I.

Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., III. und IV. wird gemäß § 3 AsylG 1997, §§ 10 und 57 AsylG 2005 sowie § 52 FPG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird gemäß § 9 AsylG 2005 mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruchpunkt zu lauten hat: „Der Ihnen mit Bescheid vom 21.07.2004 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wird Ihnen gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt“.

B)       

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Vorverfahren:

Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste – damals minderjährig – am 31.07.2003 illegal nach Österreich ein und stellte am Folgetag einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.

Aufgrund des Untertauchens des BF — er hielt sich zwischenzeitlich in Schweden auf — wurde sein Asylverfahren eingestellt. Der BF wurde am 29.01.2004 von Schweden nach Österreich überstellt und stellte am selben Tag einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Am 19.07.2004 wurde der BF vor dem Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen. Zu seinem Fluchtgrund führte er aus, dass er Afghanistan aus Sorge vor einer Blutrache verlassen habe. Sein Onkel habe einen Mann zusammengeschlagen, dessen Bruder habe daraufhin den Vater des BF getötet. Vier Jahre später habe der Onkel den Mörder des Vaters getötet. Der BF selbst sei „damals“ ein kleines Kind gewesen. Da er langsam erwachsen geworden sei, könnte auch er selbst im Zuge dieser Streitigkeiten aus Rache getötet werden.

Mit Bescheid vom 21.07.2004 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des BF gemäß § 7 AsylG idF BGBl I Nr. 126/2002 ab (Spruchpunkt I.) und erklärte gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF nach Afghanistan für nicht zulässig (Spruchpunkt II.). Dem BF wurde gemäß § 8 Abs. 3 iVm § 15 Abs. 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 20.07.2005 erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend führte das Bundesasylamt im Wesentlichen aus, dass eine konkrete Gefährdung des BF nicht vorgelegen sei und er dazu auch keine Angaben habe machen können, sodass ein asylbegründender Sachverhalt nicht vorliege. Allerdings sei im Falle des BF ein Abschiebungshindernis festzustellen gewesen.

Gegen die Abweisung des Asylantrages erhob der BF am 10.08.2004 Berufung.

Mit Bescheid vom 06.06.2005 behob der Unabhängige Bundesasylsenat Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 21.07.2004 und verwies die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurück.

Begründend führte der Unabhängige Bundesasylsenat aus, dass das Bundesasylamt in rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen sei, dass es sich bei der vom BF geschilderten Situation um eine Verfolgung durch Privatpersonen handle und die Ausführungen im angefochtenen Bescheid dahingehend zu verstehen seien, dass das Bundesasylamt zugrunde lege, dass eine Verfolgung durch Privatpersonen nur dann asylrelevant sein könne, wenn der Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt sei, diese hintanzuhalten und einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe entspringe. Jedoch sei die Behörde der Frage, ob der Staat Afghanistan bereit und fähig sei, den Bedrohungen entgegenzutreten, offenbar nicht nachgegangen, da eine drohende Verfolgung wegen Blutrache nicht auf einen der in der GFK genannten Gründe zurückzuführen sei. Damit verkenne das Bundesasylamt den Inhalt der GFK. Flüchtling iSd GFK sei nämlich auch, wer aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werde. Den Tatbestand dieses Verfolgungsgrundes erfülle auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie. Das Bundesasylamt habe es daher unterlassen, Feststellungen zur Situation in Afghanistan, insbesondere zur Frage der Blutrache, ins Verfahren einzuführen und im Bescheid zu treffen. Es sei daher nicht möglich, das Vorbringen des BF korrekt zu würdigen und zu beurteilen.

Am 24.11.2005 erfolgte vor dem Bundesasylamt eine weitere niederschriftliche Einvernahme des BF. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass „die Sache“ noch nicht abgeschlossen sei. Seine Großmutter habe ihm während eines Telefonats mitgeteilt, dass die Gefahr weiterhin aufrecht sei und nunmehr auch seine kleine Schwester in Gefahr sei. In Afghanistan würden Feindschaften anders ausgetragen, als in Österreich. „Die Menschen würden sich dort gegenseitig auffressen“. Er habe Angst, dass ihn sein Feind auch in Österreich finde und anschließend töte.

Mit Bescheid vom 20.12.2005 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des BF neuerlich ab, traf Feststellungen zu Blutrache und Ehrverletzungen in Afghanistan und führte begründend aus, dass es dem BF nicht gelungen sei, seine Fluchtgründe glaubhaft zu machen.

Dagegen erhob der BF wiederum Berufung an den Unabhängigen Bundesasylsenat.

Bei der am 28.04.2011 durchgeführten Verhandlung vor dem dann zuständigen Asylgerichtshof gab der BF im Wesentlichen an, dass sein Onkel mit dem Bruder eines Mannes namens XXXX Probleme gehabt habe und diesen mit einem Messer verletzt habe. Daraufhin habe XXXX seinen Bruder gerächt und den Vater des BF getötet. Sein Onkel, der in Moskau sei, habe XXXX getötet. Seine Schwester sei in Sicherheit gewesen, da man sich hauptsächlich an Männern räche.

Am 02.02.2012 führte das Bundesasylamt eine Einvernahme des BF betreffend die Aberkennung seines Status als subsidiär Schutzberechtigter durch, bei der er sich neuerlich auf seine Befürchtungen in Bezug auf die gegnerische Familie bezog.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 22.02.2012 wurde dem BF gemäß § 9 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.), sein Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung vom 01.07.2011 gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.) und der BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG nach Afghanistan ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde ausgeführt, dass die Furcht des BF vor Rache, da sein Onkel die Ermordung seines Vaters gerächt habe, nicht glaubhaft sei, der BF aufgrund seiner wiederholten Verstöße gegen das Suchtmittelgesetz eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle, er mittlerweile volljährig sei und sich die allgemeine Lage in Afghanistan im Vergleich zum Jahr 2004, als ihm subsidiärer Schutz gewährt worden sei, nunmehr geändert habe. In Österreich habe der BF keine Verwandten oder sonstige familiäre Beziehungen, habe nie gearbeitet und sei laufend straffällig geworden. Abgesehen von der achtjährigen Aufenthaltsdauer liege sohin kein Sachverhalt vor, der die Ausweisung unzulässig machen würde.

Gegen diesen Bescheid erhob der BF am 08.03.2012 Beschwerde.

In weiterer Folge wurde für den 07.10.2014 vor dem nunmehr zuständigen Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG), eine Verhandlung anberaumt, die nicht stattfinden konnte, da sich der zu diesem Zeitpunkt in Haft befindliche BF seit dem 05.09.2014 in einem Landesklinikum in stationärer Aufnahme wegen „Selbstbeschädigung“ befunden hatte und nicht vorgeführt werden konnte.

Mit Beschluss vom 02.07.2015 stellte das BVwG die Verfahren betreffend den BF gem. § 24 AsylG 2005 ein, da dessen Aufenthaltsort nicht ermittelt werden konnte.

Am 05.04.2018 setzte das BVwG die beiden den BF betreffenden Verfahren hinsichtlich seines Asylantrages und der Aberkennung seines subsidiären Schutzstatus fort.

Eine für den 21.06.2019 festgesetzte mündliche Verhandlung (der Akt des BF hatte sich zwischenzeitig wegen eines durch die Behörde eingebrachten Fristsetzungsantrages zur Entscheidung darüber beim VwGH befunden), wurde erneut abberaumt, da nach Auskunft der damals behandelnden Ärzte die Vorführung des BF schwer möglich und fraglich gewesen sei, ob der BF einer Verhandlung hätte folgen können.

Im Zeitraum November 2005 bis August 2018 wurde der BF elf Mal strafgerichtlich verurteilt. Darunter finden sich neben mehreren Verurteilungen wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz auch Verurteilungen wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt (§ 269 Abs. 1 StGB), Entfremdung unbarer Zahlungsmittel (§ 241e Abs. 3 StGB) sowie wegen gewerbsmäßigen Diebstahls (§§ 127, 130 Abs. 1 1. Fall StGB). Zuletzt wurde der BF wegen gefährlicher Drohung (§ 107 Abs. 1 und 2 StGB) im Juni 2019 in eine Anstalt für geistig abnorme zurechnungsunfähige Rechtsbrecher eingewiesen.

Aufgrund des psychischen Zustandes des BF regte das BVwG mit Schreiben vom 27.11.2019 beim zuständigen Bezirksgericht die Bestellung eines Erwachsenenvertreters an.

Mit Beschluss vom 04.12.2019, GZ W186 1252270-2/74E; W186 1252270-3/47E, hob das BVwG die vom BF angefochtenen Bescheide des Bundesasylamtes betreffend die Abweisung seines Asylantrages vom 20.12.2005 und betreffend die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigter vom 22.02.2012 auf und verwies diese jeweils zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurück.

Das BVwG begründete dies damit, dass sich die vom Bundesasylamt herangezogenen Länderfeststellungen auf „präventive“ Blutrache und Rache für verletzte Familienehre, nicht jedoch auf die vom BF geschilderte Konstellation beziehen würden. Zudem habe das Bundesasylamt aus dem Umstand, dass alternative, unblutige Mechanismen aus dem Ausland kaum in Anspruch genommen werden könnten, für den Fall des BF keine Schlussfolgerungen gezogen und fänden sich im angefochtenen Bescheid keine Ausführungen zur Möglichkeit des BF, im Falle der Rückkehr effektiven staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Der von der Behörde ermittelte Sachverhalt sei daher in Bezug auf den Asylantrag des BF grundlegend ergänzungsbedürftig. Zu den Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei der BF weder niederschriftlich einvernommen worden noch habe das Bundesasylamt eine schriftliche Stellungnahme des BF eingeholt. Als Ausgangspunkt für die Aberkennung wären die Gründe für die Zuerkennung des Schutzstatus heranzuziehen gewesen, was nicht erfolgt sei. In weiterer Folge wäre die Behörde verpflichtet gewesen, amtswegig die aktuelle Situation im Herkunftsstaat zu ermitteln, was ebensowenig erfolgt sei. Das Bundesasylamt sei damit in Bezug auf die Ermittlung der Sachlage bezüglich des Vorliegens der Voraussetzungen für die Aberkennung subsidiären Schutzes??wie auch hinsichtlich der Zulässigkeit der Abschiebung nicht mit der gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen. Schließlich sei die Behörde auch unter Zugrundelegung der vom BF ausgehenden Gefährdung für die öffentliche Sicherheit nicht von ihrer Ermittlungspflicht in Bezug auf eine reale Gefahr des BF im Falle der Rückkehr entbunden gewesen.

I.1. Gegenständliches Verfahren:

Am 13.01.2020 ersuchte das nunmehr zuständige Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA), die psychiatrische Einrichtung, in der der BF aufgenommen wurde, um Bekanntgabe, ob der BF einvernahmefähig sei sowie um eine Einschätzung des aktuellen Gesundheitszustandes des BF einschließlich allfälliger Verhaltensauffälligkeiten.

Mit E-Mail vom 21.01.2020 teilte der behandelnde Facharzt für Psychiatrie dem BFA mit, dass sich der BF passiv zurückgezogen zeige, viel Zeit im Bett verbringe und in der Kommunikation äußerst zurückhaltend bis ablehnend sei. Die vor einigen Monaten bestandene wahnhafte Symptomatik sei unter der laufenden Therapie in den Hintergrund getreten. Derzeit würden sich keine Hinweise auf eine gesteigerte Impulsivität oder Selbst- bzw Fremdgefährdung ergeben. In den letzten Monaten habe der BF nur sehr eingeschränkt Auskünfte über seine Befindlichkeit, sein Innenleben, seine Herkunft und seine Vorgeschichte geben können. Er habe wiederholt angegeben, dass er „keine Gefühle“ habe bzw. verspüre, habe zuletzt allerdings begonnen, sich etwas mehr mit den Mitpatienten und dem Personal – etwa auch über persönliche Angelegenheiten – zu unterhalten. Aus psychiatrischer Sicht werde davon ausgegangen, dass der BF einvernahmefähig sei.

Am 13.02.2020 fand in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine niederschriftliche Einvernahme des BF statt. Dabei gab der BF an, dass in Afghanistan seine Großmutter, seine Schwester und mehrere Onkel und Tanten leben würden, er einen Onkel in Großbritannien habe, zu sämtlichen Verwandten jedoch kein Kontakt mehr bestehe, da er in Österreich Drogen konsumiert habe, wodurch der Kontakt abgebrochen sei. Im Gefängnis habe er Bücher gelesen und sich dadurch die Sprache selbst beigebracht und als Küchenhilfe sowie Hauswart gearbeitet. Er könne sich nicht mehr daran erinnern, weshalb er Afghanistan verlassen habe. Die Feindschaft, die er bereits bei früheren Einvernahmen erwähnt habe, reiche bis nach Österreich. In Afghanistan würden ihn die Personen, mit denen die Feindschaft bestehe, finden, zumal er nur in Kabul leben könne.

Am 17.02.2020 ersuchte das BFA den behandelnden Arzt des BF um Übermittlung sämtlicher medizinischer Unterlagen einschließlich vorhandener Gutachten zur Beurteilung des psychischen und physischen Gesundheitszustandes.

Mit Stellungnahme vom 06.03.2020, beim BFA eingelangt am 11.03.2020, teilte der den BF behandelnde Facharzt für Psychiatrie zusammengefasst mit, dass der BF auf einem eher frühen Entwicklungsstand stehen geblieben sei und eine erwachsene Grundhaltung, für sich und sein Leben Verantwortung zu tragen, nicht zu erkennen sei. Aufgrund seiner Psychose benötige der BF in sämtlichen Alltagsangelegenheiten pflegerische Unterstützung. Ohne diese würde der BF körperlich verwahrlosen, könne keine Tagesstruktur einhalten, sei nicht in der Lage, sich die unbedingt notwendigen Medikamente zu besorgen und regelmäßig einzunehmen und sei auch nicht imstande, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Schließlich würde der BF ohne die notwendigen Medikamente mit hoher Wahrscheinlichkeit im Rahmen seiner Psychose wieder Delikte wie jene begehen, die zu seiner Einweisung geführt hätten. Aus psychiatrischer Sicht könne sich der BF in seinem Herkunftsstaat daher nicht selbst versorgen.

Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 01.08.2003 gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) ab, erkannte ihm den mit Bescheid vom 21.07.2004 zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 57 AsylG keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Das BFA erließ gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 9 Abs. 2 AsylG iVm § 52 Abs. 9 FPG unzulässig sei (Spruchpunkt V.) und legte die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die Angaben des BF zu seinen Fluchtgründen während des gesamten Verfahrens oberflächlich und detailarm geblieben und daher nicht glaubhaft seien. Die Vielzahl der vom BF verwirklichten Delikte sei bei Gesamtbetrachtung als besonders schweres Verbrechen zu qualifizieren. Von einer positiven Zukunftsprognose könne nicht ausgegangen werden, da weder die Vorstrafen noch die Verhängung unbedingter Freiheitsstrafen den BF von der Begehung weiterer Straftaten hätten abhalten können. Da der BF seine Fluchtgründe nicht glaubhaft gemacht habe und der Asylausschlussgrund nach § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG vorliege, sei sein Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen. Der BF sei wiederholt wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz rechtskräftig verurteilt worden. Zudem würden die gehäuften gefährlichen Drohungen seine kriminelle Energie erkennen lassen und erstrecke sich sein Fehlverhalten über einen Zeitraum von dreizehn Jahren, weshalb eine Gefährdung der Allgemeinheit nach § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG vorliege. Da ein Ausschlussgrund für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorliege, sei zusätzlich jedenfalls auch der Aberkennungsgrund des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG erfüllt und dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen. Eine besondere Integration des BF in Österreich sei nicht festzustellen, weshalb die Rückkehrentscheidung zulässig sei. Aufgrund seiner psychischen Erkrankung benötige der BF in sämtlichen Alltagsangelegenheiten pflegerische Unterstützung ohne die er keine Tagesstruktur einhalten könne und nicht in der Lage sei, die unerlässlichen Medikamente zu besorgen und regelmäßig einzunehmen. Die Abschiebung sei daher infolge der Erkrankung des BF unzulässig.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 13.05.2020, mit der die Spruchpunkte I. bis IV. wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriftlichen angefochten wurden. Der BF übermittelte eine am 16.04.2020 verfasste fachärztliche Stellungnahme samt stationärem Dekurs vom 15.04.2020 und führte aus, dass er im Falle der Rückkehr derzeit keinen Zugang zu den verwendeten Medikamenten habe und fraglich sei, ob er sich diese leisten könne. Selbst wenn er Zugang zu diesen Medikamenten hätte, würden die Nebenwirkungen der Medikamenteneinnahme wie auch der psychische Zustand sein Berufsleben deutlich beeinträchtigen. Er sei seit 2003 in Österreich aufhältig, um seine Integration in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht bemüht und spreche auf gutem Niveau Deutsch. Unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage, insbesondere seines Gesundheitszustandes und der fehlenden familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan, könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er im Falle der Rückkehr eine Verletzung seiner durch Art. 3 und 8 EMRK geschützten Rechte erleide.

Die Beschwerdevorlage samt Verwaltungsakt langte am 26.05.2020 beim BVwG ein.

Am 31.08.2020 übermittelte das zuständige Bezirksgericht den Beschluss vom 24.08.2020 über die Einstellung des vom BVwG mit Schreiben vom 27.11.2019 angeregten Verfahrens zur Bestellung eines Erwachsenenvertreters.

Am 07.06.2021 ersuchte das BVwG das psychiatrische Krankenhaus, in welchem der BF untergebracht ist, um Übermittlung des letzten Beschlusses, mit dem über das allfällige Erfordernis einer weiteren Anhaltung des BF im Maßnahmenvollzug entschieden worden sei einschließlich des im Zuge dessen eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachtens.

Am 09.06.2021 langte der am 31.05.2021 ergangene gerichtliche Beschluss über die Notwendigkeit der weiteren Anhaltung des BF in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 1 StGB beim BVwG ein. Am 29.06.2021 langte das dem gerichtlichen Beschluss zugrundeliegende medizinische Sachverständigengutachten vom 12.05.2021 beim BVwG ein.

Mit Schreiben vom 11.06.2021, dem BF am 14.06.2021 zugestellt, setzte das BVwG den BF über die aufgrund einer Gesetzesänderung erfolgte Beendigung seines bisherigen Vertretungsverhältnisses mit 31.12.2020 sowie über die die Möglichkeit, (etwa) die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH mit seiner Vertretung im gegenständlichen Beschwerdeverfahren zu beauftragten, in Kenntnis. Unter einem übermittelte das BVwG dem BF den Beschluss vom 31.05.2021 über die weitere Anhaltung im Maßnahmenvollzug und gewährte ihm eine fünftägige Frist zur Stellungnahme.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des BF:

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Die Muttersprache des BF ist Dari. Darüber hinaus spricht er Russisch und Deutsch.

Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er stammt aus Kabul-Stadt, wo er drei Jahre die Schule besuchte und bis zu seiner Ausreise lebte.

Die Schwester des BF lebt mit ihrer Familie nach wie vor in Kabul.

Im Jahr 2003 reiste der BF nach Österreich und stellte am 01.08.2003 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid vom 21.07.2004 wies das damals zuständige Bundesasylamt den Antrag des BF auf internationalen Schutz ab, erkannte ihm den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

Hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stellte das Bundasylamt fest, dass der Abschiebung des BF ein Hindernis entgegenstehe, führte jedoch nicht näher aus, um welches Hindernis es sich dabei handle.

Infolge einer vom BF erhobenen Berufung gegen die Abweisung des Asylantrages behob der Unabhängige Bundesasylsenat die diesbezügliche Entscheidung des Bundesasylamtes mit Bescheid vom 06.06.2005 und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurück, das den Asylantrag des BF in weiterer Folge mit Bescheid vom 20.12.2005 ein zweites Mal abwies. Dagegen erhob der BF wiederum Berufung.

Die befristete Aufenthaltsberechtigung des BF verlängerte das Bundesasylamt zuletzt am 15.07.2010.

Am 22.02.2012 erkannte das Bundesasylamt dem BF den Status des subsidiär Schutzberechtigten ab und wies den BF nach Afghanistan aus. Dagegen erhob der BF Beschwerde.

Im Jahr 2015 stellte das BVwG die anhängigen Verfahren des BF hinsichtlich seines Asylantrages und der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wegen unbekannten Aufenthaltes ein.

Nach Fortsetzung der Verfahren im Jahr 2018 hob das BVwG die Bescheide vom 20.12.2005 und vom 22.02.2012 mit Beschluss vom 04.12.2019 auf und verwies die Angelegenheiten zur Erlassung neuer Bescheide an das BFA zurück, woraufhin der verfahrensgegenständliche Bescheid erging.

Der BF hat in Österreich keine Verwandten und kaum soziale Kontakte. Der BF ging außerhalb des Gefängnisses niemals einer legalen Erwerbstätigkeit nach.

Der BF ist – abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Schweden im Jahr 2004 – seit 2003 durchgehend in Österreich aufhältig und war seither im Bundesgebiet mehrmals behördlich nicht gemeldet sowie mehrmals obdachlos. Der BF verbüßte insgesamt ungefähr fünf Jahre und sieben Monate Haftstrafen in verschiedenen Justizanstalten und befindet sich seit einem Jahr und acht Monaten im Maßnahmenvollzug.

Der BF leidet an einer schizoaffektiven Störung, an Polytoxikomanie, ist depressiv und wird dauerhaft medikamentös behandelt.

Der BF wurde zwischen 11.10.2005 und 13.08.2018 elf Mal rechtskräftig verurteilt und befindet sich seit 29.06.2019 wegen gefährlicher Drohungen, die er im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit beging, im Maßnahmenvollzug:

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 11.10.2005 wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§§ 27 Abs. 1 erster, zweiter und sechster Fall, Abs. 2 Z 2 erster Fall SMG, 12 dritter Fall StGB) sowie der Vorbereitung von Suchtgifthandel (§ 28 Abs. 1 SMG) zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, wobei die Strafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen, die Probezeit in weiterer Folge auf fünf Jahre verlängert und die bedingte Strafnachsicht schließlich zur Gänze widerrufen werden musste;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 16.04.2007 wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§§ 27 Abs. 1 und 2 Z 2 erster Fall SMG, 15 StGB) sowie des Vergehens der Körperverletzung (§ 83 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, wobei der Strafteil von sechs Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen, die Probezeit in weiterer Folge auf fünf Jahre verlängert und die bedingte Strafnachsicht schließlich zur Gänze widerrufen werden musste;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 06.09.2007 wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§ 27 Abs. 1 erster und zweiter Fall SMG) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten, wobei der BF aus dem Vollzug der Freiheitsstrafe zunächst bedingt entlassen und die bedingte Entlassung in weiterer Folge widerrufen wurde;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 22.04.2009 wegen der Vergehen des unerlaubten Umganges mit Suchtgiften (§ 27 Abs. 1 Z 1 erster, zweiter und achter Fall, Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 SMG) zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 03.08.2010 wegen des Vergehens der Urkundenunterdrückung (§ 229 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 15.07.2011 wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§ 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, Abs. 3 und Abs. 5 SMG) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 19.09.2012 wegen der Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§ 27 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall, Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 5 SMG) sowie des Vergehens des Widerstandes gegen die Staatsgewalt (§§ 15, 269 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 29.01.2014 wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (§ 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, Abs. 3 SMG) zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 05.02.2015 wegen des Vergehens des Diebstahls (§ 127 StGB) und des Vergehens der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel (§ 241e Abs. 3 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 15.03.2017 wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung (§ 107 Abs. 1 und 2 StGB), des Vergehens der Körperverletzung (§ 83 Abs. 1 StGB), des Vergehens des Diebstahls (§§ 127, 15 StGB) und des Vergehens der Sachbeschädigung (§ 125 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten;

-        Mit Urteil eines Landesgerichts vom 13.08.2018 wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls (§§ 127, 130 Abs. 1 erster Fall StGB) zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten;

Mit Urteil eines Landesgerichts vom 25.06.2019 erfolgte die Einweisung des BF in eine Anstalt für geistig abnorme zurechnungsunfähige Rechtsbrecher (§ 21 Abs. 1 StGB). Ausgangspunkt dafür war, dass der BF, der zum damaligen Zeitpunkt eine Freiheitsstrafe in einer Justizanstalt verbüßte, am 24.10.2018 seinen Mitinsassen gefährlich mit dem Tod bedrohte, indem er ihm ankündigte, er solle „zu ihm in den Haftraum kommen, damit er ihm den Schädel herunter schneiden“ könne und „Wo sind sie, die Christen. Bringt sie mir her, ich schneide ihnen allen den Kopf ab“ Am 09.11.2018 schlug der BF im Spazierhof der Justizanstalt mit einem Buttermesser gegen das dortige Geländer bzw. gegen den Trinkbrunnen und antwortete auf die Frage eines Justizwachebeamten, was er da tue: „Muss schleifen um Kopf abzuschneiden!“, wobei er in Richtung eines anderen Insassen deutete. Die Betroffenen hatten dabei den Eindruck, der BF sei willens und in der Lage, die geäußerten Drohungen in die Tat umzusetzen. Der BF litt zum Tatzeitpunkt an einer schizoaffektiven Störung sowie einer psychischen und Verhaltensstörung durch Polytoxikomanie/Abhängigkeitssyndrom mit psychotischen Symptomen, weshalb seine Diskretions- und Dispositionsfähigkeit aufgehoben waren. Nach der Person des BF, nach seinem Zustand und nach der Art seiner Tat waren zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung neuerliche Tathandlungen mit schweren Folgen, insbesondere Drohungen mit dem Tod, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten.

Eine neuerliche fachärztliche Exploration des BF im Zuge der Erstellung eines aktuellen medizinischen Sachverständigengutachtens führte zu einer Bestätigung der bisher gestellten Diagnosen. Das Gutachten vom 12.05.2021 ergab die nach wie vor bestehende Gefährlichkeit des BF, die Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Taten mit schweren Folgen unter dem Einfluss von dessen geistiger/seelischer Abartigkeit und wurde die Fortsetzung der Maßnahme im Sinne des § 21 Abs. 2 StGB empfohlen.

Der BF ist zum Zeitpunkt der gegenständlichen Entscheidung nach wie vor auf Grundlage des § 21 Abs. 1 StGB in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht. Eine bedingte Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug wurde, gestützt auf den stationären Dekurs des Landeskrankenhauses und insbesondere das aktuelle medizinische Sachverständigengutachten vom 12.05.2021, wonach die Gefährlichkeit des BF, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, weiterhin besteht und mit hoher Wahrscheinlichkeit mit weiteren entsprechenden Taten unter dem Einfluss der geistigen-seelischen Abartigkeit höheren Grades zu rechnen ist, mit Beschluss eines Landesgerichtes für Strafsachen vom 31.05.2021 ausgeschlossen. Der (dem BF bereits bekannte) Beschluss des Landesgerichtes für Strafsachen vom 31.05.2021 wurde dem BF mit Schreiben des BVwG vom 11.06.2021, vom BF persönlich übernommen am 14.06.2021, mit der Möglichkeit zur Stellungnahme innerhalb von fünf Tagen ab Erhalt, übermittelt. Unter einem wurde der BF, nachdem sein bisheriges Vertretungsverhältnis mit 31.12.2020 ausgelaufen ist, auf die Möglichkeit, einen Vertreter im Beschwerdeverfahren zu beauftragen, hingewiesen und eine allfällige umgehende Veranlassung nahegelegt. Unter einem wurden hiezu die Kontaktdaten der BBU GmbH bekanntgegeben. Die BBU GmbH teilte auf telefonische Anfrage des BVwG (Frau Rauchecker), mit, dass sie aufgrund der zu wahrenden Privatsphäre des BF hinsichtlich einer allfälligen Übernahme der Vertretung im Beschwerdeverfahren nicht an den BF herantreten könne. Das Verfahren zur Bestellung eines Erwachsenvertreters des BF wurde, wie erwähnt, durch das zuständige Bezirksgericht eingestellt.

Innerhalb offener Frist langte beim BVwG keine Stellungnahme bezüglich der erfolgten Aufrechterhaltung des Maßnahmenvollzugs ein.

1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihm im Falle der Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe seiner Familie durch eine verfeindete Familie eine Verfolgung drohen würde.

Der BF wurde in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst in irgendeiner Art und Weise Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.

1.3. Zur Rückkehrsituation des BF in Afghanistan:

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des BF und der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan, insbesondere in der Herkunftsprovinz des BF, Kabul, sowie in den Städten Mazar-e Sharif und Herat, haben sich die Umstände, die zur Gewährung subsidiären Schutzes geführt haben, seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Jahr 2004 bzw. seit der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung im Jahr 2010, nicht wesentlich und nachhaltig verbessert.

Der BF hat in Afghanistan kein soziales oder familiäres Netzwerk, das ihn im Falle der Rückkehr aufnehmen und unterstützen könnte. Er benötigt aufgrund seiner psychischen Erkrankung eine engmaschige und durchgängige sozialpsychiatrische Betreuung und ist in sämtlichen Alltagsangelegenheiten auf pflegerische Unterstützung angewiesen, ohne die er nicht in der Lage ist, seine Medikamente zu besorgen und einzunehmen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sich zumindest eine grundlegende Existenz zu sichern. Ohne die notwendigen Medikamente und Unterstützung würde der BF in eine ausweglose Notlage geraten und mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder Delikte, wie jene, die zur Einweisung in den Maßnahmenvollzug geführt haben, begehen.

1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA („Version 4, 11.06.2021“):

„[…]

COVID-19

Letzte Änderung: 10.06.2021

[…]

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als "schwer erreichbar" gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).

[…]

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).

[…]

Politische Lage

Letzte Änderung: 11.06.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.10.2020). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga, dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Distrikträten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021) und mindestens zwei Frauen sollen aus jeder Provinz gewählt werden (insgesamt 68) (USDOS 30.3.2021).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlichen kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

[…]

Politische Parteien und Wahlen

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 12.5.2021). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen auf Basis ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Wahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 30.3.2021). Es ist geplant, die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, AA 1.10.2020).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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