Entscheidungsdatum
02.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z4Spruch
W226 2242294-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl.: 742033701-171085257 zu Recht:
A) Der Beschwerde wird mit der Maßgabe stattgegeben, als das Einreiseverbot auf die Dauer von sieben Jahren herabgesetzt wird. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung
I. Verfahrensgang:
1.1 Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste als Minderjähriger gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern ins Bundesgebiet ein. Seine Mutter stellte für den BF am 04.10.2004 einen Antrag auf internationalen Schutz beim Bundesasylamt.
1.2 Am 04.10.2004 fand eine niederschriftliche Einvernahme der Mutter des BF durch Organe der öffentlichen Sicherheit und am 11.10.2004 sowie am 14.10.2004 vor dem Erstaufnahmezentrum Ost statt. Für den BF wurden dabei keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht.
1.3 Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 07.06.2006, Zl. 04 20.337-BAI, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz im Familienverfahren hinsichtlich § 7 AsylG 1997 abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gem. § 8 Abs. 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt und der BF gem. § 8 Abs. 2 AsylG 1997 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Dagegen erhob der BF fristgerecht Berufung.
1.4 Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 15.11.2006, Zl. 303.160-C1/E1-XIV/08/06, wurde der Berufung stattgegeben und dem BF im Familienverfahren gem. § 10 Abs. 2 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 leg. cit festgestellt, dass dem BF damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (rechtskräftig mit 17.11.2006).
Mit Bescheid vom gleichen Tag wurde dem Vater des BF zu Zahl 302.925-C1/E1-XIV/08/06 Asyl gemäß § 7 AsylG gewährt.
Der Unabhängige Bundesasylsenat stellte dabei fest, dass der Vater des BF, XXXX , aus Dagestan stamme, ethnischer Tschetschene und Moslem sei sowie aus dem Dorf XXXX stamme. Der Bruder des Vaters des BF, XXXX , sei aktiver Kämpfer im zweiten Tschetschenienkrieg gewesen. Ende September 1999 sei der Vater des BF zu dessen Bruder nach XXXX , wo er diesen zu überzeugen versuchte, nicht weiter zu kämpfen. XXXX , der Bruder des Vaters des BF sei schließlich im Kampf in XXXX am 9. oder 10 November XXXX gefallen, woraufhin der Vater des BF den Leichnam seines Bruders nach XXXX , dem Dorf der Mutter des Vaters des BF, gebracht und begraben habe. Als der Vater des BF nach dem einwöchigen Begräbnisritual nach XXXX zurückgekehrt sei, sei ihm bewusst geworden, dass er nunmehr nicht mehr unbehelligt zuhause leben könne, da er sich in Tschetschenien aufgehalten habe und sein Bruder aktiver Kämpfer gewesen sei, sodass viele davon ausgehen würden, auch er sei aktiver Kämpfer gewesen. In der Folge sei er immer wieder gezwungen gewesen, seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Der Vater des BF habe auch eine Reihe von aktiven Widerstandskämpfern als Freunde gehabt und habe Kämpfer schon seit dem ersten Tschetschenienkrieg unterstützt, indem er Verwundeten geholfen und Kämpfer verpflegt habe. Der Vater des BF habe selbst aber nicht aktiv gekämpft. Vier Mal sei der Vater des BF von der dagestanischen Miliz gesucht worden. Im Jahre 2004 sei außerdem der andere Bruder des Vaters des BF zwei Mal festgenommen, abgeholt und verhört worden. Was man dem Vater des BF konkret von Seiten der Sicherheitskräfte zu Last legte, entziehe sich der Kenntnis des Vaters des BF. Er vermute aber, dass ihm aufgrund seiner Unterstützung der Kämpfer und seines Verwandtschaftsverhältnisses zu einem aktiven Kämpfer auf Seiten der Tschetschenen unterstellt werde, selbst für den tschetschenischen Widerstandskampf aktiv zu sein. Aus Angst, verhaftet oder sogar getötet zu werden, sei der Vater des BF mit seiner Familie geflüchtet.
Rechtlich folgerte der Unabhängige Bundesasylsenat, dass dem Vater des BF aufgrund seiner familiären Verhältnisse offenbar unterstellt werde, den tschetschenischen Widerstandskampf ebenso zu unterstützen wie sein gefallener Bruder. Auch sein jüngerer Bruder sei vermutlich deshalb bereits einmal von der dagestanischen Miliz und einmal von Kadyrows‘ Leuten abgeholt worden. Der Vater des BF gehöre daher zu einem Personenkreis, dem ein Naheverhältnis zu islamistischen Separatisten unterstellt werde und deshalb von anti-separatistischen Aktionen gegen die Zivilbevölkerung besonders betroffen sei. Aus diesem Grund sei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Vater des BF im Falle seiner Rückführung besondere Aufmerksamkeit seitens russischer Behörden gewidmet würde und angesichts der aufgrund wiederholter Terroranschläge angespannten und gegenüber Personen aus dem Kaukasus feindlichen Stimmung in der gesamten russischen Föderation, in Verbindung mit der Ethnie des Vaters des BF – abgesehen davon, dass er den Behörden auch namentlich bekannt sei – sei auch nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Vater des BF außerhalb Dagestans keinerlei asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt wäre oder effektiven behördlichen Schutz dagegen zu erwarten hätte.
1.5 Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der BF (Junger Erwachsener) wegen des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 und 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
1.6 Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der BF wegen des Vergehens der Nötigung gemäß § 105 Abs. 1 StGB sowie des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt.
1.7 Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der BF (Junger Erwachsener) wegen des Vergehens des Betrugs nach § 146 StGB, des Diebstahls nach § 127 StGB sowie wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe als Zusatzstrafe gemäß §§ 31, 40 StGB von acht Monaten verurteilt. Zugleich wurde die bedingte Nachsicht der Strafe gemäß dem Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX widerrufen.
1.8 Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der BF wegen des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe als Zusatzstrafe gemäß §§ 31, 40 StGB von vierzehn Monaten verurteilt.
1.9 Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB verurteilt, wobei unter Bedachtnahme auf die Urteile des Landesgerichts XXXX vom XXXX , vom XXXX und vom XXXX keine Zusatzstrafe verhängt wurde.
1.10 Mit Beschluss des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der BF am XXXX aus der Freiheitsstrafe bedingt entlassen, wobei einer Probezeit von drei Jahren bestimmt wurde, die Bewährungshilfe angeordnet und die Weisung, sich sofort nach Haftentlassung einer ambulanten Drogentherapie zu unterziehen, erteilt wurde.
1.11 Am XXXX wurde der BF wegen des Verdachts nach § 75 StGB, § 142 StGB, § 143 StGB und § 28 SMG in U-Haft genommen.
1.12 Mit Schreiben vom 23.10.2020 wurde dem BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) mitgeteilt, dass gegen ihn ein Verfahren zur Aberkennung des Asylstatus eingeleitet wurde.
1.13 Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX wurde der BF wegen des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel gemäß §§ 28 Abs. 1 1. Fall, 2.Fall, 3. Fall SMG iVm 28 Abs. 4 SMG sowie des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Zugleich wurde die Probezeit der bedingten Entlassung per Beschluss des Landesgerichts XXXX vom XXXX auf insgesamt fünf Jahre verlängert.
1.14 Am 22.12.2020 wurde der BF vor dem BFA bezüglich der Aberkennung des Asylstatus niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der BF an, gesund zu sein und keine psychischen oder physischen Probleme zu haben und keine Medikamente zu benötigen. Er sei ledig, in keiner Lebensgemeinschaft und habe keine Kinder. Er wohne in Österreich bei seiner Mutter und seinen Geschwistern, von welchen er allerdings nicht finanziell abhängig sei. Mit seinem Vater habe er keinen Kontakt, dieser habe Drogen genommen, weswegen sich auch die Mutter des BF von diesem getrennt und scheiden lassen habe. Vor seiner Inhaftierung sei er ein Jahr bei seiner Oma in XXXX , Frankreich geblieben, da ihn in Österreich Afghanen wegen Drogengeschichten gesucht hätten. Er habe Freunde in Österreich, auch einen tschetschenischen Freund, und sei 11 Jahre lang Mitglied im XXXX Ringerverein gewesen. Er habe den Hauptschulabschluss beim BFI gemacht, sei nur über kurze Zeit erwerbstätig gewesen und habe keine weiteren Aus- und Fortbildungen absolviert. Er habe Verwandte väterlicherseits in Dagestan, XXXX , wo der BF früher auch gelebt habe. Der Kontakt mit diesen sei zerbrochen, nachdem sich die Mutter des BF, die Geschwister des BF und der BF vom Vater des BF abgewendet hätten. Er habe jedoch gehört, dass es diesen gut gehe. Er spreche ein wenig Tschetschenisch, Russisch verstehe er gut. Befragt, was der BF bei einer Rückkehr nach Tschetschenien befürchte, brachte der BF vor, dass er Angst habe, da seine Familie gegen das Regime gekämpft habe, sein Vater wegen des Krieges gesucht worden sei und die Bedingungen in Tschetschenien schlecht gewesen seien. Er habe von der tschetschenischen Community in Europa gehört, dass man Probleme bekomme oder getötet werde, wenn man sich gegen das Regime ausspreche. Er würde zu 80% getötet werden, damit er später nicht für das Regime zur Gefahr werde. Er selbst habe aber damals keine Probleme mit dem Regime gehabt, er sei noch ein Kind gewesen. Aus Frankreich sei er auch deshalb nach Österreich zurückgekehrt, weil man ihn hier wegen Mordes gesucht habe, das habe ihn „geschockt“.
1.15 Mit Bescheid des BFA vom XXXX wurde dem BF der ihm mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 15.11.2006, Zahl: 303.160-C1/E1-XIV/08/06, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Absatz 1 Ziffer 2 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt. Gemäß § 7 Absatz 4 AsylG wurde festgestellt, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) wurde dem BF nicht zuerkannt. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Unter Spruchpunkt VII. wurde gegen den BF ein Einreiseverbot auf die Dauer von zehn Jahren erlassen.
Das BFA stellte fest, dass der BF russischer Staatsangehöriger sei, der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre und sich zum muslimischen Glauben bekenne. Er sei in Tschetschenien (Stadt XXXX ) aufgewachsen und habe etwa bis zu seinem neunten Lebensjahr dort gelebt. Der BF sei arbeitsfähig und leide an keiner lebensbedrohlichen Krankheit und sei nicht immungeschwächt. Er sei ledig und kinderlos. In seiner Heimat habe er eine Vielzahl an familiären Anknüpfungspunkten. Er sei in Österreich des Öfteren straffällig geworden und habe sich beruflich nicht integriert. Die Eltern und Geschwister des BF seien ebenfalls im Bundesgebiet aufhältig. Der BF spreche Russisch, Deutsch und Tschetschenisch.
Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten führte das BFA aus, dass eine wesentliche nachhaltige Änderung der Umstände im Heimatland eingetreten sei. Der BF habe den Status des Asylberechtigten von seinem Vater abgeleitet und der BF habe eine Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht glaubhaft machen können. Auch von Amts wegen habe eine Verfolgungsgefahr nicht festgestellt werden können. Weiters führte das BFA aus, dass eine Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG grundsätzlich nur innerhalb von fünf Jahren ab Zuerkennung möglich sei. Da der BF aber mehrmals straffällig geworden sei, sei die Frist von fünf Jahren nicht zu berücksichtigen.
Zur Situation des BF im Falle seiner Rückkehr führte das BFA aus, dass dem BF keine Gefahr einer Verletzung des Lebens des BF, einer unmenschlichen Behandlung oder Folter drohe, dass der BF in keine aussichtslose Lage geraten würde, in Tschetschenien der Kriegszustand überwunden sei und sich die Sicherheits- und Versorgungslage nachhaltig verbessert habe. Der BF sei in der Lage, sich notfalls auch mit Hilfstätigkeiten ein ausreichendes Einkommen zu sichern und - unter Umständen unter Zuhilfenahme von verfügbaren Sozialleistungen -seinen Lebensunterhalt in der Russischen Föderation zu bestreiten. Zudem verfüge der BF über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat, die ihn unterstützen könnten.
Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass der BF zwar seine Eltern und Geschwistern in Österreich habe, er sei aber nicht auf das Zusammenleben mit diesen angewiesen, da er gesund und arbeitsfähig sei. Er sei auch seit 16 Jahren im Bundesgebiet aufhältig und spreche gut Deutsch. Er gehe allerdings keiner Erwerbstätigkeit nach und sei bis auf kurze Zeiträume keiner solchen nachgegangen und habe sich auch nicht um eine Ausbildung oder dergleichen bemüht. Er habe keine nennenswerten Bindungen bzw. Verfestigungen in der Gesellschaft oder ehrenamtliche Tätigkeiten vorgebracht, zudem habe er mehrere Straftaten begangen. Er stelle aufgrund seiner Verurteilungen eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Die öffentlichen Interessen an der Rückkehr des BF würden somit gegenüber seinen privaten Interessen überwiegen.
Zum Einreiseverbot führte das BFA aus, dass § 53 Abs. 3 Z 1 FPG im Falle des BF erfüllt sei. Er sei zuletzt zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten rechtskräftig verurteilt worden. Aufgrund der Schwere des Fehlverhaltens des BF und unter Bedachtnahme auf sein Gesamtverhalten bzw. im Hinblick darauf, wie er sein Leben in Österreich gestaltet habe, sei insgesamt davon auszugehen, dass der BF eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Die Erlassung eines Einreiseverbotes in der Höhe von 10 Jahren sei gerechtfertigt, zumal er mehrmals rechtskräftig verurteilt worden sei. Seine Straftaten würden klar und deutlich zeigen, dass er eine massive Gefährdung für die öffentliche Sicherheit darstelle. Die Erlassung eines Einreiseverbotes in der angegebenen Dauer sei gerechtfertigt und notwendig, um die vom BF ausgehende schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern. Private und familiäre Anknüpfungspunkte würden einen Verbleib in Österreich, wie bereits ausgeführt, nicht rechtfertigen.
1.16 Mit Verfahrensanordnung des BFA vom XXXX wurde dem BF für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
1.17 Gegen den oben angeführten Bescheid des BFA erhob der BF fristgerecht eine vollinhaltliche Beschwerde, worin inhaltliche Rechtwidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend gemacht wird.
In der Beschwerde wird ausgeführt, dass sich die belangte Behörde nicht ausreichend mit den Fluchtgründen des Vaters des BF auseinandergesetzt habe und die Behörde den Wegfall dieser fluchtbegründenden Umstände nicht konkret anhand der Länderbericht geprüft habe. Außerdem sei die Frage, ob sich die Umstände geändert haben, selbstständig und ohne Bindung an eine allfällige diesbezügliche Entscheidung im Verfahren der Bezugsperson zu beurteilen. Zudem habe sie sich nicht ausreichend mit dem Privat- und Familienleben des BF auseinandergesetzt, konkret zur sehr engen Beziehung zu seiner Mutter und seinen Geschwistern. Außerdem habe die Behörde nicht dargelegt, warum sie entgegen dem Vorbringen des BF davon ausgehe, dass der BF Tschetschenisch und Russisch spreche. Der BF spreche nämlich die tschetschenische Sprache überhaupt nicht und habe nur mittlere Kenntnisse der russischen Sprache. Aus den getroffenen Länderfeststellungen sei auch ersichtlich, dass sich die Situation für Tschetschenien kaum verbessert habe, sodass die Behörde ihre eigenen Länderfeststellungen nicht ausreichend berücksichtigt habe.
Entgegen der Auffassung der Behörde würde der BF bei einer Rückkehr nach Russland sehr wohl in eine aussichtslose Situation geraten und würde ihm eine Verletzung seiner von Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte drohen. Er habe beinahe sein gesamtes Leben in Österreich verbracht, beherrsche die Landessprache nicht ausreichend, verfüge über keine Mitglieder seiner Kernfamilie und über kein soziales Netzwerk. Zu seinen Verwandten väterlicherseits könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, dass diese ihn unterstützen würden.
Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass der BF bereits seit knapp 17 Jahren in Österreich lebe und zu Russland keinen Bezug mehr habe. Er habe in Österreich seine prägenden Jahre verbracht, Russland im Kindesalter verlassen und er verfüge in Österreich über Mitglieder seiner Kernfamilie, mit denen er eine sehr enge Beziehung habe. Er habe hier die Schule besucht und sei Mitglied eines Ringervereins gewesen. Der BF sei in Österreich sozial und wirtschaftlich integriert. Eine Rückkehrentscheidung würde einen Eingriff in sein Recht auf Privat- und Familienleben bedeuten.
Zum Einreiseverbot wurde vorgebracht, dass der BF einsehe, sich gesetzeswidrig verhalten zu haben und sein Verhalten bedauere. Im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose sei jedoch nicht ausreichend auf seine Situation eingegangen und sein Privat- und Familienleben berücksichtigt worden. Von dem BF gehe keine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus, vor allem keine, die ein Einreiseverbot in der Dauer von zehn Jahren rechtfertigen würde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat zur vorliegenden Beschwerde wie folgt erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Zugehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum muslimischen Glauben.
Er wuchs in Dagestan und Tschetschenien (Stadt XXXX und XXXX ) auf, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern bis zu seiner Ausreise nach Europa lebte. Nach ihrer Einreise in Österreich stellte die Familie am 4.10.2004 Asylanträge. Der BF war zur Zeit der Antragstellung fast neun Jahre alt.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 07.06.2006, Zl. 04 20.337-BAI, wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz im Familienverfahren hinsichtlich § 7 AsylG 1997 abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gem. § 8 Abs. 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt und der BF gem. § 8 Abs. 2 AsylG 1997 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Dagegen erhob der BF fristgerecht Berufung.
Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 15.11.2006, Zl. 303.160-C1/E1-XIV/08/06, wurde der Berufung stattgegeben und dem BF im Familienverfahren gem. § 10 Abs. 2 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 leg. cit festgestellt, dass dem BF damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt (rechtskräftig mit 17.11.2006).
Der Unabhängige Bundesasylsenat ging bei seiner Entscheidung zum Asylantrag des Vaters des BF davon aus, dass dem Vater des BF aufgrund seiner familiären Verhältnisse offenbar unterstellt wurde, den tschetschenischen Widerstandskampf ebenso zu unterstützen wie sein gefallener Bruder. Auch sein jüngerer Bruder ist damals vermutlich deshalb bereits einmal von der dagestanischen Miliz und einmal von Kadyrows‘ Leuten abgeholt worden. Der Vater des BF gehörte daher damals zu einem Personenkreis, dem ein Naheverhältnis zu islamistischen Separatisten unterstellt wurde und deshalb von anti-separatistischen Aktionen gegen die Zivilbevölkerung besonders betroffen war. Aus diesem Grund war mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Vater des BF im Falle seiner Rückführung besondere Aufmerksamkeit seitens russischer Behörden gewidmet würde und angesichts der aufgrund wiederholter Terroranschläge angespannten und gegenüber Personen aus dem Kaukasus feindlichen Stimmung in der gesamten russischen Föderation, in Verbindung mit der Ethnie des Vaters des BF – abgesehen davon, dass er den Behörden auch namentlich bekannt war – war auch nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Vater des BF außerhalb Dagestans keinerlei asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt wäre oder effektiven behördlichen Schutz dagegen zu erwarten hätte. Für den BF wurden keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht, als Familienangehöriger, nämlich Sohn, seines Vaters wurde dem BF aber, wie auch seiner Mutter und seinen Geschwistern, der gleiche Schutzumfang gewährt.
Mit dem angefochtenen Bescheid des BFA vom XXXX wurde dem BF der ihm mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 15.11.2006, Zahl: 303.160-C1/E1-XIV/08/06, zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Absatz 1 Ziffer 2 Asylgesetz 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, aberkannt. Gemäß § 7 Absatz 4 AsylG wurde festgestellt, dass dem BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) wurde dem BF nicht zuerkannt. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG iVm § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Unter Spruchpunkt VII. wurde gegen den BF ein Einreiseverbot auf die Dauer von zehn Jahren erlassen.
In Österreich befinden sich die Mutter und die Geschwister des BF sowie der aufgrund von Drogenproblemen von diesen getrenntlebende Vater des BF. Der BF selbst ist kinderlos, ledig und in keiner Beziehung bzw Lebensgemeinschaft.
Der BF wohnte zeitweise immer wieder bei seiner Mutter und seinen Geschwistern und für etwa ein Jahr lang im Zeitraum 2019 und 2020 bei seiner Großmutter in XXXX , Frankreich, wobei er in dieser Zeit nicht gemeldet war.
Ein Abhängigkeitsverhältnis zu den in Österreich aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen des BF aus gesundheitlichen oder anderen Gründen besteht nicht.
Aufgrund von strafrechtlichen Verurteilungen verbrachte der BF auch ca zwei Jahre und acht Monate im Gefängnis. Der BF wurde sechsmal in Österreich rechtskräftig strafrechtlich verurteilt und zwar:
1.) LG XXXX vom XXXX :
§ 142 (1 u 2) StGB
Datum der (letzten) Tat 13.03.2014
Freiheitsstrafe 6 Monate, bedingt, Probezeit 3 Jahre
Junge(r) Erwachsene(r)
zu LG XXXX
Bedingte Nachsicht der Strafe wird widerrufen
LG XXXX
2.) LG XXXX
§ 105 (1) StGB
§ 84 (4) StGB.
Datum der (letzten) Tat 15.01.2017
Freiheitsstrafe 10 Monate
Vollzugsdatum 20.02.2018
3.) LG XXXX
§ 84 (4) StGB
Datum der (letzten) Tat 17.04.2016
Freiheitsstrafe 8 Monate
Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX
Junge(r) Erwachsene(r)
Vollzugsdatum 28.08.2018
4.) LG XXXX
§§ 15 StGB § 84 (4) StGB
Datum der (letzten) Tat 28.01.2017
Freiheitsstrafe 14 Monate
Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX
Zu LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX
Aus der Freiheitsstrafe entlassen am XXXX , bedingt, Probezeit 3 Jahre
Anordnung der Bewährungshilfe
LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX
Zuständigkeit gemäß § 179 Abs. 1 STVG übernommen
LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX
Aufhebung der Bewährungshilfe
LG XXXX
zu LG XXXX
zu LG XXXX zu LG XXXX
zu LG XXXX
Probezeit der bedingten Entlassung verlängert auf insgesamt 5 Jahre
LG XXXX
5.) LG XXXX
§ 83 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 03.04.2016
Keine Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX
Keine Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX
Keine Zusatzstrafe gemäß §§ 31 und 40 STGB unter Bedachtnahme auf LG XXXX
Junge(r) Erwachsene(r)
Vollzugsdatum 12.05.2018
6.) LG XXXX
§§ 28 (1) 1. Fall, 28 (1) 2. Fall, 28 (1) 3. Fall, 28(4) SMG
§ 83 (1) StGB
Datum der (letzten) Tat 21.08.2019
Freiheitsstrafe 6 Monate
Vollzugsdatum 08.04.2021
Der BF ist gesund, leidet an keinen lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Krankheiten und nimmt keine Medikamente ein.
Der BF spricht und versteht Deutsch. Zusätzlich spricht und versteht er Russisch sowie, wenn auch nicht so gut wie die anderen beiden Sprachen, Tschetschenisch.
In Österreich besuchte der BF die Hauptschule. Er sammelte in Österreich geringfügig Arbeitserfahrung und arbeitete insgesamt ca sechs Monate bei folgenden verschiedenen Arbeitgebern: XXXX (21.10.2013 - 21.2.2014 als Arbeiterlehrling); XXXX (05.12.2016 - 22.12.2016 als Angestelltenlehrling); XXXX (09.08.2016 -08.09.2016 als Arbeiter); XXXX (02.11.2015 - 02.11.2015 als geringfügig beschäftigter Arbeiter). Diese Zeiten der Erwerbstätigkeit waren immer wieder von Zeiten des Transferleistungsbezuges unterbrochen.
Der BF hat geringe soziale Kontakte zu anderen Österreichern in Österreich.
Der BF ist erkennbar in der Lage, eine Erwerbstätigkeit - zumindest Hilfstätigkeiten – auszuüben und ist auch arbeitswillig.
Festgestellt wird, dass der in Art. 1 Abschnitt C Z 5 der GFK angeführte Endigungsgrund eingetreten ist.
Dem BF droht in der Russischen Föderation keine Doppelbestrafung und auch außerhalb der Strafverfolgung keine Verfolgung auf Grund des der Verurteilung in Österreich zugrundliegenden Verhaltens. Dem BF droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Folter oder unmenschliche Behandlung auf Grund seiner Verurteilung in Österreich und des dieser Verurteilung zugrundeliegenden Verhaltens. Ihm droht im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation keine Verfolgung wegen der Asylantragstellung oder wegen des langjährigen Aufenthaltes außerhalb der Russischen Föderation.
Es ist dem BF jedenfalls möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation, entweder in Tschetschenien selbst oder auch in anderen Landesteilen niederzulassen und anzumelden sowie durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele russische Städte verfügen über eine große tschetschenische Diaspora und bieten die stärkeren Metropolen und Regionen Russlands bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch Chancen für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der BF hat auch Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.
Zudem sind Verwandte des BF (jedenfalls Verwandte väterlicherseits) im Heimatland aufhältig und kann der BF den Kontakt zu diesen Personen (notfalls über seinen in Österreich lebenden Vater) wiederherstellen.
Zur Lage in der Russischen Föderation/Tschetschenien:
Politische Lage
Letzte Änderung: 04.09.2020
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt wor- den (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadminis- tration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahl- beteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen.Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderations- rat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischus- tin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahl- beteiligungvonca.65%derStimmberechtigtenstimmtenlautrussischerWahlkommissionknapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullset- zung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhal- tet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).
Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderations- subjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).
Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIANowosti 23.9.2016; vgl. Global
Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).
Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichemAutonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken,Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).
Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkauka- sus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exe- kutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Ein- gliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei derAbschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).
Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungs- partei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online
9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten fest- genommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer „smarten Abstimmung“ aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichti- gen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt (2.3.2020c): Russische Föderation – Politisches Portrait, https://www.ausw aertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/politisches-portrait/201710 , Zugriff 10.3.2020
• CIA – Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook, Central Asia: Russia, https:
//www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html , Zugriff 10.3.2020
• EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of- protection.pdf , Zugriff 10.3.2020
• FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten
im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html , Zugriff 10.3.2020
• GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Ge-
schichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 17.7.2020
• GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020c): Russland, Ge-
sellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/ , Zugriff 17.7.2020
• Global Security (21.9.2016): Duma Election - 18 September 2016, https://www.globalsecurity.org
/military/world/russia/politics-2016.htm , Zugriff 10.3.2020
• Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kl einezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-bei-Kundgebung-in-Moskau , Zugriff 10.3.2020
• MDR 16.7.2020): Mehr als 140 Demonstranten in Moskau festgenommen, https://www.mdr.de/nac
hrichten/politik/ausland/festnahme-moskau-putin-kritiker-bei-protest-100.html , Zugriff 21.7.2020
• ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-2019-556 03/ , Zugriff 10.3.2020
• OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic In- stitutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true , Zugriff 10.3.2020
• Presse.at (19.3.2018): Putin: „Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen“, https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst- sich-um-Machtzentrum-zusammen , Zugriff 10.3.2020
• RIA Nowosti (23.9.2016): ??? ???????? ?????????? ??????? ? ???????, https://ria.ru/2016092
3/1477668197.html , Zugriff 10.3.2020
• Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://dersta
ndard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident , Zugriff 10.3.2020
• Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-w
ahl-putin-101.html , Zugriff 10.3.2020
• Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/
politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau , Zugriff 10.3.2020
Tschetschenien
Letzte Änderung: 09.04.2020
Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republiko- berhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte imAusland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheni- ens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen paral- lel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durch- schnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tsche- tschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Ent- führungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikfüh- rers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu ver- binden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderati- onssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebau- te „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungs- gebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Aus- land“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszu- stand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von In- guschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau
12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Pro- teste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaer- tiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation- stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
• FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten
im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020
• HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 3.3.2020
• NZZ – Neue Zürcher Zeitung (29.6.2019): Die Nordkaukasus-Republik Inguschetien ist innerlich zerrissen, https://www.nzz.ch/international/nordkaukasus-inguschetien-nach-protesten-innerlich- zerrissen-ld.1492435, Zugriff 11.3.2020
• ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/lo-
cal/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, htt- ps://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 10.3.2020
Dagestan
Letzte Änderung: 09.04.2020
Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 13.1.2020). Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019).
Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien (SWP 4.2015) und wird nicht ganz so ausgeprägt kontrolliert wie in Tschetschenien (AA 13.2.2019). Ebenso existiert – anders als in der Nachbarrepublik – zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht auto- kratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen (SWP 4.2015). Die Bewohner Dagestans sind hinsichtlich persönlicher Freiheit besser gestellt, und auch die Menschenrechtslage ist grund- sätzlich besser als im benachbarten Tschetschenien (AA 13.2.2019), obwohl auch in Dagestan mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einhergehen (AA 13.2.2019, vgl. SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktions- vorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew wurde das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien ausgehebelt. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden; im Nordkaukasus hatte er davon jedoch Abstand genommen. Wassiljew ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dage- stan – und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht – Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll (NZZ 12.2.2018).
Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungs- chef Abdussamad Gamidow, zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet, um die wirtschaftlich abgeschlagene und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängende Nordkaukasus- Republik auszubeuten. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018, vgl. Standard.at 5.2.2018).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaer- tiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation- stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
• ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentati- on (13.1.2020): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen, htt- ps://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan- zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 10.3.2020
• Dekoder (24.5.2016): Nicht-System-Opposition, https://www.dekoder.org/de/gnose/nicht-system-
opposition, Zugriff 10.3.2020
• NZZ – Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan: Moskau räumt im Nordkauka- sus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 10.3.2020
• ÖB Moskau – Österreichische Botschaft Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föde- ration, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
• Standard.at (5.2.2018): Regierungsspitze in russischer Teilrepublik Dagestan festgenommen, https://www.derstandard.at/story/2000073692298/regierungsspitze-in-russischer-teilrepublik-da- gestan-festgenommen, Zugriff 10.3.2020
• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 10.3.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 09.04.2020
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheits- behörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehendeAufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Süd- rand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischerAußen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020
• BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufent-
halt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020
• Deutschlandfunk(28.6.2017):Anti-TerrorkampfinDagestan.RussischeMethoden,https://www.deutsch- landfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020
• EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinwei- se für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russ- land/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020
• GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland,Alltag,
https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020
• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_- hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
Nordkaukasus
Letzte Änderung: 09.04.2020
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Men- schenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widme- ten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kauka- sus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkau- kasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch mo- tivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaff- neter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größteAnteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten