Entscheidungsdatum
04.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W251 2214514-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Somalia, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.01.2019, Zl. 1116836006-160756245, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Somalias, stellte am 30.05.2016 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt der Antragsstellung minderjährig.
2. Am nächsten Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass sein Volk „Midgan“ in Somalia eine Minderheit sei und er dort nicht leben könne. Er werde wie ein Zigeuner behandelt. Das Leben sei sehr schwer für ihn. Er dürfe dort mit niemand anderem Kontakt haben.
3. Am 10.04.2018 fand die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Der Beschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen befragt im Wesentlichen an, dass er aufgrund seiner Clanzugehörigkeit in Somaliland diskriminiert worden sei. Man könne nicht leben, wie man wolle. Man könne sich mit Mitgliedern anderer Clans nicht unterhalten oder etwas unternehmen.
4. Am 01.10.2018 wurde der Beschwerdeführer erneut durch das Bundesamt einvernommen. Ihm wurde das Ergebnis der Anfrage an die Staatendokumentation zu seinen Clanangaben vorgehalten.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.) und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkte IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das Bundesamt aus, dass der Beschwerdeführer seine Fluchtgründe nicht habe glaubhaft machen können. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.
6. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass das mangelhafte Wissen des Beschwerdeführers über seine Clanzugehörigkeit als Indiz für die Glaubhaftigkeit der Minderheitenangehörigeneigenschaft gewertet werden müsse. Bei richtiger Würdigung hätte das Bundesamt zu einer anderslautenden Entscheidung gelangen müssen.
7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.04.2021 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die somalische Sprache und im Beisein des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist somalischer Staatsangehöriger, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben und spricht Somali als Muttersprache (AS 1, 130; Verhandlungsprotokoll vom 29.04.2021 = VP S. 6). Er ist ledig und hat keine Kinder (VP S. 8).
1.1.2. Der Beschwerdeführer ist nicht Angehöriger des Clans der Gabooye oder eines anderen Minderheitenclans. Es kann nicht festgestellt werden, welchem Clan der Beschwerdeführer tatsächlich angehört. Er ist Angehöriger eines Mehrheitsclans.
1.1.3. Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt Hargeysa geboren und ist dort aufgewachsen (AS 1, 130; VP S. 6).
1.1.4. Die Familie des Beschwerdeführers und ein Onkel väterlicherseits leben nach wie vor in einem Haus in Hargeysa. Ein Onkel mütterlicherseits lebt etwas außerhalb von Hargeysa (AS 132). Der Beschwerdeführer hat nach wie vor Kontakt zu seinen Familienangehörigen sowie Freunden und Bekannten in Hargeysa.
1.1.5. Der Beschwerdeführer besuchte im Herkunftsstaat mehrere Jahre die Schule. Der Beschwerdeführer hat keine Berufsausbildung. Er hat keine Berufserfahrung im Herkunftsstaat (AS 1, 131; VP S. 8).
1.1.6. Der Beschwerdeführer reiste im März 2016 aus seinem Herkunftsstaat aus (AS 132; VP S. 9). Er ist unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich eingereist und stellte am 30.05.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt seiner Antragsstellung minderjährig.
1.1.7. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, er ist arbeitsfähig (AS 131; VP S. 12 f). Er gehört keiner COVID-19 Risikogruppe an und weißt diesbezüglich auch keine Dispositionen auf.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.
1.2.1. Der Beschwerdeführer wurde im Herkunftsstaat nicht aufgrund der behaupteten Zugehörigkeit zum Clan der Gabooye verfolgt oder diskriminiert. Der Beschwerdeführer gehört nicht dem Clan der Gabooye oder einem anderen Minderheitenclan an. Der Beschwerdeführer hatte in Somalia keine konkret und individuell gegen ihn gerichteten Probleme aufgrund seiner Clanzugehörigkeit.
Der Beschwerdeführer hat Somalia weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Unversehrtheit noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Im Falle seiner Rückkehr nach Somalia droht dem Beschwerdeführer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Al Shabaab oder durch andere Personen.
1.2.2. Der Beschwerdeführer übt derzeit keine religiösen Riten, wie Beten, Fasten oder den Besuch einer Moschee aus. Dem Beschwerdeführer droht aufgrund der Tatsache, dass er aktuell keine religiösen Riten (Beten, Fasten, den Besuch der Moschee) ausübt, in Somalia bei einer Ansiedelung in Hargeysa keine physische oder psychische Gewalt. Er ist nicht vom Islam abgefallen und er ist immer noch sunnitischer Moslem. Er tritt auch nicht spezifisch gegen den Islam oder gar religionsfeindlich auf. Es ist niemandem in Somalia bekannt, dass der Beschwerdeführer in Österreich im Zuge des Asylverfahrens angegeben hat, kein Moslem mehr zu sein.
Der Beschwerdeführer hat keine Verhaltensweisen verinnerlicht, die bei einer Rückkehr nach Somalia als Glaubensabfall gewertet werden würde. Es ist in Somalia niemandem bekannt, dass der Beschwerdeführer im Asylverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Erlangung eines Asyltitels behauptet hat vom Islam abgefallen zu sein.
Dem Beschwerdeführer droht in Somalia aufgrund eines auch nur unterstellten Abfalles vom islamischen Glauben keine Gefahr der physischen oder psychischen Gewalt.
Im Falle seiner Rückkehr nach Somalia droht dem Beschwerdeführer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Al Shabaab oder durch andere Personen.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Somalia sowie bei einer Ansiedlung in Hargeysa kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.
Der Beschwerdeführer kann sich in Hargeysa ansiedeln, wo er über familiäre Anknüpfungspunkte verfügt. Er hat sein ganzes Leben in Hargeysa verbracht, sodass er über Ortskenntnisse verfügt, ihm sind städtische Strukturen bekannt. Der Beschwerdeführer kann in Hargeysa grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer kann bei einer Rückkehr nach Somalia und einer Ansiedlung in Hargeysa bei seiner Familie Unterkunft nehmen und von diesen auch bei der Arbeitssuche unterstützt werden. Der Beschwerdeführer kann auch auf die Unterstützung seiner Familie und seines Clans zurückgreifen.
Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig und gesund. Der Beschwerdeführer ist mit den Gepflogenheiten in Somalia vertraut und spricht Somali als Muttersprache. Er ist ein junger, erwerbsfähiger Mann mit mehrjähriger Schulbildung, der sich nach möglichen anfänglichen Schwierigkeiten selbst versorgen kann. Er hat keine Unterhaltsverpflichtungen. Die Familie des Beschwerdeführers kann ihn bei einer Rückkehr nach Somalia zumindest anfänglich unterstützen. Der Beschwerdeführer kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
Es ist dem Beschwerdeführer somit möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Rückkehr nach Somalia und der Ansiedlung in Hargeysa Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
1.4. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer ist seit seiner Antragsstellung am 30.05.2016 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG in Österreich durchgehend aufhältig.
Der Beschwerdeführer besuchte von September 2016 bis Dezember 2016 und von Jänner 2017 bis Februar 2017 Deutschkurse für die Stufe A1 (AS 139-141) und von Februar 2017 bis Juli 2017 einen Deutschkurs für die Stufe A2 (AS 143). Im Juli 2017 absolvierte er das ÖSD-Zertifikat A2. Er verfügt über durchschnittliche Deutschkenntnisse (VP S. 12).
Der Beschwerdeführer geht keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung (VP 13; Beilage ./I.).
Der Beschwerdeführer arbeitete im Sommer 2020 auf dem Friedhof einer Kirche und führte Gartenarbeiten aus (VP S. 13).
Der Beschwerdeführer hat keine wesentlichen freundschaftlichen Kontakte in Österreich knüpfen können (VP S. 14). Er verfügt weder über Verwandte noch über sonstige enge soziale Bindungen in Österreich (VP S. 14 f).
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Beilage ./I.).
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:
Die Länderfeststellungen zur Lage in Somalia basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Somalia, Stand 31.03.2021 (LIB),
- FFM Report Somalia, Sicherheitslage in Somalia, August 2017 (FFM),
- Focus Somalia Clans und Minderheiten vom 31.05.2017 (Focus Somalia),
- ACCORD Themendossier humanitäre Lage in Somalia, vom 22.02.2021 (ACCORD)
- FSNAU-FEWS, Post Deyr Technical Release vom 04.02.2021 (FSNAU)
1.5.1. Politische Situation
Somalia ist faktisch zweigeteilt in die somalischen Bundesstaaten und Somaliland, einen selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (LIB, Kapitel Politische Lage).
Seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 war Süd-/Zentralsomalia immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen. Somalia hat bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt, staatliche und regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert, auf vielen Gebieten wurden große Fortschritt erzielt. Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (LIB, Kapitel Politische Lage).
Somalia befindet sich in einer schweren Verfassungs- und politischen Krise. Das Versagen, einen Kompromiss zu finden, hat nicht nur den demokratischen Prozess unterminiert, es hat die Sicherheit Somalias vulnerabel gemacht. Denn al Shabaab hat sich die politische Krise zu Nutzen gemacht und die Angriffe seit Anfang 2021 verstärkt (LIB, Kapitel Politische Lage).
Es konnten neue Bezirks- und Regionalverwaltungen etabliert werden. Neben Puntland wurden in den letzten Jahren vier neue Bundesstaaten geschaffen: Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet. Offen sind noch der finale Status und die Grenzen der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (LIB, Kapitel Politische Lage).
Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (LIB, Kapitel Politische Lage).
Somaliland ist politisch, wirtschaftlich und in Sicherheitsfragen größtenteils vom Rest des Landes entkoppelt. Das Land verfügt über zahlreiche Zeichen der Eigenständigkeit: Es gibt eine Zivilverwaltung, Streitkräfte, eine eigene Währung, eigene Polizei, ein eigenes – mehr oder weniger funktionierendes – Steuersystem, eine Regierung, eine Verfassung und seit Jahren über ökonomische Stabilität. Somaliland hat schrittweise staatliche Strukturen wiederaufgebaut und war auch bei demokratischen Reformen erfolgreich. Das Land verfügt über eine funktionierende Regierung, und mit internationaler Hilfe konnten Bezirksverwaltungen und Bezirksräte etabliert werden (LIB, Kapitel Politische Lage).
1.5.2. Sicherheitslage
Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer, wo die Sicherheitslage instabil bzw. volatil bleibt (LIB, Kapitel Sicherheitslage).
Die Sicherheitslage in Somaliland ist stabil. Überhaupt ist Somaliland der stabilste Teil Somalias. Es ist dort auch vergleichsweise friedlich. Friede und politische Stabilität wurden 1997 erlangt. Die Regierung übt über das ihr unterstehende Gebiet Kontrolle und Souveränität aus und kann dort regieren und Vorhaben umsetzen. Nur das Randgebiet zu Puntland und einige sehr entlegene ländliche Gebiete sind davon ausgenommen (LIB, Kapitel Sicherheitslage Somaliland).
Die Sicherheitskräfte können in einem vergleichsweise befriedeten Umfeld ein höheres Maß an Sicherheit im Hinblick auf terroristische Aktivitäten und allgemeine Kriminalität herstellen als in anderen Landesteilen. Dies gilt insbesondere für die Regionen Awdal und Woqooyi Galbeed mit den Städten Hargeysa, Berbera, Borama und Burco. Diese Gebiete sind relativ sicher. Somaliland ist damit das sicherste Gebiet Somalias, die Sicherheitslage ist dort deutlich stabiler (LIB, Kapitel Sicherheitslage Somaliland).
1.5.3. Al-Shabaab:
Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: der Eroberung Somalias. Allerdings wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (LIB, Kapitel Al Shabaab)
Die Menschen auf dem Gebiet von al Shabaab sind einer höchst autoritären und repressiven Herrschaft unterworfen. Die Gruppe versucht, alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens der Menschen zu kontrollieren. Die mit der Nichtbefolgung strenger Vorschriften verbundenen harten Bestrafungen haben ein generelles Klima der Angst geschaffen. Dadurch kann al Shabaab die Bevölkerung kontrollieren, rekrutieren, Gebiete kontrollieren, Steuern eintreiben und ihre Gesetze durchsetzen (LIB, Kapitel Al Shabaab).
In den von ihr kontrollierten Gebieten verfügt al Shabaab über effektive Verwaltungsstrukturen, eine Art von Rechtsstaatlichkeit und eine effektive Polizei. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (LIB, Kapitel Al Shabaab).
Trotz der vergleichsweise geringen finanziellen Ressourcen ist Somaliland gelungen, was Somalia, Kenia, der Türkei, Äthiopien und den USA im Rest des Landes nicht gelungen ist: Al Shabaab konnte in Somaliland nicht Fuß fassen. Die Terrorgruppe kontrolliert einerseits keine Gebiete in Somaliland, andererseits gibt es so gut wie keine Angriffe durch al Shabaab bzw. wurden Versuche erkannt und Anschläge verhindert (LIB, Kapitel Sicherheitslage Somaliland).
Es gibt keine signifikanten Aktivitäten der al Shabaab in Somaliland, die Gruppe kann dort auch keine Steuern einheben. Allerdings verfügt der Nachrichtendienst von al Shabaab (Amniyat) in Somaliland über ein Netzwerk an Informanten. Demnach bleibt die Gruppe für Somaliland eine Bedrohung. Es ist davon auszugehen, dass sie in Hargeysa über eine Präsenz verfügt, deren Kapazitäten aber gering sind (LIB, Kapitel Sicherheitslage Somaliland).
1.5.4. Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates:
Im somalischen Kulturraum existieren drei Rechtsquellen: traditionelles Recht (Xeer), islamisches Schariarecht (v.a. für familiäre Angelegenheiten) sowie formelles Recht. Bürger wenden sich aufgrund der Mängel im formellen Justizsystem oft an die traditionelle oder die islamische Rechtsprechung. Der mangelnde (Rechts-)Schutz durch die Regierung führt dazu, dass sich Staatsbürger der Schutzgelderpressung durch al Shabaab beugen (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).
Staatlicher Schutz ist auch im Falle von Clankonflikten von geringer Relevanz, die „Regelung“ wird grundsätzlich den Clans selbst überlassen. Aufgrund der anhaltend schlechten Sicherheitslage sowie mangels Kompetenz der staatlichen Sicherheitskräfte und Justiz muss der staatliche Schutz in Zentral- und Südsomalia als schwach bis nicht gegeben gesehen werden. Staatliche Sicherheitskräfte können und wollen oftmals nicht in Clankonflikte eingreifen. Befinden sich Angehörige eines bestimmten Clans oder von Minderheiten in Gefahr oder sind diese bedroht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass Zugang zu effektivem staatlichem Schutz gewährleistet ist (LIB, Kapitel Rechtsschutz, Justizwesen).
1.5.5. Clanstruktur:
Die Zugehörigkeit zu einem Clan ist der wichtigste identitätsstiftende Faktor für Somalis. Sie bestimmt, wo jemand lebt, arbeitet und geschützt wird. Darum kennen Somalis üblicherweise ihre exakte Position im Clansystem (LIB, Kapitel Minderheiten und Clans).
Die Clanfamilien unterteilen sich in die Ebenen der Clans, Sub(sub)clans, Lineages und die aus gesellschaftlicher Sicht bei den nomadischen Clans wichtigste Ebene, die sogenannte Mag/Diya (Blutgeld/Kompensation) zahlenden Gruppe (Jilib), die für Vergehen Einzelner gegen das traditionelle Gesetz (Xeer) Verantwortung übernimmt (Focus, S. 8 f, LIB Kapitel Rechtsschutz und Justizwesen).
Clanschutz bedeutet für eine Einzelperson die Möglichkeit vom eigenen Clan gegenüber einem Aggressor von außerhalb des Clans geschützt zu werden. Die Rechte einer Gruppe werden durch Gewalt oder die Androhung von Gewalt geschützt. Ein Jilib oder Clan muss in der Lage sein, Kompensation zu zahlen - oder zu kämpfen. Schutz und Verletzlichkeit einer Einzelperson sind deshalb eng verbunden mit der Macht ihres Clans. Generell - aber nicht überall - funktioniert Clanschutz besser als der Schutz durch Staat oder Polizei. Darum aktivieren Somalis im Konfliktfall (Verbrechen, Streitigkeit etc.) tendenziell eher Clanmechanismen. Durch dieses System der gegenseitigen Abschreckung werden Kompensationen üblicherweise auch ausbezahlt (LIB, Kapitel Rechtsschutz und Justizwesen).
Die sogenannten „noblen“ Clanfamilien können (nach eigenen Angaben) ihre Abstammung auf mythische gemeinsame Vorfahren und den Propheten Mohammed zurückverfolgen. Die meisten Minderheiten sind dazu nicht in der Lage. Als "noble" Clanfamilien gelten die traditionell nomadischen Hawiye, Darod, Dir und Isaaq sowie die sesshaften Digil und Mirifle/Rahanweyn. Alle Mehrheitsclans sowie ein Teil der ethnischen Minderheiten – nicht aber die berufsständischen Gruppen – haben ihr eigenes Territorium. Dessen Ausdehnung kann sich u. a. aufgrund von Konflikten verändern (LIB, Kapitel Bevölkerungsstruktur).
Als Minderheiten werden jene Gruppen bezeichnet, die aufgrund ihrer geringeren Anzahl schwächer als die „noblen“ Mehrheitsclans sind. Dazu gehören Gruppen anderer ethnischer Abstammung; Gruppen, die traditionell als unrein angesehene Berufe ausüben; sowie die Angehörigen „nobler“ Clans, die nicht auf dem Territorium ihres Clans leben oder zahlenmäßig klein sind (LIB, Kapitel Bevölkerungsstruktur).
Aufgrund der großen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Clans ist es auch heute für Somalier im somalischen Kulturraum essentiell und in der Diaspora zumindest nicht irrelevant, sich in diesem System verorten zu können (Focus, S. 20). Jüngere Somalier im urbanen Raum oder in der Diaspora sind heute häufig nur noch in der Lage, ihre Clanzugehörigkeit bis zur Stufe Sub-Clan sowie vier oder fünf Generationen im Abtirsiimo (Abstammungslinie) aufzuzählen. Es kommt aber selbst bei jungen Somalier in der Diaspora nicht vor, dass sie gar keine Ahnung von ihrem Clan und ihrem Abtirsiimo haben. Sogar wenn sie sich für das Clansystem nicht interessieren, können sie zumindest ihren Clan und Sub-Clan sowie den Abtirsiimo bis zum Urgroßvater nennen. Fast alle Somalier kennen zumindest ihren Clan-Ältesten (Focus, S. 24).
Minderheiten
Die berufsständischen Gruppen stehen auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie der somalischen Gesellschaft. Sie unterscheiden sich in ethnischer, sprachlicher und kultureller Hinsicht nicht von der Mehrheitsbevölkerung, sind aber traditionell in Berufen tätig, die von den Mehrheitsclans als "unrein" oder "unehrenhaft" angesehen werden. Diese Berufe und andere ihrer Praktiken (z.B. Fleischverzehr) gelten darüber hinaus als unislamisch (Focus, S. 14).
Die Clans der berufsständischen Gruppen sind gleich strukturiert wie die Mehrheitsclans, mit dem einzigen Unterschied, dass sie ihre Abstammung nicht auf die Gründerväter Samaale bzw. Saab zurückverfolgen können, sondern "nur" auf den "Vater" ihres Clans. Gleich wie die Mehrheitsclans haben das Aufzählen der Väter (Abtirsiimo) und die Zugehörigkeit zu einem Clan eine große Bedeutung (Focus, S. 15 f).
Für die Berufsgruppen gibt es zahlreiche somalische Bezeichnungen, bei denen regionale Unterschiede bestehen. Häufig genannt werden Waable, Sab, Madhibaan und Boon. Die landesweit geläufige Bezeichnung Midgaan ist negativ konnotiert (er bedeutet "unberührbar" oder "ausgestoßen") und wird von den Berufsgruppen-Angehörigen als Beleidigung empfunden; sie bevorzugen Begriffe wie Madhibaan oder Gabooye. Der Ausdruck Gabooye wird besonders im Norden des somalischen Kulturraums als Dachbegriff benutzt. Der Begriff umfasst nicht alle Berufsgruppen, aber zumindest vier untereinander nicht verwandte Clans berufsständischer Gruppen: Tumaal, Madhibaan, Muse Dheriyo und Yibir. Der Begriff Gabooye kann auch als Begriff für einen eigenen Clan der berufsständischen Gruppen unter vielen gebraucht werden. Ursprünglich bezeichnete Gabooye nur einen Clan aus dem Süden, dessen Angehörige sich als Jäger betätigten. Madhibaan sind ursprünglich Jäger, heute aber als Färber, Gerber, Schuhmacher und in anderen Berufen tätig. Sie leben im ganzen somalischen Kulturraum (Focus, S. 16 f).
Aufgrund der wahrgenommenen Bevorzugung der berufsständischen Gruppen im Asylverfahren in westlichen Staaten sind andere Somalier dazu übergegangen, sich als Angehörige von Berufsgruppen auszugeben. Da andere Somalier aber im Durchschnitt gebildeter sind als die Angehörigen berufsständischer Gruppen, sind sie in der Lage, sich mehr Wissen über die berufsständischen Gruppen anzueignen, als diese selbst haben (Focus, S. 25).
Für die Gabooye hat sich die Situation im Vergleich zur Jahrtausendwende, als sie nicht einmal normal die Schule besuchen konnten, gebessert. Insbesondere unter jungen Somali ist die Einstellung zu ihnen positiver geworden; mittlerweile ist es für viele Angehörige der Mehrheitsclans üblich, auch mit Angehörigen berufsständischer Gruppen zu sprechen, zu essen, zu arbeiten und Freundschaften zu unterhalten. Es gibt keine gezielten Angriffe gegen oder Misshandlungen von Gabooye (LIB, Kapitel Minderheiten und Clans).
1.5.6. Religion:
Die Verfassungen von Somalia, Puntland und Somaliland bestimmen den Islam als Staatsreligion. Das islamische Recht (Scharia) wird als grundlegende Quelle der staatlichen Gesetzgebung, alle Gesetze müssen mit den generellen Prinzipien der Scharia konform sein. Auch die Verfassungen der anderen Bundesstaaten erklären den Islam zur offiziellen Religion (LIB, Kapitel Religionsfreiheit).
Der Übertritt zu einer anderen Religion ist gesetzlich nicht explizit verboten, wohl aber durch die Scharia. Blasphemie und „Beleidigung des Islam“ sind Straftatbestände, Missionierung oder Werbung für andere Religionen ist laut Verfassung verboten. Andererseits bekennen sich die Verfassungen zu Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Auch ist dort das Recht auf Religionsfreiheit und ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion sowie die freie Glaubensausübung festgeschrieben (LIB, Kapitel Religionsfreiheit).
Die somaliländische Verfassung gestattet zwar die Glaubensfreiheit, erklärt aber gleichzeitig den Islam zur Staatsreligion und verbietet die Konversion zu einer sowie die Missionierung für eine andere Religion. Weder in Hargeysa noch im Rest Somalilands gibt es eine Religionspolizei. Der Islam und die damit verbundenen Regeln finden breite Akzeptanz. er die Religionsfreiheit betreffende Bericht des US-Außenministeriums nennt für Somaliland nur einen Vorfall von Gewalt gegen Nicht-Muslime. Dabei wurde eine Frau von ihren Brüdern verprügelt, von ihrem Ehemann verlassen, und es wurden ihr ihre Kinder entzogen, weil bei ihr eine Bibel gefunden worden war (LIB, Kapitel Religionsfreiheit).
1.5.7. Grundversorgung:
Die somalische Wirtschaft hat mit dem dreifachen Schock aus Covid-19, einer Heuschreckenplage und Überschwemmungen zu kämpfen. Dabei hat sich die Wirtschaft als resilienter erwiesen, als zuvor vermutet. Trotzdem bleibt die somalische Wirtschaft im Allgemeinen weiterhin fragil. Dies hängt mit der schmalen Wirtschaftsbasis zusammen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist von Landwirtschaft und Fischerei abhängig und dadurch externen und Umwelteinflüssen besonders ausgesetzt (LIB Kapitel Grundversorgung).
Es gibt kein nationales Mindesteinkommen. In einer von Jahrzehnten des Konflikts zerrütteten Gesellschaft hängen die Möglichkeiten des Einzelnen generell sehr stark von seinem eigenen und vom familiären Hintergrund sowie vom Ort (Stadt-Land- und Nord-Süd-Gefälle) ab. Generell zeigt vor allem die urbane Ökonomie in Somalia – allen voran in Mogadischu – eine Erholung. Es gibt einen Bau-Boom. Supermärkte, Restaurants und Geschäfte werden eröffnet. Alleine der Telekom-Konzern Hormuud Telecom hat in den vergangenen Jahren tausende Arbeitsplätze geschaffen und beschäftigt heute mehr als 20.000 Frauen und Männer. In Puntland und Teilen Südsomalias – insbesondere Mogadischu – boomt der Bildungsbereich (LIB Kapitel Grundversorgung).
Einerseits wird berichtet, dass die Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, Rückkehrer und andere vulnerable Personengruppen limitiert sind. Andererseits wird ebenso berichtet, dass die besten Jobs oft an Angehörige der Diaspora fallen – etwa wegen besserer Sprachkenntnisse. Gerade um eine bessere Arbeit zu erhalten, ist man aber auch auf persönliche Beziehungen und das Netzwerk des Clans angewiesen. Dementsprechend schwer tun sich IDPs, wenn sie vor Ort über kein Netzwerk verfügen; meist sind sie ja nicht Mitglieder der lokalen Gemeinde (LIB, Kapitel Grundversorgung).
Viele Menschen leben vom Kleinhandel oder von ihrer Arbeit in Restaurants oder Teehäusern. Allerdings ist eine Arbeit in der Gastwirtschaft mit niedrigem Ansehen verbunden. Die Mehrheitsbevölkerung ist derartige Tätigkeiten sowie jenen auf Baustellen äußerst abgeneigt. Dort finden sich vielmehr marginalisierte Gruppen – z.B. IDPs – die oft auch als Tagelöhner arbeiten.
Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Subsistenzwirtschaft, sei es als Kleinhändler, Viehzüchter oder Bauern. Zusätzlich stellen Remissen für viele Menschen und Familien ein Grundeinkommen dar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist direkt oder indirekt von der Viehzucht abhängig. Die große Masse der werktätigen Männer und Frauen arbeitet in Landwirtschaft, Viehzucht und Fischerei (62,8%). Der nächstgrößere Anteil an Personen arbeitet als Dienstleister oder im Handel (14,1%). 6,9% arbeiten in bildungsabhängigen Berufen (etwa im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor), 4,8% als Handwerker, 4,7% als Techniker, 4,1% als Hilfsarbeiter und 2,3% als Manager (LIB, Kapitel Grundversorgung).
Insgesamt ist das traditionelle Recht (Xeer) ein soziales Sicherungsnetz, eine Art der Sozial- und Unfall- bzw. Haftpflichtversicherung. Die Mitglieder des Qabiil (diya-zahlende Gruppe; auch Jilib) helfen sich bei internen Zahlungen – z.B. bei Krankenkosten – und insbesondere bei Zahlungen gegenüber Außenstehenden aus. Neben der Kernfamilie scheint der Jilib [Anm.: untere Ebene im Clansystem] maßgeblich für die Abdeckung von Notfällen verantwortlich zu sein. Wenn eine Person Unterstützung braucht, dann wendet sie sich an den Jilib oder – je nach Ausmaß – an untere Ebenen (z.B. Großfamilie) (LIB, Kapitel Grundversorgung).
Frauen stoßen immer mehr in ehemals männlich dominierte Wirtschaftsbereiche vor – etwa bei Viehzucht, in der Landwirtschaft und im Handel. Frauen tragen nunmehr oft den Hauptteil zum Familieneinkommen bei. Gerade auch die Hungersnot von 2011 und die Dürre 2016/17 haben den Vorstoß von Frauen in männliche Domänen weiter vorangetrieben. In Süd-/Zentralsomalia und Puntland sind Frauen in 43% der Haushalte mittlerweile die Hauptverdiener (LIB, Kapitel Grundversorgung).
Trotzdem bietet sich für vom Land in Städte ziehende Frauen meist nur eine Tätigkeit als z.B. Wäscherin an, da es diesen Frauen i.d.R. an Bildung und Berufsausbildung mangelt. Allerdings können sie z.B. auch als Kleinhändlerin tätig werden. Sie verkaufen Treibstoff, Milch, Fleisch, Früchte, Gemüse oder Khat auf Märkten oder auf der Straße. 80%-90% des derart betriebenen Handels wird von Frauen kontrolliert. Außerdem arbeiten Frauen in der Landwirtschaft. Andere arbeiten als Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Köchin, Schneiderin, Müllsammlerin oder aber auch auf Baustellen. Für Frauen gibt es auch weiterhin kulturelle Einschränkungen bezüglich der Berufsausübung, z.B. können sie nicht Taxifahrer werden (LIB, Kapitel Grundversorgung).
Für viele Haushalte sind Remissen aus der Diaspora eine unverzichtbare Einnahmequelle. Diese Remissen, die bis zu 40% eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens ausmachen, tragen wesentlich zum sozialen Sicherungsnetz bei und fördern die Resilienz der Haushalte (LIB, Kapitel Grundversorgung).
In vielen Teilen Somalilands gibt es nach wie vor Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung und Armut. In ländlichen Gebieten lebt mehr als eine von drei Personen in Armut, in urbanen Gebieten ist es mehr als eine von vier. In Somaliland ist es den Menschen aufgrund der besseren Sicherheitslage und der grundsätzlich besseren Organisation der staatlichen Stellen und besseren staatlichen Interventionen im Krisenfalle rascher möglich, den Lebensunterhalt wieder aus eigener Kraft zu bestreiten (LIB, Kapitel Grundversorgung Somaliland).
1.5.8. Aktuelle Grundversorgungslage (Nahrungsmittelversorgung, Dürre, Überflutung)
Aufgrund einer schlechten und unregelmäßigen Niederschlagsverteilung, der schweren Überschwemmungen, der Heuschreckenplage und der sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 und den anhaltenden Konflikten wird erwartet, dass bis zu 2,7 Millionen Menschen in ganz Somalia voraussichtlich bis Mitte 2021 mit Lücken beim Nahrungsmittelkonsum oder der Erschöpfung von Vermögenswerten, die auf eine Krise hindeuten (IPC-Phase 3), konfrontiert sein werden, wenn keine humanitäre Hilfe geleistet wird. Die verfügbaren Prognosen deuten auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von unterdurchschnittlichen Niederschlägen während der Gu-Saison 2021 (April bis Juni) im größten Teil des Landes hin, was sich nachteilig auf die Ernährungssicherheit und die Ernährungsergebnisse auswirken würde (FSNAU).
Die verzögerte und unregelmäßige Niederschlagsverteilung kennzeichnete die Deyr-Saison von Oktober bis Dezember 2020, was zu unterdurchschnittlichen kumulierten Niederschlägen im größten Teil des Landes führte. Die schlechten Regenfälle führten zu einer unzureichenden Wiederauffüllung der Weide- und Wasserressourcen und zu einer unterdurchschnittlichen Deyr-Pflanzenproduktion. Darüber hinaus verursachte der Zyklon Gati Ende November in den nordöstlichen Küstengebieten erhebliche Schäden und Todesfälle bei Nutztieren, obwohl die Regenfälle letztendlich die trockenen Bedingungen linderten. Des Weiteren verursachten wiederkehrende Überschwemmungen zwischen Juli und Anfang November weitere Vertreibungen der Bevölkerung und beschädigten Ernten und Ackerland in den Flussgebieten der Regionen Hiiraan, Shabelle und Juba. Trotz günstiger Niederschläge in Hagaa/Karan (Juli-September) in agropastoralen und pastoralen Gebieten im Nordwesten konnten die Regenfälle die Ernteverluste nicht ausgleichen, die durch schlechte Gu-Niederschläge (April-Juni 2020) während der Pflanz-, Keim- und Vegetationsperiode verursacht wurden (FSNAU).
Die Getreideproduktion in der Deyr-Saison 2020 in Südsomalia wird auf 78 600 Tonnen geschätzt, was 20 Prozent unter dem Durchschnitt von 1995-2019 liegt. Die Hauptfaktoren für eine unterdurchschnittliche Produktion sind schlechte und unregelmäßige Niederschläge, wiederkehrende Überschwemmungen, Wüstenheuschrecke und Konflikte. Im Nordwesten wird die im November 2020 geerntete Gu/Karan-Getreideproduktion im Jahr 2020 auf 17 100 Tonnen geschätzt, was 58 Prozent unter dem Durchschnitt von 2010-2019 liegt. Dies ist hauptsächlich auf schlechte und unregelmäßige Niederschläge sowie den Befall mit Wüstenheuschrecken und Stängelbohrern sowohl bei Hirse als auch Mais zurückzuführen (FSNAU).
Die ländliche Bevölkerung verzeichnet einen mehrfachen Rückgang der Nahrungsmittel- und Einkommensquellen. In pastoralen Gebieten haben unterdurchschnittliche Niederschläge in Teilen des Nordens, angrenzenden Gebieten Zentral-Somalias, Küstengebieten und der Region Gedo zu Wasserknappheit und Weidemangel geführt, was zu einer atypischen, früher als normalen Migration von Nutztieren in entfernte Weidegebiete führte. Infolgedessen ist die Verfügbarkeit von Milch zum Verzehr und Verkauf begrenzt. Darüber hinaus hat ein starker Rückgang der Viehausfuhren seit August 2020 Pastoralisten und andere Haushalte, die in der Wertschöpfungskette von Nutztieren arbeiten, nachteilig beeinflusst (FSNAU).
In den Gebieten entlang der Flüsse Shabelle und Juba zerstörten wiederkehrende Überschwemmungen Ackerland und Getreide und verdrängten die lokale Bevölkerung, was zu erheblichen Ernteverlusten und Einkommensverlusten durch landwirtschaftliche Beschäftigung führte. Infolgedessen wird ein erheblicher Teil der armen Haushalte in Flussgebieten bis Mitte 2021 auch mit moderaten bis großen Lücken beim Lebensmittelkonsum konfrontiert sein (FSNAU).
Die Zahl an Menschen, die in ganz Somalia stark oder sehr stark von Lücken in der Nahrungsmittelversorgung betroffen sind (IPC 3 und höher), ist von 1,3 Millionen Anfang 2020 auf 1,6 Millionen Anfang 2021 angewachsen. Weitere 2,5 Millionen Menschen leiden ebenfalls an Problemen bei der Nahrungsmittelversorgung. Die meisten ländlichen Gebiete fallen im Zeitraum Jänner-März 2021 unter IPC 2, jene in den Regionen Togdheer agro-pastoral, East Golis pastoral (Sanaag) und Coastal Deeh pastoral sowie Middle Shabelle riverine und Lower Juba riverine fallen in IPC 3. Dahingegen befinden sich Southern Inland pastoral (Hiiraan, Shabelle, Bakool, Bay und Juba) sowie Juba Cattle pastoral in IPC 1. Die meisten armen Stadtbewohner („urban poor“) sowie IDPs finden sich in IPC 2; die IDPs in Burco, Laascaanood, Bossaso, Garoowe, Qardho und Baidoa in IPC 3 (LIB Kapitel Grundversorgung).
Für die urbane Bevölkerung in Hargeysa gilt für den Zeitraum April bis Juni 2021 die IPC-Stufe 2 (stressed), für IDP-Lager in Hargeysa gilt für diesen Zeitraum die IPC-Stufe 3 (crisis) (FSNAU).
Am 22. November 2020 ist der Zyklon Gati in Bari, in der halbautonomen Region Puntland, auf Land getroffen. Im Distrikt Iskushuban sind etwa 60.000 Menschen und im Distrikt Bossaso schätzungsweise 40.000 Personen betroffen gewesen. Etwa 90 Prozent der Betroffenen sind IDPs oder Flüchtlinge gewesen, die in flutgefährdeten Gebieten wohnen. 42.000 Personen sind vertrieben worden, jedoch sind fast alle der Vertriebenen bis 30. November 2020 wieder in ihre Herkunftsgebiete zurückgekehrt. Viele der zurückgekehrten Haushalte wohnen jedoch in beschädigten Häusern oder Unterkünften. Der Zyklon hat zudem zu Zerstörung von Vermögenswerten der Lebensgrundlage in bedeutendem Ausmaß geführt. Zusätzlich ist aufgrund der durch den Sturm verursachten Zerstörung der Zugang zu einigen Gebieten in Bari eingeschränkt worden. Dies hat Nahrungsmittellieferungen und Lieferungen anderer Güter an lokale Märkte behindert und hat zu einem Preisanstieg geführt (ACCORD).
Die Löhne für Hilfsarbeiten sind laut im November 2020 veröffentlichtem Market Update der FSNAU im Oktober 2020 in den meisten Regionen Somalias leicht gestiegen, außer in den zentralen Regionen, wo die Löhne leicht zurückgegangen seien. Im Vergleich mit dem Fünfjahresschnitt für den Monat Oktober (2015-2019) ist es zu einem leichten bis moderaten Anstieg in den Regionen Sorghum Belt [Bay, Bakool, Gedo und Hiran], Banadir [Mogadischu] und den zentralen und nördlichen Regionen gekommen. Dies wird der relativen Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten während des Jahres zugeschrieben. Im Jubatal sowie den Shabelle-Regionen sind die Löhne aufgrund der negativen Auswirkungen von Überflutungen und Konflikten auf die saisonalen landwirtschaftlichen Aktivitäten und Arbeit geringer (ACCORD).
45,9 Prozent der beschäftigten Personen ab 15 Jahren sind in der Landwirtschaft tätig. In letzter Zeit ist der Dienstleistungssektor wichtiger geworden, insbesondere Geldüberweisung, Telekommunikation und Baugewerbe. Der Handwerksbereich ist weiterhin träge. Der größte Teil der Beschäftigten sind Hilfsarbeitskräfte (41 Prozent) (ACCORD).
1.5.9. Binnenflüchtlinge (IDPs):
IDPs sind andauernden schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, ihre besondere Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden von allerlei nichtstaatlichen – aber auch staatlichen – Stellen ausgenutzt und missbraucht.
Schläge, Vergewaltigungen, Abzweigung von Nahrungsmittelhilfen, Bewegungseinschränkung und Diskriminierung aufgrund von Clanzugehörigkeit sind an der Tagesordnung; es kommt auch zu Vertreibungen und sexueller Gewalt. Dies trifft in erster Linie Bewohner von IDP-Lagern – in Mogadischu v.a. jene IDPs, die nicht über Clanbeziehungen in der Stadt verfügen. Weibliche IDPs sind hinsichtlich einer Vergewaltigung besonders gefährdet. 2018 betrafen 80 % der gemeldeten Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt IDPs. Zu den Tätern gehören bewaffnete Männer und Zivilisten. Für IDPs in Lagern gibt es keinen Rechtsschutz, und es gibt in Lagern auch keine Polizisten, die man im Notfall alarmieren könnte (LIB, Kapitel Binnenflüchtlinge).
In Mogadischu sind die Bedingungen für IDPs in Lagern hart. Oft fehlt es dort an simplen Notwendigkeiten, wie etwa Toiletten. Landesweit fehlen in 80 % der IDP-Lager Wasserstellen – v.a. in Benadir, dem SWS und Jubaland. Die Rate an Unterernährung ist hoch, der Zugang zu grundlegenden Diensten eingeschränkt. Es mangelt ihnen zumeist an Zugang zu genügend Lebensmitteln und akzeptablen Unterkünften. Allerdings ist der Zustand von IDP-Lagern unterschiedlich. Während die neueren meist absolut rudimentär sind, verfügen ältere Lager üblicherweise über grundlegende Sanitär-, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen (LIB, Kapitel Binnenflüchtlinge).
Somaliland kooperiert mit dem UNHCR und IOM, um IDPs, Flüchtlingen, Rückkehrern, Asylwerbern oder Staatenlosen Unterstützung zukommen zu lassen. Die relative Sicherheit in Somaliland hat aus Süd-/Zentralsomalia zahlreiche Menschen angezogen, auch wenn dort kein staatlicher Schutz besteht. IDPs sind von willkürlichen Verhaftungen und Diskriminierung betroffen (LIB, Kapitel Binnenflüchtlinge Somaliland).
1.5.10. Medizinische Versorgung
Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die Infrastruktur bei der medizinischen Versorgung ist minimal und beschränkt sich meist auf Städte und sichere Gebiete. Die Ausrüstung reicht nicht, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Bevölkerung ausreichend abdecken zu können (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).
In Mogadischu gibt es mindestens zwei Spitäler, die für jedermann zugänglich sind. In manchen Spitälern kann bei Notlage über die Ambulanzgebühr verhandelt werden. Im Gegensatz zu Puntland werden in Süd-/Zentralsomalia Gesundheitseinrichtungen vorwiegend von internationalen NGOs unter Finanzierung von Gebern betrieben. Allerdings sind die öffentlichen Krankenhäuser mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Dabei ist der Standard von Spitälern außerhalb Mogadischus erheblich schlechter (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).
Die Primärversorgung wird oftmals von internationalen Organisationen bereitgestellt und ist für Patienten kostenfrei. Allerdings muss manchmal für Medikamente bezahlt werden. Private Einrichtungen, die spezielle Leistungen anbieten, sind sehr teuer. Medikamente, die Kindern oder ans Bett gebundenen Patienten verabreicht werden, sind kostenlos (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).
An psychiatrischen Spitälern gibt es nur zwei, und zwar in Mogadischu; daneben gibt es drei entsprechende Abteilungen an anderen Spitälern und vier weitere Einrichtungen. Psychisch Kranken haftet meist ein mit Diskriminierung verbundenes Stigma an. Nach wie vor ist das Anketten psychisch Kranker eine weit verbreitete Praxis (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).
Grundlegende Medikamente sind verfügbar, darunter solche gegen die am meisten üblichen Krankheiten sowie jene zur Behandlung von Diabetes, Bluthochdruck, Epilepsie und von Geschwüren. Auch Schmerzstiller sind verfügbar. Medikamente können ohne Verschreibung gekauft werden. Die Versorgung mit Medikamenten erfolgt in erster Linie über private Apotheken. Für Apotheken gibt es keinerlei Aufsicht (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung).
Die medizinische Versorgung hat sich im Laufe der letzten Jahre aber substantiell verbessert. Seit dem Jahr 2010 sind in Hargeysa viele neue Gesundheitseinrichtungen – ganze Spitäler, Zahnarztpraxen, Kliniken – eröffnet worden, viele davon privat. Im somaliländischen Gesundheitssystem gibt es vier Ebenen: Die Primary Health Care Units (PHU); die Health Centers (HC); die Referral Health Centers (RHC); und die regionalen Spitäler. Für das Jahr 2016 wurde die Zahl an Einrichtungen mit 123 PHU, 104 HC und 21 RHC angegeben. Die Zahl an Spitälern beläuft sich auf 16 – dies sind nur knapp weniger als im Rest Somalias zusammen. Die meisten Einrichtungen sind unterfinanziert bzw. mangelhaft ausgestattet – vor allem jene in ländlichen Gebieten. Das Hargeysa Group Hospital kann in einigen Bereichen spezialisierte medizinische Versorgung bieten, z.B. Dialyse. Es gibt in Somaliland mindestens 1.000 Apotheken, diese sind nicht reguliert (LIB, Kapitel Medizinische Versorgung Somaliland).
1.5.11. Bewegungsfreiheit:
Gesetze schützen das Recht auf Bewegungsfreiheit im Land und das Recht zur Ausreise. Diese Rechte sind in einigen Landesteilen eingeschränkt (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit und Relokation).
Reisende sind durch die zahlreichen, von unterschiedlichen Gruppen betriebenen Straßensperren, an welchen Wegzoll erpresst wird, einer Gefahr ausgesetzt. Neben den Straßensperren kann auch das Aufflammen bewaffneter Auseinandersetzungen ein Risiko darstellen. Viele der Hauptstraßen werden nur teilweise von AMISOM und Armee kontrolliert. Trotzdem bereisen Zivilisten und Wirtschaftstreibende tagtäglich die Überlandverbindungen (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit und Relokation).
In Mogadischu gibt es mehrere hundert permanente oder mobile Kontrollpunkte, dadurch wird die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Zeitweise sperren Sicherheitskräfte ganze Straßenzüge, wodurch die Bewegungsfreiheit für Menschen und Waren erheblich behindert wird. Insgesamt können sich Menschen in Mogadischu aber unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit frei bewegen und sich niederlassen (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit und Relokation).
Innerstaatliche Fluchtalternativen bestehen jedenfalls für einen Teil der somalischen Bevölkerung. Üblicherweise genießen Somalis den Schutz ihres eigenen Clans, weshalb man davon ausgehen kann, dass sie in Gebieten, in denen ihr Clan Einfluss genießt, grundsätzlich in Sicherheit sind (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit und Relokation).
Die sicherste Arte des Reisens in Süd-/Zentralsomalia ist das Fliegen. Mogadischu kann international erreicht werden (LIB, Kapitel Bewegungsfreiheit und Relokation; Rückkehr).
1.5.12. Rückkehrer:
Schon nach den Jahren 2011 und 2012 hat die Zahl der aus der Diaspora nach Süd-/Zentralsomalia zurückkehrenden Menschen stark zugenommen. Viele lokale Angestellte internationaler NGOs oder Organisationen sind aus der Diaspora zurückgekehrte Somali. Andere kommen nach Somalia auf Urlaub oder eröffnen ein Geschäft. Bis November 2019 sind insgesamt 91.232 Somalis über AVR-Programme des UNHCR zurückgeführt worden, mehrheitlich aus Kenia, aber auch aus Dschibuti, Libyen und dem Jemen (LIB, Kapitel Rückkehr).
Rückkehrer werden nicht von somalischen Behörden misshandelt. Mit technischer und finanzieller Unterstützung haben sich verschiedene westliche Länder über die letzten Jahre hinweg für die Schaffung und anschließende Professionalisierung eines speziell für Rückführung zuständigen Returnee Management Offices (RMO) innerhalb des Immigration and Naturalization Directorates (IND) eingesetzt. Staatliche Repressionen sind nicht die Hauptsorge der Rückkehrer. Rückkehrer werden vom RMO/IND grundsätzlich mit Respekt behandelt. Am Flughafen kann es zu einer Befragung von Rückkehrern durch das RMO hinsichtlich Identität, Nationalität, Familienbezügen sowie zum gewünschten zukünftigen Aufenthaltsort kommen. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete Minderjährige und andere Rückkehrer (LIB, Kapitel Rückkehrer).
Nach Somaliland gibt es Linienflüge aus Dubai, Jeddah, Addis Abeba und Dschibuti. Rückführungen werden aber meist über Mogadischu mit Weiterreise nach Hargeysa durchgeführt. Nach Somalia rückgeführte Personen reisen teilweise nach Somaliland weiter, die dortigen Behörden werden aber von der Regierung in Mogadischu nicht über die Hintergründe in Kenntnis gesetzt, sodass eine weitere Betreuung der Rückkehrer durch somaliländische Behörden unwahrscheinlich scheint (LIB, Kapitel Rückkehrer Somaliland).
IOM Länderbüros unterhalten Rückkehrprogramme nach Somaliland. Die Rückkehr dorthin wird folglich als durchaus möglich beurteilt. Das Land akzeptiert nur aus Somaliland stammende Rückkehrer (LIB, Kapitel Rückkehrer Somaliland).
1.5.13. Zur aktuellen Covid-19-Pandemie:
COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. In Österreich gibt es mit Stand 02.06.2021, 645.552 bestätigte Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen und 10.621 Todesfälle (https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Neuartiges-Coronavirus-(2019-nCov).html); in Somalia wurden mit Stand vom 02.06.2021 14.667 Fälle von mit dem Corona-Virus infizierten Personen nachgewiesen, wobei 769 diesbezügliche Todesfälle bestätigt wurden (https://covid19.who.int/region/emro/country/so).
Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten, Immunschwächen, etc.) auf.
Zwischen 19.3.2020 und 2.1.2021 wurden über 81.000 Menschen getestet, knapp 4.700 waren infiziert. Testungen sind so gut wie inexistent. Die offiziellen Todeszahlen sind niedrig, das wahre Ausmaß wird aber wohl nie wirklich bekannt werden. Die Zahl an Infektionen dürfte höher liegen, als offiziell bekannt. Viele potenziell Infizierte melden sich nicht, da sie eine gesellschaftliche Stigmatisierung fürchten. (LIB, Kapitel Covid).
Im August 2020 wurde der internationale Flugverkehr wiederaufgenommen. Internationale und nationale Flüge operieren uneingeschränkt. Ankommende müssen am Aden Adde International Airport in Mogadischu und auch am Egal International Airport in Hargeysa einen negativen Covid-19-Test vorweisen, der nicht älter als vier Tage ist. Wie in Mogadischu mit Personen umgegangen wird, welche diese Vorgabe nicht erfüllen, ist unbekannt. Möglicherweise werden diese zusätzlich getestet und in Quarantäne geschickt (LIB, Kapitel Covid).
Regeln zum social distancing oder auch Präventionsmaßnahmen wurden kaum berücksichtigt. Trotz Warnungen wurden Moscheen durchgehend – ohne Besucherbeschränkung – offengehalten. Restaurants, Hotels, Bars und Geschäfte sind offen, es gelten Hygienemaßnahmen und solche zum Social Distancing (LIB, Kapitel Covid).
Auch, dass es in Spitälern kaum Kapazitäten für Covid-19-Patienten gibt, ist ein Grund dafür, warum viele sich gar nicht erst testen lassen wollen – ein Test birgt für die Menschen keinen Vorteil. Somalia ist eines jener Länder, dass hinsichtlich des Umgangs mit der Pandemie die geringsten Kapazitäten aufweist. Humanitäre Partner haben schon im April 2020 für einen Plan zur Eindämmung von Covid-19 insgesamt 256 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt. UNSOS unterstützt medizinische Einrichtungen, stellt Ausrüstung zur Bekämpfung der Pandemie zur Verfügung. Bis Anfang Juni konnten die UN und AMISOM eine substanzielle Zahl an Behandlungsplätzen schaffen (darunter auch Betten zur Intensivpflege) Trotzdem gibt es nur ein speziell für Covid-19-Patienten zugewiesenes Spital, das Martini Hospital in Mogadischu. Dieses ist unterbesetzt und schlecht ausgerüstet (LIB, Kapitel Covid).
Nachdem die Bildungsinstitutionen ihre Arbeit wiederaufgenommen hatten, sind nicht alle Kinder zurück in die Schule gekommen. Dies liegt an finanziellen Hürden, an der Angst vor einer Infektion, aber auch daran, dass Kinder zur Arbeit eingesetzt werden. Außerdem zeigt eine Studie aus Puntland, dass die Zahl an Frühehen zugenommen hat (LIB, Kapitel Covid).
Gleichzeitig wurden Immunisierungskampagnen und auch Ernährungsprogramme unterbrochen. Manche Gesundheitseinrichtungen sind teilweise nur eingeschränkt aktiv – nicht zuletzt, weil viele Menschen diese aufgrund von Ängsten nicht in Anspruch nehmen; der Patientenzustrom hat sich in der Pandemie verringert. Remissen sind im Zuge der Covid-19-Pandemie zurückgegangen. Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22% der städtischen, 12% der ländlichen und 6% der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Die Mehrheit der Empfänger berichtete von Rückgängen von über 10%. Auch der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig – ist wegen der Pandemie zurückgegangen (LIB, Kapitel Covid).
Die Maßnahmen außerhalb Mogadischus können variieren. Es kann jederzeit geschehen, dass Behörden Covid-Maßnahmen kurzfristig verschärfen (LIB, Kapitel Covid).
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt, durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die im Verfahren vorgelegten Urkunden.
Die Feststellungen basieren auf den in den Klammern angeführten Beweismitteln.
Das Gericht berücksichtigt in der Beweiswürdigung, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Asylantragstellung sowie zum Zeitpunkt der behaupteten fluchtauslösenden Vorfälle noch minderjährig gewesen ist.
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
2.1.1. Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor dem Bundesamt, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
2.1.2. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, seiner Muttersprache, seinem Familienstand sowie zu seiner Herkunft gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
2.1.3. Der Beschwerdeführer gab in seiner Erstbefragung nach seiner Clanzugehörigkeit befragt an, dass er dem Clan der „Midgan“ angehören würde (AS 1). In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt erklärte er, dass er dem Clan der „Midgan“, Subclan XXXX , Subsubclan XXXX angehören würde. Seinen Clanältesten würde er nicht kennen. In der mündlichen Beschwerdeverhandlung gab er an, dass er dem Clan der Gabooye, Subclan XXXX , Subsubclan XXXX angehören würde. Sein Clanältester wäre XXXX .
Den Länderberichten zufolge (siehe Punkt II.1.5.5.) ist es aufgrund der großen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der Clans auch heute für Somalier im somalischen Kulturraum essentiell und in der Diaspora zumindest nicht irrelevant, sich in diesem System verorten zu können. Jüngere Somalier im urbanen Raum oder in der Diaspora sind heute häufig nur noch in der Lage, ihre Clanzugehörigkeit bis zur Stufe Sub-Clan sowie vier oder fünf Generationen im Abtirsiimo (Abstammungslinie) aufzuzählen. Es kommt aber selbst bei jungen Somalier in der Diaspora nicht vor, dass sie gar keine Ahnung von ihrem Clan und ihrem Abtirsiimo haben. Sogar wenn sie sich für das Clansystem nicht interessieren, können sie zumindest ihren Clan und Sub-Clan sowie den Abtirsiimo bis zum Urgroßvater nennen. Fast alle Somalier kennen zumindest ihren Clan-Ältesten. Es ist daher nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer nicht einmal grundlegende und vor allem gleichbleibende Angaben zu seinem Clan, Subclan und Subsubclan bzw. dem Clanältesten machen kann. Der Beschwerdeführer ist in Somalia aufgewachsen, er müsste daher detailliertere Angaben zu seinem Clan machen können. Der Beschwerdeführer machte jedoch lediglich äußerst vage und überaus widersprüchliche Angaben zu seinem Clan, weshalb nicht davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer tatsächlich dem Clan der Gabooye angehört.
Es ist außerdem nicht plausibel, dass der Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt keine Angaben zu seinem Clanältesten machen kann, diesen in der mündlichen Beschwerdeverhandlung jedoch plötzlich nennen kann, obwohl er vor dem Bundesamt angab, seinen Clanältesten nicht zu kennen.
Einer Anfrage an die Staatendokumentation des Bundesamtes kann zudem entnommen werden, dass der vom Beschwerdeführer genannte Abtirsiimo „Gabooye – XXXX – XXXX “ nicht existiert. Es gibt zwar „Gabooye – XXXX “, jedoch keine „ XXXX “. Daher änderte der Beschwerdeführer seinen Subsubclan in der Beschwerdeverhandlung offenbar auf „ XXXX “. Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Clan sind daher nicht mit den Länderinformationen in Einklang zu bringen, der Beschwerdeführer machte unrichtige Angaben zu seiner Clanzugehörigkeit im Asylverfahren. Es ist daher aufgrund der widersprüchlichen und wechselnden Angaben davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nicht Angehöriger dieses Clans oder eines anderen Minderheitenclans ist.
Dazu kommt, dass der Beschwerdeführer selbst angab, dem Clan der „Midgan“ anzugehören. Den Länderinformationen ist zu entnehmen, dass es für die Berufsgruppen zahlreiche somalische Bezeichnungen gibt, bei denen regionale Unterschiede bestehen. Häufig genannt werden Waable, Sab, Madhibaan und Boon. Die landesweit geläufige Bezeichnung Midgaan ist negativ konnotiert (er bedeutet "unberührbar" oder "ausgestoßen") und wird von den Berufsgruppen-Angehörigen als Beleidigung empfunden; sie bevorzugen Begriffe wie Madhibaan oder Gabooye. Es ist nicht plausibel, dass der Beschwerdeführer für seine eigene Clanbezeichnung einen negativen und als Beleidigung empfundenen Begriff nennen würde, würde er tatsächlich diesem Clan angehören. Durch das Bundesamt darauf aufmerksam gemacht, verwendete der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht plötzlich erstmals den Begriff Gabooye. Die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zu diesem Clan ist nicht glaubhaft.
Der Beschwerdeführer gab in der Beschwerdeverhandlung an, dass seinem Onkel ein Haus in Somalia gehört. Zudem erklärte er, dass er für seine Ausreise etwa 5.000 oder 10.000 USD bezahlt habe. Dies stimmt jedoch nicht mit den sozialen bzw. (meist niedrigen) finanziellen Gegebenheiten eines Minderheitenclans überein. Die berufsständischen Gruppen (zu denen der Clan der Gabooye gehört) stehen auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie der somalischen Gesellschaft. Sie unterscheiden sich in ethnischer, sprachlicher und kultureller Hinsicht nicht von der Mehrheitsbevölkerung, sind aber traditionell in Berufen tätig, die von den Mehrheitsclans als "unrein" oder "unehrenhaft" angesehen werden. Wäre der Beschwerdeführer tatsächlich Angehöriger des Minderheitenclans der Gabooye, ist nicht davon auszugehen, dass er Angaben machen würde, die nicht mit den Länderinformationen in Einklang zu bringen sind. Aufgrund der wahrgenommenen Bevorzugung der berufsständischen Gruppen im Asylverfahren (unter anderem dem Clan der Gabooye) in westlichen Staaten sind andere Somalier, die diesem Clan nicht angehören, dazu übergegangen, sich als Angehörige von Berufsgruppen auszugeben. Das erkennende Gericht geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer versuchte, seine Zugehörigkeit zu einem Mehrheitsclan zu verschleiern, um seine Chancen im Asylverfahren zu erhöhen.
Vor dem Bundesamt danach befragt, wie viele seiner Clanangehörigen des Minderheitenclans in Hargeysa leben würden, gab der Beschwerdeführer an, dass er es nicht genau wisse, jedoch auf etwa 100 Personen schätze. Da die Anfrage der Staatendokumentation ergab, dass etwa 2000 Haushalte in dem Heimatort des Beschwerdeführers leben würden, erklärte der Beschwerdeführer in der Beschwerdeverhandlung daher ebenfalls, dass nunmehr 1000 oder 2000 Clanangehörige des Minderheitenclans in Hargeysa leben würden. Früher seien es jedoch weitaus weniger, etwa 100, gewesen. Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer diese Informationen vom Bundesamtes aus der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation übernommen hat, um seine Angaben in der Beschwerdeverhandlung glaubhafter erscheinen zu lassen.