Entscheidungsdatum
10.06.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W189 2186272-3/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 68 AVG als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
1. Zuerkennungsverfahren:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: der BF) stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am XXXX einen Asylantrag, den er damit begründete, dass er von den Russen verfolgt worden sei. Dies, weil er an einer islamischen Universität studiert habe, weswegen er glaube, dass er verfolgt worden sei.
1.2. Mit Bescheid des (damaligen) Bundesasylamtes vom XXXX , Zl. XXXX , wurde dem Asylantrag des BF stattgegeben, ihm in Österreich Asyl gewährt und festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
2. Aberkennungsverfahren:
2.1. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der BF schuldig erkannt, er hat in XXXX
I. an nicht näher bekannten Tagen von XXXX bis XXXX sich als Mitglied (§ 278 Abs. 3 StGB) an den terroristischen Vereinigungen Jabhat al Nusra und Islamischer Staat im Irak und in Syrien zur Errichtung eines nach radikal-islamistischen Grundsätzen, mithin weder auf die Herstellung oder Wiederherstellung demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse, noch auf die Ausübung oder Wahrung von Menschenrechten, ausgerichteten Gottesstaates auf dem Gebiet des Irak und von Syrien und im Wissen, dadurch dieser terroristischen Vereinigungen und deren strafbare Handlungen zu fördern, beteiligt, indem er die nach genannten Personen mit den in persönlichen Gesprächen fortgesetzt vorgebrachten Aufforderungen, sich als Kämpfer in den als Dschihad bezeichneten bewaffneten Kampf nach Syrien zu begeben und dazu den terroristischen Vereinigungen Jabhat al Nusra und Islamischer Staat im Irak und in Syrien anzuschließen, für diese terroristischen Vereinigungen anwarb, und zwar
1. XXXX den am XXXX bei Kampfhandlungen in Syrien getöteten XXXX ,
2. am XXXX die XXXX , Witwe des am XXXX getöteten XXXX ,
II. vom XXXX bis XXXX dadurch, dass er die XXXX und die XXXX in wiederholten Gesprächen dazu aufforderte, ihre im Sinne der Anklagepunkte I. belastenden Angaben und zwar die von XXXX bei der Anzeigeerstattung vor den Beamten der Polizeiinspektion XXXX und bei der Zeugenaussage vor den Beamten des Landesamtes für Verfassungsschutz am XXXX und die von XXXX bei der Zeugenaussage vor den Beamten des Landesamtes für Verfassungsschutz am XXXX , als falsch darzustellen und zu widerrufen, gemäß § 12, zweiter Fall StGB dazu bestimmt, bei ihren für den XXXX anberaumten kontradiktorischen Vernehmungen als Zeuginnen vor dem Landesgericht XXXX indem gegen ihn zu Aktenzahl XXXX geführten Ermittlungsverfahrens falsch auszusagen.
Weiters wurde der BF schuldig erkannt, er hat
III. sich zu den nachgeführten Zeiten an den auf längere Zeit angelegten unternehmensähnlichen Verbindung einer größeren Anzahl von Personen, nämlich den international agierenden terroristischen Vereinigung Jabhat al Nusra und Islamischer Staat im Irak und in Syrien als Mitglied (§ 278 Abs. 3 StGB) beteiligt,
* die, wenn auch nicht ausschließlich auf die wiederkehrende und geplante Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen, die das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder das Vermögen bedrohen, ausgerichtet ist, indem sie unter Anwendung besonderer Grausamkeit durch terroristische Straftaten gemäß § 278c Abs. 1 StGB durch ihre Kämpfer die Zerstörung des syrischen Staates und des irakischen Staates betreibt und in den eroberten Gebieten in Syrien und im Irak, die sich nicht ihren Zielen unterordende Zivilbevölkerung tötet oder vertreibt und sich deren Vermögen aneignet, durch Geiselnahme große Geldsummen erpresst, die vorgefundenen Kunstschätze veräußert, Bodenschätze, insbesondere Erdöl und Phosphat, zu ihrer Bereicherung ausbeutet
* die dadurch eine Bereicherung im größeren Umfang anstrebt,
* die anderen durch angedrohte und ausgeübte Terroranschläge in Syrien und im Irak einschüchtert und sich auf besondere Weise, nämlich Geheimhaltung ihres Aufbaus, ihrer Finanzierungsstruktur, der personellen Zusammensetzung, der Organisation und der internen Kommunikation gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abzuschirmen sucht,
wobei der BF wusste (§ 5 Abs. 3 StGB), dass er dadurch diese Verbindung in ihrem Ziel, in Syrien und im Irak einen radikal-islamistischen Gottesstaat (Kalifat) zu errichten, und deren strafbare Handlungen, nämlich die zur Erreichung dieses Zieles als erforderlich angesehenen terroristischen Straftaten gemäß § 278c Abs. 1 StGB fördern und zwar von XXXX bis XXXX durch die zu Punkt I. angeführten Handlungen.
Der BF wurde zu Punkt I. wegen des Verbrechens der terroristischen Vereinigung gemäß § 278b Abs. 2 StGB, zu Punkt II. wegen der Vergehen der falschen Beweisaussage gemäß § 288 Abs. 1 StGB, jeweils in Form der Bestimmungstäterschaft gemäß § 12, zweiter Fall StGB und zu Punkt III. wegen des Verbrechens der kriminellen Organisation gemäß § 278a StGB zu einer Freiheisstrafe in der Dauer von sechs Jahren verurteilt.
Bei der Strafbemessung erschwerend gewertet wurden das Zusammentreffen von zwei Verbrechen mit einem Vergehen, die Bestimmungstäterschaft beim Vergehen der falschen Beweisaussage, die Beinflussung von zwei Personen zur Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung, als mildernd die bisherige Unbescholtenheit des BF.
2.2. Mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom XXXX , Zl. XXXX , wurde die gegen dieses Urteil eingebrachte Nichtigkeitsbeschwerde des BF zurückgewiesen.
2.3. Mit Urteil des Oberlandesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , gab dieses der Berufung der Staatsanwaltschaft dahin Folge, dass die Freiheitsstrafe des BF auf sechs Jahre und elfeinhalb Monate erhöht wurde.
2.4. Mit Aktenvermerk vom XXXX leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) ein Aberkennungsverfahren gegen den BF ein.
2.5. Am XXXX wurde der BF durch das BFA diesbezüglich niederschriftlich einvernommen. Der BF führte im Wesentlichen aus, dass er zu diesem Verbrechen keinen Bezug habe. Das Gerichtsverfahren sei ein großes Theater gewesen und er habe die ihm vorgeworfenen Taten nicht begangen. Der BF habe in Österreich zwei Frauen und sieben Kinder, nämlich eine volljährige Tochter, die mit ihrer eigenen Familie lebe, einen volljährigen Sohn, sowie fünf minderjährige Töchter und Söhne. Der BF habe seine Zweitfrau nur nach islamischen Ritus geheiratet. Es gebe in Österreich keine Personen, zu denen ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Seine Frau habe Verwandte in Österreich. Der BF selbst habe über hundert Bekannte hier. In Russland würden seine Eltern und sein Bruder leben, zu denen er keinen Kontakt habe. Der BF beherrsche die deutsche Sprache auf dem Niveau B1. Er habe einen Staplerführerschein und eine Ausbildung zum Schweißer gemacht. Er habe verschiedene Jobs gehabt, aber nur für kurze Zeit. Er habe Sozialleistungen bezogen, wenn er nicht genug verdient habe. Er sei auch Imam gewesen. Er sei ein Vertreter eines tschetschenischen Vereins in XXXX gewesen. Der BF leide an keinen schweren Erkrankungen und nehme keine Medikamente ein. Vor seiner Ausreise aus Russland habe er in Tschetschenien eine islamische Universität besucht und später als Lehrer gearbeitet. Im Falle einer Rückkehr wisse er nicht, was ihn erwarte; entweder er müsse über die Massenmedien sagen, dass Kadyrow ein „klasser Mensch“ sei oder er werde gefoltert oder „sie“ könnten ihn einfach umbringen.
2.6. Mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , wurde dem BF der Status des Asylberechtigten gem. § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG aberkannt und festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde ihm nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen (Spruchpunkt IV.), die Zulässigkeit der Abschiebung des BF in die Russische Föderation festgestellt (Spruchpunkt V.), eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.) und schließlich gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein unbefristetes Einreiseverbot gegen den BF erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der BF wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt worden sei, weshalb ihm der Status des Asylberechtigten abzuerkennen sei. Es sei keine refoulementschutzrechtlich relevante Gefährdung im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation gegeben, da sich Derartiges weder aus den Länderberichten ergebe, noch die individuellen Umstände des BF dagegensprechen würden, zumal seine Eltern und sein Bruder ihn notfalls unterstützen könnte. Zudem habe der BF durch seine Verbrechen einen Ausschlussgrund gesetzt. Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gem. § 57 AsylG. Der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens nicht entgegen, da das aus der schweren Straffälligkeit des BF folgende öffentliche Interesse an dessen Rückkehr seine persönlichen Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen würden. Umgekehrt verfüge der BF noch über Bindungen zum Herkunftsstaat. Die Zulässigkeit der Abschiebung des BF ergebe sich aus der Aberkennung des Status des Asylberechtigten und der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten. Die Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien. Da der BF aufgrund seiner Verurteilung eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, sei zudem die Verhängung eines unbefristeten Einreiseverbotes geboten gewesen.
2.7. Die gegen diesen Bescheid eingebrachte Beschwerde des rechtsanwaltlich vertretenen BF wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , als unbegründet abgewiesen.
2.8. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom XXXX , XXXX , wurde die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis eingebrachten Beschwerde des BF abgelehnt.
2.9. Mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , wurde die dem BF mit Bescheid vom XXXX eingeräumte Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 5 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG widerrufen.
2.10. Am XXXX wurde der BF unmittelbar nach Entlassung aus der Strafhaft festgenommen, in ein Polizeianhaltezentrum verbracht und über ihn die Schubhaft zur Sicherung der Abschiebung verhängt. Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom XXXX , XXXX , wegen mangelnder Fluchtgefahr statt. Die dagegen erhobene Amtsrevision des BFA wies der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom XXXX , XXXX , zurück.
2.11. Mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , wurde über den BF ein gelinderes Mittel gemäß § 77 Abs. 1 und Abs. 3 iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG als Verpflichtung zur Unterkunftnahme und Verpflichtung zur täglichen Meldung bei der zuständigen Polizeiinspektion erlassen.
2.12. Wegen Umzugs des BF wurde mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , erneut ein gelinderes Mittel gemäß § 77 Abs. und Abs. 3 iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG als Verpflichtung zur Unterkunftnahme und Verpflichtung zur täglichen Meldung bei der (nunmehr) zuständigen Polizeiinspektion erlassen.
2.13. Im Rahmen einer Stellungnahme vom XXXX führte der BF – unter anderem – aus, dass seine Abschiebung einen unzulässigen Eingriff in sein Privat- und Familienleben darstellen würde und er keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Er sei mit seiner Familie nach XXXX gezogen, damit er keinen Kontakt mehr zu den Landsleuten in der Moschee habe, wo er früher gepredigt habe. Er habe seine Tätigkeit als Prediger komplett eingestellt und führe keine Gespräche mehr über religiöse oder politische Themen. Er wolle diese Tätigkeit auch auf gar keinen Fall wiederaufnehmen. Die Frau des BF leide an Depressionen und könne sich nicht alleine um die Kinder kümmern. Sie sei auf die Hilfe des BF angewiesen, welcher seine ganze Zeit der Familie widme. Der BF spreche besser Deutsch als seine Ehefrau (er habe bereits im Jahr XXXX eine Deutschprüfung auf dem Niveau B1 abgelegt und seine Deutschkenntnisse seither verbessert) und erledige daher mit den Kindern die Schulaufgaben und unterstütze seine Frau umfassend im Haushalt. Er habe bis XXXX rechtmäßig im Bundesgebiet gelebt und habe hier einen großen Bekanntenkreis sowie entferntere Verwandte, die allesamt gut integriert und unbescholten seien. Ein Bekannter wäre bereit, ihn als Schweißer einzustellen. Der BF habe keine Kontakte mehr zu seinem Herkunftsstaat und sei seit dem Jahr XXXX nicht mehr in Russland bzw. Tschetschenien gewesen. Er habe sich in der Haft wohl verhalten, weswegen er nach zwei Drittel der Haft entlassen worden sei. Auch besuche er regelmäßig die Bewährungshilfe. Verwiesen wird zudem insbesondere auf das Kindeswohl der sieben Kinder (davon fünf minderjährig) des BF. Der BF könne nicht nach Tschetschenien zurückkehren. Er habe insbesondere in seiner Zeit als Imam oft die Politik von Kadyrow, Putin und anderer russischer Politiker kritisiert. Dies sei an die russische Polizei von jemandem weitergegeben worden. Bereits im Jahr XXXX habe der BF vor dem Landesamt für Verfassungsschutz ausgesagt, dass seine in Tschetschenien lebende Mutter ihm im XXXX telefonisch mitgeteilt habe, dass ein Mitarbeiter vom FSB bei ihr gewesen und sich nach dem BF erkundigt habe. Seine, die tschetschenische Regierung respektierende Mutter habe ihn gebeten, nach Tschetschenien zurückzukommen, dafür habe der FSB eine Amnestie in Aussicht gestellt, widrigenfalls eine Fahndung über Interpol eingeleitet würde. Daraufhin habe der BF den Kontakt zu ihr eingestellt. All dies belege, dass der BF in Tschetschenien nach wie vor einer Verfolgung ausgesetzt sei.
2.14. Am XXXX wurde der BF festgenommen und in das Polizeianhaltezentrum verbracht, da am XXXX seine Abschiebung nach XXXX geplant war.
3. Gegenständliches Verfahren:
3.1. Am XXXX stellte der BF im Stande der Anhaltung den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX machte der BF im Wesentlichen geltend, alle seine bisher im Asylverfahren gemachten Angaben aufrecht zu halten und keine neuen Fluchtgründe vorbringen zu können. Es sei allgemein bekannt, dass Personen welche im Ausland um Asyl angesucht haben, durch die Regierung in Tschetschenien als Verräter angesehen und verfolgt werden. Er habe Angst, dass er bei einer Rückkehr, von Kadyrows Leuten verhaftet werde oder ihm Schlimmeres passiere. Darüber hinaus würde seine Ehefrau, die an Depressionen leide, mit den Kindern in Österreich zurückbleiben.
3.2. Da der BF an COVID-19 erkrankt war, wurde er am XXXX aus der Schubhaft entlassen und in ein Spital überstellt. Der dortigen Quarantäne entzog sich der BF, indem er das Spital am XXXX unerlaubterweise verließ.
3.3. Am XXXX meldete sich der BF freiwillig bei einer Polizeiinspektion und wurde neuerlich festgenommen sowie mit Bescheide des BFA vom selben Tag, Zl. XXXX , über ihn die Schubhaft verhängt. Die dagegen eingebrachte Beschwerde des BF wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom XXXX , XXXX , abgewiesen und die Anhaltung in Schubhaft für rechtmäßig erklärt sowie festgestellt, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen würden.
3.4. Mit Stellungnahme vom XXXX machte der BF neuerlich geltend, in Österreich sieben Kinder und seine Ehefrau sowie zwei Enkelkinder zu haben; fünf seiner Kinder seien in Österreich geboren. Die Abschiebung des BF würde auch in die Rechte seiner Ehefrau und seiner Kinder eingreifen. Eine Trennung von ihrem Vater würde für die Kinder einer Traumatisierung gleichkommen. Die Kinder seien von Geburt an daran gewöhnt, dass sich ihr Vater liebevoll um sie kümmere. Das Kindeswohl stehe hier im Vordergrund. Die Ehefrau des BF leide seit einiger Zeit an Depressionen und sei mit der Situation völlig überfordert; sie habe Angstzustände entwickelt. Der BF sei ein bekennender Kritiker von Kadyrow. Er habe unmittelbar nach seiner „Verhaftung“ am XXXX gegenständlichen Asylantrag gestellt. Dieser Umstand sei Kadyrow und seinen Anhängern bekannt, weswegen dem BF im Falle seiner Rückkehr der sichere Tod drohe. Darüber hinaus werden Corona-Patienten in Tschetschenien als Terroristen deklariert und Kadyrow habe öffentlich dazu aufgerufen, diese Erkrankten „zu bekämpfen“.
3.5. Im Zuge seiner Einvernahmen vor dem BFA am XXXX gab der BF im Wesentlichen an, seit ca. 20 Jahren chronische Rückenschmerzen und Bandscheibenprobleme zu haben, seit ca. zwei bis drei Tagen seien diese wieder akut. Er habe im Jahr XXXX diesbezüglich auch einen MRT-Termin gehabt und sei eine Operation im Raum gestanden, die er jedoch aus Angst vor Komplikationen nicht durchführen habe lassen. Ansonsten sei er gesund. Er habe bereits ein Rückkehrberatungsgespräch absolviert, die Rückkehr jedoch verweigert. Freiwillig werde er keinesfalls in die Russische Föderation zurückkehren, er werde sich jedoch nicht den behördlichen Entscheidungen widersetzen und gegen Gesetze verstoßen. An seiner familiären Situation habe sich nichts geändert. Seine Ehefrau leide unter einer Depression, ihr seien irgendwelche Medikamente verschrieben worden. Die Kinder stünden unter Schock. Diese hätten Angst, dass ihr Vater abgeschoben werden könnte. Die ganze Familie stehe unter Druck. Hinsichtlich der Gründe für seine neuerliche Asylantragstellung führte der BF aus, dass es immer noch dieselben Gründe wie in seinem letzten Verfahren seien, doch sehe die Situation jetzt etwas anders aus. Ihm drohe Haft und spurloses Verschwinden. Das Risiko, sowohl gesundheitlich, persönlich als auch familiär sei zu hoch. Man könne im Internet recherchieren, wie die Lage sei. Da er viele Jahre in Österreich gelebt habe, würde man ihm vorwerfen, dass er ein Verräter sei. Menschen, die aus Europa nach Tschetschenien zurückkehren müssten mit harten Konsequenzen rechnen. Er sei sich sicher, dass er noch am Flughafen festgenommen und verschwinden werde. Darüber hinaus wolle er nicht von seiner Familie getrennt werden. Außerdem grassiere das Coronavirus in Tschetschenien in hohem Maße. Auf Vorhalt, dass der BF im Rahmen seiner Schubhafteinvernahme am XXXX eingestanden habe, das Spital am XXXX unerlaubt verlassen zu haben, um seine Abschiebung zu vereiteln, machte der BF geltend, dass er das damals nicht ganz korrekt verstanden habe. Es handle sich um ein Missverständnis. Er wolle Zeit gewinnen, da er einen Asylantrag gestellt habe. Er wäre sonst abgeschoben worden, bevor sein Antrag bearbeitet worden sei. Er habe Zeit gewinnen wollen. Er habe, als er sich am XXXX erneut bei der Polizei gemeldet habe, gewusst, dass die Festnahme aufrecht gewesen sei. Er habe aber auch gewusst, dass der (Abschiebe-)Flieger schon geflogen sei.
3.6. Mit dem am XXXX mündlich verkündeten Bescheid des BFA, Zl. XXXX , wurde gegenüber dem BF gemäß § 12a Abs. 2 AsylG der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12 AsylG aufgehoben.
Begründend führte das Bundesamt aus, dass der BF im gegenständlichen Asylverfahren kein wesentlich geändertes Fluchtvorbringen erstattet habe, das zudem keinen glaubhaften Kern aufweise. Der BF habe im gegenständlichen Verfahren lediglich Gründe geltend gemacht, die jedenfalls vor rechtskräftiger letztinstanzlicher Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX gelegen seien und die er bereits in diesem Verfahren vorbringen hätte können. Die vom BF substanzlose, völlig in den Raum gestellte Angabe, in Tschetschenien verfolgt zu werden, stelle unter Beachtung seiner persönlichen Glaubwürdigkeit im Vorverfahren keine Änderung dar. Beweismittel zur Untermauerung seiner Angaben habe der BF nicht vorlegen können. Der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt habe sich somit seit Rechtskraft des Vorverfahrens nicht hinreichend geändert, weswegen der neue Antrag auf internationalen Schutz voraussichtlich wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sein werde. Hinsichtlich des Privat- und Familienlebens des BF habe sich seit dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom XXXX nichts Wesentliches geändert. Auch hinsichtlich der allgemeinen Lage in der Russischen Föderation, der gesundheitlichen Verhältnisse des BF und seiner Rückkehrsituation seien keine Änderungen eingetreten, weswegen sein neuerlicher Antrag auf internationalen Schutz auch in dieser Hinsicht zurückzuweisen sein werde.
3.7. Am XXXX langte der Verwaltungsakt sowie eine Beschwerdeergänzung beim Bundesverwaltungsgericht ein, in welcher moniert wurde, dass der rechtsfreundliche Vertreter erst seit XXXX mit der Vertretung des BF beauftragt sei. Er habe um Akteneinsicht gebeten, diese werde ihm erst am XXXX gewährt. Weder er noch der BF hätten sich entsprechend auf die Einvernahme am XXXX vorbereiten können. Der Termin sei zudem erst am Freitag, den XXXX , 22:14 Uhr, mitgeteilt worden. Die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes sei rechtswidrig und nach Ansicht des BF „politisch motiviert“. Die Entscheidung verstoße gegen zahlreiche (aufgelistete) verfassungsgesetzlich und einfachgesetzlich gewährleistete Rechte. Jedenfalls bestehe eine Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht gemäß § 17 AVG, damit die dem BF zustehenden Rechte umfassend gewahrt und geltend gemacht werden können. Vor allem in so einem – auch politisch – brisanten Fall (es handle sich um einen Verschlussakt). Weiters sei der belangten Behörde in mehrfacher Hinsicht Willkür anzulasten, da dem BF nach wie vor Verfolgung in der Russischen Föderation drohe. Er habe im Zuge seiner Einvernahme am XXXX umfassend dargelegt, was ihm im Falle seiner Rückkehr in seinen Heimatstaat drohe. Da bereits vor der Entscheidung feststand, dass dem BF der faktische Abschiebeschutz aberkannt werde, stelle dies einen Akt behördlicher Willkür dar. Die Begründung des Bescheides sei lediglich eine Scheinbegründung, die auf zum Teil völlig unpassenden Textbausteinen aufbaue. Auch habe die belangte Behörde die im Bescheid enthaltenen Länderberichte nicht richtig interpretiert und berücksichtigt. Verwiesen wird auf die COVID-19-Situation in Tschetschenien und den Umstand, dass Coronapatienten dort „bekämpft“ würden. Neuerlich hervorgehoben wird die familiäre und private Situation des BF in Österreich.
3.8. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , wurde die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes für rechtmäßig erklärt.
3.9. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom XXXX , XXXX , wurde die Behandlung der Beschwerde des BF gegen dieses Erkenntnis abgelehnt. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom XXXX , XXXX , wurde ebenso die gegen dieses Erkenntnis eingebrachte Revision des BF zurückgewiesen.
3.10. Am XXXX wurde der BF in die Russische Föderation abgeschoben.
3.11. Am XXXX gab der Rechtsanwalt des BF die Auflösung der Vollmacht bekannt.
3.11. Mit Schreiben vom XXXX übermittelte der BF dem BFA eine mit demselben Tag datierte Zustellvollmacht an XXXX , wohnhaft in XXXX .
3.12. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigtem gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkte I. und II.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass der BF im gegenständlichen Verfahren keinen entscheidungsrelevanten Sachverhalt vorgebracht habe, der nach rechtskräftigem Abschluss des Aberkennungsverfahrens entstanden sei. Da weder in der maßgeblichen Sachlage – und zwar weder im Hinblick auf jenen Sachverhalt, der in der Sphäre des BF gelegen sei, noch in jenen, welcher von Amts wegen aufzugreifen sei – noch im Begehren und auch nicht in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten sei, welche eine andere rechtliche Beurteilung des Antrags nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen ließen, sei der neuerliche Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen. Aufgrund des im Aberkennungsverfahren erlassenen Einreiseverbotes war von einer neuerlichen Rückkehrentscheidung abzusehen. Die aktuelle Situation in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie wurde berücksichtigt.
Zum Herkunftsstaat stellte das BFA im Wesentlichen Folgendes fest:
1. Sicherheitslage in Tschetschenien
Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).
Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).
Quellen:
? Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020
? Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020
2. Rechtsschutz / Justizwesen
Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).
In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).
2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).
Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).
Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
? AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020
? AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.6.2020
? EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
? FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020
? ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
? USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020
3. Rechtschutz / Justizwesen in Tschetschenien und Dagestan
Letzte Änderung: 09.04.2020
Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).
Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014). Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien "Ramzan sagt" lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).
Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).
In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2019).
Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimekritiker und Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, Angehörige der LGBTI-Gemeinde und diejenigen, die sich mit Republiksoberhaupt Kadyrow bzw. seinem Clan angelegt haben. Auch Künstler können Beeinträchtigungen ausgesetzt sein, wenn ihre Arbeit nicht im Einklang mit Linie oder Geschmack des Republiksoberhaupts steht. Regimekritikern und Menschenrechtsaktivisten droht unter Umständen Strafverfolgung aufgrund fingierter Straftaten und physischen Übergriffen bis hin zum Mord. Auch in diesen Fällen kann es zu Sippenhaft von Familienangehörigen kommen. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew, gegen den strafrechtliche Ermittlungen wegen (wahrscheinlich fingierten) Drogenbesitzes laufen, wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 13.2.2019). Titijew wurde nach fast anderthalb Jahren Gefängnis auf Bewährung freigelassen (AI 10.6.2019).
In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).
Auch in Dagestan hat sich der Rechtspluralismus – das Nebeneinander von russischem Recht, Gewohnheitsrecht (Adat) und Scharia-Recht – bis heute erhalten. Mit der Ausbreitung des Salafismus im traditionell sufistisch geprägten Dagestan in den 90er Jahren nahm auch die Einrichtung von Scharia-Gerichten zu. Grund für die zunehmende und inzwischen weit verbreitete Akzeptanz des Scharia-Rechts war bzw. ist u.a. das dysfunktionale und korrupte staatliche Justizwesen, das in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt ist. Die verschiedenen Rechtssphären durchdringen sich durchaus: Staatliche Rechtsschutzorgane und Scharia-Gerichte agieren nicht losgelöst voneinander, sondern nehmen aufeinander Bezug. Auch die Blutrache wird im von traditionellen Clan-Strukturen geprägten Dagestan angewendet. Zwar geht die Regionalregierung dagegen vor, doch sind nicht alle Clans bereit, auf die Institution der Blutrache zu verzichten (AA 13.2.2019).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020
? AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020
? AI Amnesty International (10.6.2019): Oyub Titiev kommt auf Bewährung frei!, https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/russische-foederation-oyub-titiev-kommt-auf-bewaehrung-frei, Zugriff 10.3.2020
? CSIS – Center for Strategic and International Studies (1.2020): Civil Society in the North Caucasus, https://csis-prod.s3.amazonaws.com/s3fs-public/publication/200124_North_Caucasus.pdf?jRQ1tgMAXDNlViIbws_LnEIEGLZPjfyX, Zugriff 6.3.2020
? DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf, Zugriff 10.3.2020
? EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf, S. 9, Zugriff 7.8.2019
? EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020
? ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020
? ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 10.3.2020
? US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020
4. Korruption
Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen, genauso wie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).
Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet, und ein zunehmender Mangel an Rechenschaftspflicht ermöglicht es Bürokraten, ungestraft Straftaten zu begehen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert (FH 4.3.2020). Obwohl das Gesetz Strafen für behördliche Korruption vorsieht, bestätigt die Regierung, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017). Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 3.2017, BTI 2018). Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (USDOS 11.3.2020).
Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. BTI 2018). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung ( GIZ 7.2020a).
Korruption ist auch in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet, und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Öffentliche Bedienstete müssen einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die Zeitung „Kommersant“ den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes. Der Fond soll Ende 2017 über 2,2 Mrd. Rubel (über 30 Mio. €) verfügt haben. Allein vom 30.11. bis 5.12.2019 berichteten tschetschenische Beamte über mindestens 12 Initiativen, die aus den Mitteln des Fonds finanziert wurden (ÖB Moskau 12.2019). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland (SEM 15.7.2016).
Dagestan ist eine der ärmsten Regionen Russlands, bis zu 70% des Budgets stammen aus Subventionen aus Moskau. Auch in Dagestan ist die Gesellschaft in Clans aufgebaut. Nirgendwo sonst in Russland ist der Clan so stark wie in Dagestan, weshalb systemische Korruption in dieser Republik nicht überrascht (WI 25.2.2018). Das staatliche Justizwesen ist in hohem Maße durch Ämterkauf und Bestechung geprägt (AA 13.2.2019). Zum ersten Mal in der Geschichte der Russischen Föderation wurden Anfang 2018 der Premierminister Dagestans, seine Stellvertreter und der ehemalige Bildungsminister wegen schwerer Korruptionsvorwürfe festgenommen und sofort nach Moskau geflogen. Alle vier stehen im Verdacht, Haushaltsmittel aus Sozialprogrammen in großem Umfang veruntreut zu haben (WI 25.2.2018).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 11.3.2020
? BTI – Bertelsmann Transformation Index (2018): BTI 2018 Country Report – Russia, https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2018/pdf/BTI_2018_Russia.pdf, Zugriff 11.3.2020
? EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 11.3.2020
? FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020
? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020
? ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 11.3.2020
? SEM – Staatssekretariat für Migration (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/europa-gus/rus/RUS-korruption-d.pdf, Zugriff 11.3.2020
? USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020
? WI – Warsaw Institute (25.2.2019): Federal clean-up in Dagestan, https://warsawinstitute.org/federal-clean-dagestan/, Zugriff 11.3.2020
5. Allgemeine Menschenrechtslage
Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2020a). Die Verfassung postuliert die Russischen Föderation als Rechtsstaat. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems. Russland ist an folgende UN-Übereinkommen gebunden:
? Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)
? Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)
? Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)
? Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)
? Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)
? Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)
? Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.9.2012) (AA 13.2.2019).
Der letzte Universal Periodic Review (UPR) des UN-Menschenrechtsrates zu Russland fand im Rahmen des dritten Überprüfungszirkels 2018 statt. Dabei wurden insgesamt 317 Empfehlungen in allen Bereichen der Menschenrechtsarbeit ausgesprochen. Russland hat dabei fast alle Empfehlungen akzeptiert und nur wenige nicht berücksichtigt. Russland ist zudem Mitglied des Europarates und der EMRK. Russland setzt einige, aber nicht alle Urteile des EGMR um; insbesondere werden EGMR-Entscheidungen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte im Nordkaukasus nur selektiv implementiert [Anm.: Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 13.2.2019). Besorgnis wurde u.a. auch hinsichtlich der Missachtung der Urteile von internationalen Menschenrechtseinrichtungen (v.a. des EGMR), des fehlenden Zugangs von Menschenrechtsmechanismen zur Krim, der Medienfreiheit und des Schutzes von Journalisten, der Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und der Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft geäußert (ÖB Moskau 12.2019).
Durch eine zunehmende Einschränkung der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Gesetzgebung und Praxis wurde die Menschenrechtsbilanz Russlands 2019 weiter verschlechtert. Wer versuchte, diese Rechte wahrzunehmen, musste mit Repressalien rechnen, die von Schikanierung bis hin zur Misshandlung durch die Polizei, willkürlicher Festnahme, hohen Geldstrafen und in einigen Fällen auch zu Strafverfolgung und Inhaftierung reichten (AI 16.4.2020; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in