Entscheidungsdatum
09.07.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W215 2222071-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. STARK über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.06.2019, Zahl 1218078205-190088155, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), in der Fassung BGBl. I Nr. 87/2012, § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG, und gemäß § 57 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, als unbegründet abgewiesen.
II. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben, der Bescheid hinsichtlich der bekämpften Spruchpunkte IV. bis VI. aufgehoben, eine Rückkehrentscheidung gemäß
§ 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG), in der Fassung BGBl. I Nr. 110/2019, iVm § 9 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG), in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, für auf Dauer unzulässig erklärt und XXXX gemäß § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, iVm
§ 55 Abs. 2 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 87/2012, der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz,
BGBl Nr. 1/1930 (B-VG), in der Fassung BGBl. I Nr. 51/2012, nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz. Anlässlich ihrer niederschriftlichen Erstbefragung, am 25.01.2019, gab die Beschwerdeführerin zusammengefasst an, den Namen XXXX zu führen, Staatsangehörige der Russischen und am XXXX geboren zu sein. Die Beschwerdeführerin gab weiters an, dass ihr Ehegatte Herr XXXX , geboren am XXXX , welchen sie in XXXX geheiratet habe ( XXXX ) in Österreich lebe. Im XXXX habe die Beschwerdeführerin erstmals den Entschluss zur Ausreise gefasst, da sie bei ihrem Ehegatten bleiben habe wollen. Die Beschwerdeführerin habe 2016 um ein Visum für Österreich angesucht, welches jedoch abgelehnt worden sei. 2018 habe die Beschwerdeführerin bei der XXXX Botschaft um ein Visum angesucht, sei jedoch nach XXXX gereist, um danach wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Die endgültige Ausreise aus dem Herkunftsstaat sei am 22.01.2019 mit dem Taxi erfolgt. Ihren russischen Auslandsreisepass, welchen sie zur Reise nach XXXX benutzt habe, habe die Beschwerdeführerin auch zur Einreise nach Österreich benutzt; dieser sei beim Schlepper geblieben. Die Beschwerdeführerin habe nach Österreich gewollt, um mit ihrem Ehegatten zusammenleben. Bei einer Rückkehr in die Heimat befürchte die Beschwerdeführerin die Scheidung, da die Eltern ihre Eheschließung nicht gewollt hätten, vor allem der Vater:
„…LA: Warum haben Sie Ihr Land verlassen (Fluchtgrund)?
AW: Weil mein Mann in Österreich lebt, ich wollte zu ihm.
LA: Was befürchten Sie bei einer Rückkehr in Ihre Heimat?
AW: Ich befürchte die Scheidung, aber ich liebe meinen Mann. Meine Eltern wollten die Hochzeit nicht, vor allem der Vater.
LA: Hätten Sie im Falle Ihrer Rückkehr in Ihren Heimatstaat mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen? Wenn ja, welche?
AW: Nein…“
Es folgte eine niederschriftliche Befragung am 04.02.2019 im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in welcher die Beschwerdeführerin zusammengefasst angab, dass sie in XXXX geboren wurde und Tschetschenisch, Russisch sowie ein wenig Georgisch spreche, dem islamischen Religionsbekenntnis und der Volksgruppe der XXXX angehöre. Die Beschwerdeführerin sei seit XXXX mit Herrn XXXX verheiratet, welcher sich seit ca. 2008 oder 2009 in Österreich aufhalte; dessen Eltern seien seit ca. 2002 oder 2003 in Österreich aufhältig. Der Ehegatte der Beschwerdeführerin arbeite und erziele ein Einkommen von ca. 1.700,- Euro monatlich, die Beschwerdeführerin lebe mit ihm im gemeinsamen Haushalt in XXXX . Die Familie der Beschwerdeführerin, ihr Vater, ihre Mutter, ihre beiden Schwestern sowie ein Bruder seien nicht in Österreich aufhältig, sondern in XXXX Mit der Mutter bestehe regelmäßig telefonischer Kontakt. Die Beschwerdeführerin habe nach neun Jahren die Pflichtschule abgeschlossen, danach im XXXX studiert und mit Diplom im Jahr 2015 abgeschlossen. Parallel habe sie bei XXXX und XXXX sowie in einem Bekleidungsgeschäft als Verkäuferin gearbeitet und das Geld gespart, außerdem habe die Beschwerdeführerin drei Monate lang einen Damenschneiderkurs gemacht, die Zeugnisse habe sie jedoch in der Russischen Föderation gelassen. Nach dem Fluchtgrund gefragt gab die Beschwerdeführerin an, dass ihr Ehegatte in Österreich lebe, ihr Vater die Beschwerdeführerin jedoch an einen anderen Mann vergeben habe wollen, weswegen sie nach Österreich gekommen sei, um hier mit ihrem Ehegatten zusammenzuleben:
„…LA: Warum haben Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen bzw. warum stellen Sie den gegenständlichen Antrag auf int. Schutz? Bitte um prägnante und kurze Zusammenfassung!
(Anmerkung: Sie werden zu Ihrem Fluchtgrund in einer Außenstelle des BFA nochmals einer konkreten und detaillierten Befragung unterzogen werden);
VP: Mein Mann lebt in Österreich. Mein Vater wollte mich an einen anderen Mann vergeben und deshalb bin ich nach Österreich gekommen und will hier mit meinem Mann zusammen leben…“
Es folgte eine erneute niederschriftliche Befragung am 09.04.2019 im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in welcher die Beschwerdeführerin ergänzend und zusammengefasst angab, dass sie im zweiten Monat von ihrem Ehegatten, Herr XXXX , schwanger sei und in diesem Zusammenhang an Toxikose leide, was bedeute, dass ihr in der Früh übel werde und sie keine Essensgerüche oder Fahrten ertragen könne. Die Familie der in XXXX geborenen Beschwerdeführerin besitze ein Haus in XXXX ; eine geschiedene Schwester wohne im Elternhaus in XXXX , wo die Beschwerdeführerin geheiratet habe. Ihren russischen Auslandsreisepass habe die Beschwerdeführerin bei der Reise vom 22. bis zum 24. mitgehabt, ihre Tasche mit dem Auslandsreisepass jedoch im Taxi vergessen, weshalb sie nur ihre Geburtsurkunde und ihre Heiratsurkunde vorlegen könne; an das Taxiunternehmen habe sie sich jedoch wegen des Verlusts nicht gewandt. Nach ihren Fluchtgründe gefragt, gab die Beschwerdeführerin an:
„…LA: Sie haben heute Gelegenheit, die Gründe für Ihren Antrag auf internationalen Schutz ausführlich darzulegen. Versuchen Sie nach Möglichkeit, Ihre Gründe so detailliert zu schildern, dass diese auch für eine unbeteiligte Person nachvollziehbar sind. Schildern Sie bitte, warum Sie Ihr Heimatland verlassen haben?
VP: Mein Vater wollte ursprünglich nicht, dass ich meinen Mann heirate. Wir haben geheiratet und wir lebten mit meinem Mann eineinhalb Monate in XXXX zusammen. Dann musste mein Mann zurück nach Österreich und mein Vater holte mich nach XXXX . Mein Vater wollte, dass ich mich scheiden lasse, er wollte, dass ich einen anderen Mann heirate, den er selbst für mich ausgesucht hat. Es war gegen meinen Willen. Mein Vater hat erfahren, dass ich jetzt schwanger bin, er droht mir, er sagt, er wird mir einfach das Kind wegnehmen und mich wieder verheiraten.
LA: War Ihr Vater bei der Eheschließung XXXX anwesend?
VP: Nein, ich habe gegen seinen Willen geheiratet. Nach der Heirat hat er sich zu sich geholt, nach XXXX . Sie müssen es verstehen, es ist noch mein Vater. Als ich 2018 Urlaub im Ausland gemacht habe und erfahren habe, dass er krank ist, fuhr ich sofort zurück. Einige Wochen bevor ich ausgereist bin, musste mein Vater wegen der Arbeit nach XXXX fahren. Er war zum Zeitpunkt meiner Ausreise nicht da.
LA: Warum war Ihr Vater gegen die Heirat?
VP: Weil mein Vater schon vor langer Zeit selbst für mich einen Mann gefunden hat. Bei Moslems kommt das leider vor. Ich wollte einen Mann heiraten, der mich liebt.
LA: Sie gaben zuvor an, dass Sie bis zum 03. März 2018, Ihrem XXXX , keine Probleme mit Ihrem Vater gehabt hätten. Jetzt behaupten Sie, kurz nach Ihrer Hochzeit, nachdem Ihr Mann wieder nach Österreich gereist sei hätte Ihr Vater Probleme gemacht.
VP: Er wusste von diesem Urlaub nichts. Es hat mir meine Mutter geholfen, sie hat mich bei alldem unterstützt. Mein Vater weiß nicht, dass ich mit meiner Mutter in Kontakt stehe.
LA: Waren Ihre Mutter und Geschwister bei der Eheschließung dabei?
VP: Nein. Niemand. Nur die jüngere Schwester.
LA: Sie sind ja jetzt verheiratet, was könnte Ihr Vater machen?
VP: Mein Vater ist sehr streng. Er kann auf mich Druck ausüben und mich zu etwas zwingen. Ich habe gegen seinen Willen, aus Liebe geheiratet und kam deshalb hierher.
LA: Hat Ihr Vater Ihren Ehemann jemals kennen gelernt?
VP: Nein.
LA: Warum nicht?
VP: Er wusste von dieser Heirat nichts. Mein Mann fuhr dann später hierher. Dann kam mein Vater nach XXXX und erfuhr von dieser Heirat und hat mich dann deshalb XXXX mitgenommen.
[…]
LA: Möchten Sie zu Ihrem Verlassensgrund noch etwas ergänzen?
VP: Ich würde sehr gerne bei meinem Mann bleiben, ich möchte nicht zurück, wir erwarten ein Kind. Ich möchte wie alle jungen Frauen glücklich sein. Zuhause werde ich nicht glücklich, das weiß ich. Ich finde es auch nicht richtig, dass man einen Menschen gegen den Willen verheiratet.
LA: Was spricht gegen eine Rückkehr gemeinsam mit Ihrem Mann XXXX in die Russ. Föderation?
VP: Wissen Sie, ich habe einfach Angst. Ich weiß es nicht. Ich möchte nichts gegen meinen Vater sagen, aber er beeinflusst mich sehr. Mein Mann arbeitet hier, sie leben hier schon lange. Seine Eltern und Geschwister leben ebenfalls hier…“
Zudem gab die Beschwerdeführerin an, keine Probleme mit den staatlichen Behörden gehabt zu haben und auch nicht bedroht oder verfolgt worden zu sein. Nach der neunklassigen Schulbildung habe die Beschwerdeführerin die XXXX gemacht. Die Beschwerdeführerin legte anlässlich der niederschriftlichen Befragung diverse Unterlagen vor, darunter eine Deutschkursbesuchsbestätigung und einen Meldezettel.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.09.2019, Zahl 1218078205-190088155, wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG
(Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin „nach“ Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Dem Bescheid wurden aktuelle Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin zu Grunde gelegt. Es wurde zur Person der Beschwerdeführerin zusammengefasst beweiswürdigend festgestellt, dass die Identität der Beschwerdeführerin feststehe, sie mit einem in Österreich aufhältigen Landsmann, welcher subsidiären Schutz genieße, verheiratet sei, keinen Kinder habe, aktuell jedoch schwanger sei. Die Beschwerdeführerin habe in XXXX geheiratet, sei nie politisch tätig gewesen und habe auch keine Probleme aufgrund ihrer Nationalität, Volksgruppen- oder Religionszugehörigkeit gehabt. Die gesunde und unbescholtene Beschwerdeführerin habe Schulbildung genossen und Berufserfahrung in der Heimat gesammelt, sie spreche Russisch, Tschetschenisch sowie rudimentär Georgisch und Deutsch. Der genaue Einreisezeitpunkt habe nicht mit Sicherheit festgestellt werden können. Nicht glaubhaft und ungereimt seien die Angaben der Beschwerdeführerin im Hinblick auf den Verlust ihres Reisepasses, so sie einerseits behauptet habe, dass sich der Schlepper das Reisedokument einbehalten habe und andererseits, dass sie die Tasche mit dem Reisepass im Taxi liegengelassen hätte.
Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin aktueller und unmittelbarer Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt wäre, auch eine Bedrohung durch ihren Vater aufgrund der Eheschließung habe nicht festgestellt werden können; eine Bedrohung von staatlicher Seite oder durch Dritte oder durch Behörden sei im Herkunftsstaat nicht gegeben.
Im Falle der Rückkehr wurde festgestellt, dass die Beschwerdeführerin eine gesunde junge Frau im arbeitsfähigen Alter sei, Schulbildung und weiterführende Ausbildungen als XXXX genossen habe und in der Heimat berufstätig gewesen sei. Auch sei die Familie der Beschwerdeführerin gut situiert, mit einem Haus XXXX in der Russischen Föderation. Die Beschwerdeführerin sei in XXXX geboren, aber in XXXX XXXX aufgewachsen und habe zwei Schwestern und einen Bruder in XXXX bzw. der Russischen Föderation. Es bestehe Kontakt zur Mutter. Eine existenzbedrohliche Notlage im Falle der Rückkehr habe nicht festgestellt werden können, auch leide die Beschwerdeführerin an keiner lebensbedrohenden Krankheit und sei auch keinen Verfolgungshandlungen staatlicher Behörden ausgesetzt.
Hinsichtlich des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerin wurde festgestellt, dass sie illegal in das Bundesgebiet einreiste, um zu ihrem hier aufhältigen Ehegatten zu gelangen. Die Beschwerdeführerin sei nicht in Grundversorgung, der Ehegatte erhalte Arbeitslosenhilfe, sie selbst sei nicht selbsterhaltungsfähig, sondern werde durch den Ehegatten finanziert. Die Beschwerdeführerin besuche von XXXX einen „ XXXX “ für Asylwerber.
Mit Verfahrensanordnung vom 05.07.2019 wurde der Beschwerdeführerin gemäß
§ 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
Gegen diesen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.09.2019, Zahl 1218078205-190088155, zugestellt am 10.07.2019, erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht am 31.07.2019 die gegenständliche Beschwerde. Darin wird der Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften vollinhaltlich bekämpft. Inhaltlich wurde jedoch keinerlei neuer Sachverhalt vorgebracht, sondern nur Auszüge des bisherigen Vorbringens wiederholt indem wieder auf eine drohende Zwangsheirat verwiesen wurde, die Erzwingung einer Scheidung vom aktuellen Ehegatten um einen anderen Mann zu heiraten wiederholt wurde und erneut auf die aktuelle Schwangerschaft hingewiesen wurde. Aufgrund des Vorbringens sei der Beschwerdeführerin bei richtiger rechtlicher Beurteilung die Flüchtlingseigenschaft aus Gründen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zuzuerkennen.
2. Die Beschwerdevorlage vom 02.08.2019 langte am 06.08.2019 im Bundesverwaltungsgericht ein und wurde einer Gerichtsabteilung zur Erledigung zugwiesen. Nach einer Unzuständigkeitseinrede wurde das Verfahren am 10.09.2019 der nunmehr zur Entscheidung berufenen Gerichtsabteilung zugwiesen.
Am XXXX wurde die Tochter der Beschwerdeführerin, XXXX , geboren.
Dem Ehegatten der Beschwerdeführerin wurde mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt, die Aufenthaltsberechtigungskarte für subsidiär Schutzberechtigte entzogen und keine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gewährt. Es wurde jedoch ausgesprochen, dass die Rückkehrentscheidung des Ehegatten auf Dauer unzulässig ist und dem Ehegatten einer Aufenthaltsberechtigung plus gemäß
§ 55 Abs 1 AsylG erteilt wird.
Der Tochter der Beschwerdeführerin wurde im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit rechtskräftigem Bescheid vom XXXX , Zahl XXXX , weder des Status der Asylberechtigten noch des subsidiär Schutzberechtigten, noch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz zuerkannt, jedoch wurde die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und der Tochter der Beschwerdeführerin, wegen ihres Vaters, eine Aufenthaltsberechtigung plus gemäß
Art. 8 EMRK, § 55 Abs 1 AsylG erteilt.
Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 19.04.2021 ein Parteiengehör.
Am 29.04.2021 langte eine schriftliche Stellungnahme der Beschwerdeführerin im Bundesverwaltungsgericht ein, worin neben den bereits bekannten Angaben zum Ehegatten und der gemeinsamen Tochter eine berufliche Tätigkeit des Ehegatten in XXXX angegeben wurde. Dieser finanziere das Familienleben, die Beschwerdeführerin selbst habe in Österreich noch nie gearbeitet, sie sei in Russland ausgebildete XXXX , ehrenamtliche Tätigkeiten verrichte sie nicht. Die Beschwerdeführerin habe nur einen Deutschsprachkurs bei der XXXX im Jahr XXXX besucht aber keinen weiteren Deutschkurs und auch keine Deutschprüfung abgelegt. In Österreich habe sie weder eine Ausbildung gemacht, noch studiere sie. Die Beschwerdeführerin wolle ihre in der Russischen Föderation abgeschlossene XXXX in Österreich nostrifizieren lassen und wenn sie ausreichend Deutsch sprechen sollte, im Gesundheitsbereich arbeiten. Sobald ihre Tochter im Kindergarten sein werde, würde die Beschwerdeführerin ihre Deutschkenntnisse weiterentwickeln, entweder über Sprachkurse oder über Arbeit, bis zur Erreichung dieses Zieles wolle die Beschwerdeführerin andere Tätigkeiten verrichten. Die Beschwerdeführerin wolle gemeinsam mit ihrem Ehegatten und ihrer Tochter in Österreich bleiben und ihre Tochter gut fördern.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die zulässige Beschwerde erwogen:
1. Feststellungen:
a) Zu den persönlichen Verhältnissen der Beschwerdeführerin:
Die Identität der Beschwerdeführerin wird nicht festgestellt. Sie ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an und ist moslemischen Glaubens. Ihre Muttersprache ist Tschetschenisch, darüber hinaus spricht sie sehr gut Russisch sowie rudimentär Georgisch und Deutsch. Die Beschwerdeführerin ist mit Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Russische Föderation, seit XXXX standesamtlich verheiratet; diese Eheschließung fand in XXXX statt. Am XXXX wurde die gemeinsame Tochter, XXXX , in Österreich geboren.
b) Zum bisherigen Verfahrensverlauf:
Die Beschwerdeführerin reiste zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt illegal nach Österreich und stellt am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.09.2019, Zahl 1218078205-190088155, wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG
(Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin „nach“ Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Gegen diesen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, zugestellt am 10.07.2019, erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht am 31.07.2019 die gegenständliche Beschwerde. Die Beschwerdevorlage langte am 08.08.2019 im Bundesverwaltungsgericht ein.
c) Zu den Asylgründen der Beschwerdeführerin:
Die Beschwerdeführerin reiste problemlos legal aus ihrem Herkunftsstaat aus, illegal nach Österreich ein und stellte am XXXX einen Antrag internationalen Schutz um damit die fremdenrechtlichen Migrations- bzw. Einwanderungsbestimmungen zu umgehen; sie wollte seit ihrer standesamtlichen Eheschließung am XXXX zu ihrem in Österreich lebenden Ehegatten, um mit diesem in Österreich im gemeinsamen Haushalt zu leben.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die seit dem Jahr XXXX standesamtlich verheiratete Beschwerdeführerin am 22.01.2019 aus der Russischen Föderation ausgereist ist, weil sie Angst vor einer drohenden Zwangsverheiratung durch ihren Vater hatte.
d) Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführerin in ihren Herkunftsstaat:
Vor ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation am 22.01.2019 lebte die Beschwerdeführerin in einem Haus, welches im Eigentum ihrer Familie steht, in XXXX . An diesem Ort schloss die Beschwerdeführerin die Schule ab und besuchte danach ein College für XXXX , welches sie im Jahr XXXX abschloss. Danach war sie in mehreren Berufen tätig. Ihre Familie ist Eigentümer eines Hauses in XXXX .
Die gesunde Beschwerdeführerin hat, wenn sie nicht für kurze Zeit bei ihren Familienangehörigen in XXXX gelebt hat, die ersten XXXX ihres Lebens im Herkunftsstaat verbracht, ist illegal nach Österreich gereist, um hier bei ihrem Ehegatten zu leben. Sie hat nie behauptet, wegen schlechter wirtschaftlicher Verhältnissen ausgereist zu sein oder an Hunger gelitten zu haben. Sie hat nicht angegeben im Herkunftsstaat Gefahr zu laufen, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführerin konnte auch vor ihrer Ausreise ihre Bedürfnisse des täglichen Lebens stillen, ihre Existenzgrundlage ist nach wie vor gesichert. Im Falle ihrer Rückkehr kann die Beschwerdeführerin wieder bei ihrer Mutter, oder ihren Geschwistern in der Russischen Föderation XXXX wohnen und ebenso wie auch vor ihrer Ausreise wieder den Lebensunterhalt bestreiten.
e) Zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin in Österreich:
Die in Österreich unbescholtene Beschwerdeführer reiste zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt illegal in das Bundesgebiet ein und hält sich seit ihrem Antrag auf internationalen Schutz am XXXX , somit seit XXXX Jahren durchgehend in Österreich auf, geht keiner Beschäftigung nach, hat nur kurz im Jahr XXXX einen Deutschkurs besucht und immer noch keine Deutschprüfung bestanden.
Die Beschwerdeführerin ist kein Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation, sie spricht kaum Deutsch; allfällige freundschaftliche Beziehungen sind zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem sich die Beschwerdeführerin ihrer unsicheren aufenthaltsrechtlichen Stellung bewusst sein musste. Eine überdurchschnittlich fortgeschrittene Integration während der letzten XXXX Jahre in Österreich kann nicht festgestellt werden.
Die Beschwerdeführerin lebt mit ihrem Ehegatten seit XXXX im gemeinsamen Haushalt, ihre Tochter wurde am XXXX in Österreich geboren. Das gemeinsame Familienleben in Österreich finanziert der Ehegatte, Herr XXXX ; die standesamtliche Ehe wurde am XXXX geschlossen.
Der Ehegatte der Beschwerdeführerin lebt seit 2008 in Österreich. Ihm wurde zwar mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zahl XXXX , der Status des subsidiär Schutzberechtigten entzogen, zugleich aber gemäß § 52 FPG gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig erklärt und ausgesprochen, dass ihm gemäß § 58 Abs. 2 und 3 AsylG iVm § 55 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs. 1 AsylG „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt wird. Danach wurde dem Ehegatten der Beschwerdeführerin eine entsprechende Karte, XXXX , gültig bis XXXX , ausgestellt. In Folge wurde auch der gemeinsame Tochter XXXX wegen ihres Vaters, mit rechtskräftigem Bescheid vom XXXX , Zahl XXXX , gemäß
§ 58 Abs. 2 und 3 AsylG iVm § 55 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs. 1 AsylG „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt und später eine Karte, XXXX , gültig bis XXXX , ausgestellt.
f) Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin wird in Übereinstimmung mit dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl festgestellt; siehe dazu weiter unten Beweiswürdigung f zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin
Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen
Ende 2018 kam es in Tschetschenien wieder zur Verhaftung von Homosexuellen. Laut Angaben des russischen LGBT-Netzwerkes wurden mindestens 40 Frauen und Männer inhaftiert, mindestens zwei sollen im Zuge von Folter getötet worden sein (LGBT Netzwerk 14.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019). Laut dem Leiter des LGBT-Netzwerkes, Igor Kotschetkow, kam es nicht nur zur physischen Bedrohung bis zur Inkaufnahme des Todes der Festgehaltenen, sondern die Sicherheitskräfte sollen auch versucht haben, die Frauen und Männer daran zu hindern, aus der Teilrepublik auszureisen oder vor Gericht zu ziehen (NZZ 18.1.2019, vgl. UN News 13.2.2019). Die Kampagne, deren Muster und auch der Ort der Inhaftierung, eine Anlage in der Stadt Argun, erinnern an eine erste Welle an Verhaftungen von tschetschenischen Homosexuellen vor zwei Jahren. Nach Einschätzung von Menschenrechtsaktivisten gingen die Einschüchterungen, Festnahmen und Gewalttaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender weiter. Im Frühsommer 2017 hatte das Ermittlungskomitee von höchster Stelle in Moskau aus wegen starken internationalen Drucks eine Untersuchung der schwerwiegenden Vorwürfe angeordnet. Diese brachte allerdings nie konkrete Resultate (NZZ 18.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019).
(Russisches LGBT-Netzwerk (14.1.2019): New wave of persecution against LGBT people in Chechnya: around 40 people detained, at least two killed, https://lgbtnet.org/en/newseng/new-wave-persecution-against-lgbt-people-chechnya-around-40-people-detained-least-two-killed, Zugriff 28.2.2019
Nowaja Gaseta (18.1.2019): ?????????? ??????, https://www.novayagazeta.ru/articles/2019/01/16/79205-legitimnye-zhertvy, Zugriff 28.2.2019
NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.1.2019): In Tschetschenien hat eine neue Welle der Verfolgung Homosexueller begonnen, https://www.nzz.ch/international/in-tschetschenien-hat-eine-neue-welle-der-verfolgung-homosexueller-begonnen-ld.1452401, Zugriff 28.2.2019
UN News (13.2.2019): LGBT community in Chechnya faces ‘new wave of persecution’: UN human rights experts, https://news.un.org/en/story/2019/02/1032641, Zugriff 28.2.2019)
Änderungen seit Mai 2018:
Erstens wurde weitere, die Zeugen Jehovas betreffende Literatur in die „Föderale Liste extremistischer Materialien“ des Justizministeriums der RF (http://minjust.ru/ru/extremist-materials?field_extremist_content_value) aufgenommen. Es handelt sich dabei um die Positionen 4471, 4472, 4485 bis 4488 und 4502, die aufgrund der Entscheidungen diverser russischer Gerichte am 5.7.2018 bzw. am 31.8.2018 in die Liste aufgenommen wurden. Zweitens wurde der Erlass N 11 „Über die gerichtliche Praxis in Strafsachen zu Verbrechen mit extremistischer Ausrichtung“ des Plenums des Obersten Gerichts vom 28.6.2011 am 20.9.2018 novelliert, die Definition der Z 20 Abs. 2, was unter einer Teilnahme an einer extremistischen Organisation iSd Art. 282.2 russ. StGB zu verstehen ist, ist aber ebenso unverändert geblieben wie der Art. 282.2 russ. StGB („Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation“) selbst. Auch die Entscheidung des Obersten Gerichts der RF N AKPI 17-238 vom 20. April 2017, mit der das „Leitungszentrum der Zeugen Jehovas in Russland“ als extremistische Organisation eingestuft und verboten wurde, ist unverändert gültig.
Unter dem Link http://gorod-che.ru/new/2018/10/10/58877 findet sich ein Artikel vom 10.10.2018, wonach fünf Bewohner der Kirowsker Oblast festgenommen wurden wegen des Versuches, die Tätigkeit einer religiösen Organisation, die die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas weiterverbreitet, wieder aufzunehmen. Trotz der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts vom 20.4.2017 hätten die Festgenommenen laut Untersuchungskomitee – in voller Kenntnis der Gerichtsentscheidung – in der Zeit vom 16.8.2017 bis zum 29.9.2018 beschlossen, die religiöse Tätigkeit wieder aufzunehmen.
Unter Beachtung aller konspirativen Maßnahmen hätten sie jedes Mal in neuen Wohnungen Treffen von Jüngern und Teilnehmern der religiösen Vereinigung organisiert. Dort hätten sie biblische Lieder gesungen, die Fertigkeiten bei der Durchführung der missionarischen Tätigkeit vervollkommnet und in der Extremismus-Liste aufgeführte verbotene Literatur studiert (New World Translation of the Holy Scriptures, Nr. 4488 der Liste). Außerdem hätten sie eine verbotene religiöse Organisation finanziert, indem sie ca. 500.000 RUB von den Glaubensanhängern gesammelt hätten. Dieses Geld sei zwischen den Führern der Organisation für die Miete der Räumlichkeiten, für den Erwerb und die Wartung von Computern aufgewendet worden. Der Rest der Summe sei dem Leitungszentrum überwiesen worden.
Art. 282.3 des russ. StGB (http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/51346ce1f845bc43ee6f3eadfa69f65119c941fa/) stellt die Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit unter gerichtliche Strafe. Er lautet:
„Art. 282.3 Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit
1. Die Zurverfügungstellung oder Sammlung von Mitteln oder die Erbringung finanzieller Dienstleistungen, wissentlich bestimmt für die Finanzierung der Organisation, der Vorbereitung und Begehung zumindest eines der Verbrechen extremistischer Ausrichtung oder für die Sicherstellung der Tätigkeit einer extremistischen Vereinigung oder extremistischen Organisation wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 1 bis 4 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 3 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr oder mit Freiheitsstrafe von 3 bis 8 Jahren.
2. Diese Taten, begangen von einer Person unter Ausnutzung ihrer Amtsstellung wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder ohne eine solche oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 2 bis 5 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist von 1 bis zu 2 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren.
Anmerkung: Eine Person, die erstmals ein Verbrechen gemäß dieses Art. begangen hat, wird von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit frei, wenn sie mittels rechtzeitiger Benachrichtigung der Behörden oder auf andere Weise die Verhinderung des Verbrechens, das sie finanziert hat, sichergestellt hat, ebenso wenn sie die Verhinderung der Tätigkeit der extremistischen Gesellschaft oder der extremistischen Organisation sichergestellt hat, für deren Sicherstellung der Tätigkeit sie Mittel zur Verfügung gestellt oder gesammelt oder finanzielle Dienstleistungen erbracht hat, wenn in ihren Handlungen kein anderer Straftatbestand enthalten ist.“
Teilnahmen an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen (der Zeugen Jehovas) werden also von den russischen Behörden im Lichte der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts, des Auslegungserlasses und der Extremismus-Liste des russischen Justizministeriums im Rahmen der russischen Strafgesetze weiterhin verfolgt.
Eine nochmalige Internetrecherche der ÖB Moskau hat aber weiterhin keine Hinweise erbracht, dass einfache Gläubige der Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären.
(ÖB Moskau (23.10.2018): Information per Email)
Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 19. Bewegungsfreiheit bzw. 19.2. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens).
Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).
(ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email)
Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 4. Rechtsschutz / Justizwesen).
Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).
(ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email)
Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).
Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2018a).
(AA – Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation – Außen- und Europapolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018
CIA – Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018
EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018
FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018
OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018
Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018
Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018
Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018)
Tschetschenien
Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür
des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
(AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
GKS – Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018, http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018
ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018)
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
(AA – Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018
BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018
Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018
GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018)
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).
Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).
(AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018
Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018
DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018
ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018
SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld