Entscheidungsdatum
16.07.2021Norm
BFA-VG §9Spruch
W159 2230305-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Nordmazedonien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.03.2020, Zl. XXXX , nach einer mündlichen Verhandlung am 15.06.2021, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Nordmazedonien wurde am 02.09.2019 (RK 06.09.2019) wegen des Vergehens des Raufhandels nach § 91 Abs 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstraft von 6 Monaten, Probezeit 3 Jahre, verurteilt.
Aus diesem Grund teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit dem Schreiben vom 13.02.2019 sowie wie mit einem ergänzendem Schreiben vom14.10.2019 mit, dass es beabsichtigt sei, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung nach Nordmazedonien und ein Einreiseverbot zu erlassen. Es wurden die Länderfeststellungen zu seinem Herkunftsstaat beigelegt. Der in diesen Schreiben enthaltene Fragenkatalog wurde am 28.10.2019 durch die Rechtsvertretung des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt XXXX , beantwortet. Der Beschwerdeführer verfüge über ein Reisedokument von Mazedonien, der Reisepass sei in Kopie beigelegt und würde sich im Haus des Beschwerdeführers befinden. Der Beschwerdeführer sei gesund und befinde sich nicht in ärztlicher Behandlung. In Österreich würden sich die Eltern des Beschwerdeführers und seine drei Schwestern aufhalten. Der Beschwerdeführer sei am XXXX in XXXX geboren worden und befände sich seit seiner Geburt in Österreich. Aus dem beigelegten Versicherungsdatenauszug sei ersichtlich, dass er ständig beschäftigt sei. Der Beschwerdeführer verfüge über eine Aufenthaltsgenehmigung, Daueraufenthalt EU, freier Zugang zum Arbeitsmarkt. Er sei mit XXXX , verheiratet und diese sei mit dem gemeinsamen Kind schwanger, wie aus dem Mutter-Kind-Pass hervorgehen würde. Der Beschwerdeführer habe sich zuletzt im August 2019 in Nordmazedonien aufgehalten, wo nur die Ehefrau des Beschwerdeführers leben würde.
Der Beschwerdeführer habe am 27.02.2019 die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt.
Mit Schreiben vom 03.03.2020 wurde durch den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers die Geburtsurkunde des Sohnes des Beschwerdeführers, XXXX , gab. Am XXXX , übermittelt.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 13.03.2020, Zl. XXXX wurde unter Spruchpunkt I. gem § 52 Abs 5 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen. Unter Spruchpunkt II. wurde festgestellt, dass die Abschiebung gem § 46 FPG nach Nordmazedonien zulässig sei, unter Spruchpunkt III. wurde ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Es wurde eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise unter Spruchpunkt IV. festgelegt.
Zu dem Aufenthalt in Österreich wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer durch seine Verurteilung mit dem folglich einhergehenden massiven Fehlverhalten er sein kriminelles Wesen und hohes Aggressionspotenzial eindrucksvoll zur Schau gestellt habe. Er sei von einem österreichischen Gericht wegen Raufhandel zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden. Das Einreiseverbot sei erlassen worden, da der Beschwerdeführer mit acht weiteren Angeklagten sowie XXXX ., zumindest beteiligt gewesen sei, wobei die Schlägerei den Tod von XXXX ., zufolge gehabt habe. Der Beschwerdeführer selbst sei durch Stichverletzungen im Bauchbereich und der Leber schwer verletzt worden. XXXX . habe eine Schnittwunde am rechten Daumen, verbunden mit einer Durchtrennung vom Daumensehne und –nerv und einen verschobenen Nasenbeinbruch davongetragen. Bei der Strafbemessung habe sich die geständige Verantwortung, das jugendliche Alter, die bisherige Unbescholtenheit sowie die eigenen schweren Verletzungen strafmildernd ausgewirkt. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers stelle eine tatsächliche gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar.
In der rechtlichen Beurteilung wurde zu Spruchpunkt I. auf § 53 Abs. 3 FPG verwiesen. Aufgrund des Fehlverhaltens des Beschwerdeführers würden die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 FPG vorliegen.
Hinsichtlich des Rechts auf Achtung des Familienlebens wurde angegeben, dass der Beschwerdeführer seit 03.12.2019 verheiratet sei. Sein Sohn sei am XXXX geboren worden. Seine Gattin und sein Sohn würden in Nordmazedonien leben. Er persönlich würde mit seinen Eltern in einem gemeinsamen Haushalt leben, habe jedoch kein besonderes Nahe- oder Abhängigkeitsverhältnis vorgebracht. Somit würde die Rückkehrentscheidung iVm Einreiseverbot keinen Eingriff in das Recht auf Familienleben darstellen. Auch würde sie keinen Eingriff in das Recht auf Privatleben darstellen, der Beschwerdeführer sei in Österreich geboren worden, besäße den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, habe die Schulpflicht in Österreich absolviert und habe seinen Urlaub im Sommer 2019 in seinem Heimatland verbracht. Er habe sich aufgrund seiner Eheschließung im Dezember 2019 neuerlich in seinem Herkunftsstaat aufgehalten. Seit 10.08.2015 gehe der Beschwerdeführer - unterbrochen durch Zeiten des Arbeitslosengeldbezuges – einer Beschäftigung nach, seit 05.02.2020 habe er Notstandshilfe bezogen.
Dem BFA, sei als öffentliche Behörde gestattet, einen Eingriff in das Familien- und Privatleben vorzunehmen, da dieser gem. § 10 AslyG iVm § 52 Abs. 1 FPG vorgesehen ist. Der Beschwerdeführer sei in Österreich geboren worden und die Behörde verkenne nicht, dass der Lebensmittelpunt im österreichischen Bundesgebiet vorliegen würde. Dennoch müsse dieser Aufenthalt erheblich relativiert werden. Der Beschwerdeführer würde ein hohes Gewaltpotential aufweisen und habe seine kriminelle Energie auf eindrucksvolle Weise zur Schau gestellt. Er habe absichtlich und wissentlich in auf sich genommen, dass sein Fehlverhalten zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen führen könnte. Er habe seine Gattin erst am 03.12.2019 in Nordmazedonien geehelicht, nachdem er mit Schreiben der Behörde vom 13.02.1019 von der Beabsichtigung der Erlassung der Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot in Kenntnis gesetzt worden sei. Er hätte sich seines unsicheren Aufenthaltes bewusst sein müssen. Zudem müsste berücksichtigt werden, dass seine Gattin erst mit 21 Jahren einen Aufenthaltstitel erhalten könnte und sich somit nur für den Aufenthalt von 90 Tagen/180 Tagen rechtmäßig in Österreich aufhalten würde. Somit sei derzeit eine räumliche Trennung zu seiner Gattin und seinem Kind gegeben und er hätte ein bestehendes Familienleben in seinem Heimatland. Des Weiteren habe der Beschwerdeführer seine Staatsbürgerschaft nach Kenntnisnahme der Einleitung des Verfahrens beantragt. Seine Eltern und Geschwister hätten den Beschwerdeführer nicht von der Begehung strafbarer Handlungen abhalten können, weswegen diese Beziehungen relativiert werden müssten. Auch die beruflichen Bindungen würden der Erlassung der Rückehrentscheidung nicht entgegenstehen. Um derartige Gewaltakte zu verhindern, würde das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit überwiegen, und der Eingriff in das Recht auf Privatleben sei, sowie die Erlassung der Rückehrentscheidung gerechtfertigt.
Die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG würden vorliegen, daher sei eine Rückkehrentscheidung zu erlassen gewesen.
Zu Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass mit der Rückkehrentscheidung eine Abschiebung in dem Herkunftsstaat gem § 46 FPG zulässig sei.
Zu Spruchpunkt III. wurde erläutert, dass mit einer Rückkehrentscheidung ein Einreiseverbot gem § 53 Abs. 1 FPG erlassen werden könne. Im vorliegenden Fall sei dies gemäß Ziffer 1 erfüllt. Der Beschwerdeführer sei durch das LG XXXX , wegen Raufhandel zu einer Freiheitsstrafe in Dauer von 6 Monaten, bedingt nachgesehen unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt worden. Der Vorfall habe sich im Rahmen einer „Balkan-Night“ zwischen Personen, die zwei Familienverbänden angehören würden, ereignet. Es würde sich um nordmazedonische Familienverbände handeln, zwischen denen es bereits seit längerer Zeit unterschiedlichste Konflikte existieren würden. Diese würden auf geschäftliche Konkurrenz im Pflasterergewerbe als auch wegen zurückliegender tätlicher Auseinandersetzungen und Streitigkeiten beruhen. Derartige Familienstreitigkeiten würden konsequente Maßnahmen erfordern.
Unter Spruchpunkt IV. wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides bemessen.
Der Beschwerdeführer, vertreten durch seinen Rechtsanwalt, erhob gegen alle Spruchteile des Bescheides vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, RD Oberösterreich vom 13.03.2020, Zl. XXXX fristgerecht Beschwerde.
Die belangte Behörde habe bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme zulässig sei, eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit dem Interesse des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen. Die Frage der familiären Bindung sei falsch gelöst worden. Es wären in jedem Einzelfall eine Gesamtbetrachtung unterschiedlicher Kriterien – Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, der Grad der Integration des Fremden, sowie die Bindung zur Verwandtschaft, die Selbsterhaltungsfähigkeit, die Schul- und Berufsausbildung, die Teilnahme am sozialen Leben, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, die Bindung zum Heimatstaat, die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung, di Frage, ob das Privat- und Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden sind, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen war- anzustellen gewesen. Hierzu wurde angegeben, dass der Beschwerdeführer sich seit seiner Geburt in Österreich durchgehend in Österreich aufhalten würde. Er habe hier auch seine Schulbildung abgeschlossen. Seine Eltern und Schwestern würden sich ebenfalls hier in Österreich aufhalten. Der Beschwerdeführer sei verheiratet und sein Sohn sei am XXXX geboren worden. Der Beschwerdeführer habe seine Schulbildung in Österreich absolviert und sei überdurchschnittlich sozial in Österreich integriert. Durch die beabsichtigte Ausweisung würden nachteilige Folgen auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers und seiner in Österreich befindlichen Familie entstehen. Diese sei allesamt in Österreich sozial integriert. Die einmalige Verurteilung durch das LG XXXX rechtfertige nicht die Erlassung des angefochtenen Bescheides, sohin die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, sowie der damit verbundenen Ausreise binnen 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung und die Erlassung eines Einreiseverbotes auf drei Jahre. Das Gesamtverhalten des Beschwerdeführers würde keinesfalls den Schluss zulassen, dass er eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 15.06.2021 an, zu der ein Vertreter der belangten Behörde entschuldigt nicht erschien und der Beschwerdeführer sowie die Ehefrau des Beschwerdeführers, ebenfalls als Beschwerdeführerin, in Begleitung ihrer Rechtsvertreterin, XXXX anwesend waren.
Die Rechtsvertretung brachte einen kurzen Schriftsatz in Vorlage und trug diesen vor.
Der Beschwerdeführer beantwortete die Fragen des Richters auf Deutsch. Er hielt sein bisheriges Vorbringen einschließlich der Beschwerde aufrecht. Er gab an, er wolle keine Ergänzungen oder Korrekturen vorbringen.
Befragt erklärte er, er sei am XXXX geboren worden. Seine Eltern würden sich zwischen 20 und 30 Jahren in Österreich aufhalten. Seine Eltern hätten einen Daueraufenthaltstitel und seien keine österreichischen Staatsbürger. Der Beschwerdeführer habe sein ganzes Leben in XXXX gelebt. Er habe sich einmal im Jahr für zwei Wochen in Nordmazedonien aufgehalten. Das letzte Mal sei er 2019 in Nordmazedonien gewesen. Des Weiteren gab er an, er gehöre der albanischen Volksgruppe an und sei moslemischen Glaubens.
Der Beschwerdeführer beantwortete die Frage des Richters, welche schulische oder sonstige Ausbildung er erhalten habe: „VS, HS, Polytechnische Schule, ich habe dann eine Lehre als Pflasterleger gemacht, aber ich möchte die schriftliche Prüfung nachholen. Ich bin jetzt schon selbständig.“ Er habe in Österreich seit seinem 15. Lebensjahr, also ab 2015 gearbeitet. Mittlerweile habe er seine eigene Pflasterfirma namens Pflasterungen „ XXXX Diese Firma bestehe seit März 2021 und er würde derzeit neun Personen aus Mazedonien, Albanien und dem Kosovo beschäftigen. Derzeit hätte er einen Nettogewinn von etwa 20%, also 4.000 bis 5.000 Euro.
Befragt gab der Beschwerdeführer an, er hätte keine Verwandte mehr in Nordmazedonien. Seine Familie würde sich in Österreich, Deutschland, der Schweiz, jedenfalls nicht in Nordmazedonien aufhalten. Der Beschwerdeführer gab auch an, dass sein Vater schon Verwandte in Nordmazedonien habe, die er aber nicht kennen würde. Der Beschwerdeführer hätte kein Haus oder Grundbesitz in Nordmazedonien. Er könnte vielleicht kurzfristig bei seinen Schwiegereltern wohnen, denn diese seien oft bei ihren Söhnen in Deutschland zu Besuch.
In Österreich würden noch seine drei Schwestern, alle österreichische Staatsbürger und mehrere Onkel, ebenfalls österreichische Staatsbürger, wohnen. Er habe einen Freundeskreis bestehend aus Österreichern, würde beim Fußballverein XXXX Mitglied sein, jedoch nicht selbst aktiv spielen.
Der Beschwerdeführer gab an, er habe keine gesundheitlichen Probleme. Er habe immer bei seinen Eltern, im gleichen Haus gewohnt. „Dort wohnen meinen Eltern, meine Frau, ich, unser kleiner Sohn und gelegentlich meine Oma.“ Er zahle für dieses Haus manche Investitionen und übernehme teilweise die Betriebskosten.
Auf die Frage des Richters, ob seine Eltern irgendwie der Hilfe des Beschwerdeführers oder umgekehrt bedürfen würden, antwortete der Beschwerdeführer: „Ja, meine Mutter hat Probleme mit den Knien und dem Gehen und meine Frau und ich bringen sie zum Einkaufen oder zu den Arztterminen. Sie muss operiert werden wegen des Meniskus und der Venen.“
Er erzählte befragt, er habe seine Frau vor etwa viereinhalb Jahren im Urlaub in Mazedonien, bei einer Hochzeit kennengelernt. Seine Frau sei vor etwa dreieinhalb Jahren, ursprünglich mit einem Touristenvisum in Österreich gewesen. Sie würden nunmehr seit Februar 2020 zusammenleben. Ihr Sohn XXXX sei am XXXX geboren worden. Seine Frau sei dann mit dem Neugeborenen nach Österreich gekommen. Seine Frau und er würden sich gemeinsam um das Kind kümmern. Seine Frau und seine Mutter, sowie er persönlich, wenn er Zeit habe, würden den Haushalt führen. Seine Frau würde gelegentlich in seiner Firma mithelfen.
Der Richter erkundigte sich, was sich aus seiner Sicht in der XXXX am 9.2.2019 ereignet habe. Der Beschwerdeführer erzählte: „Wir waren mit Verwandten dort, es kam dann zu einer Auseinandersetzung mit einer anderen aus Nordmazedonien stammenden Familie. Ich habe mit einem anderen Verwandten bei der Tür gewartet, wir sahen dann, dass eine Rauferei anfängt. Wir sind auf der Seite gestanden und haben geschaut, was passiert. Ich sah, dass ein Cousin von mir beteiligt war. Ich wollte die Streitenden auseinanderbringen, dann ist jemand von der rechten Seite gekommen und hat mich mit dem Messer attackiert. Ich bin dann trotz des Messerstiches heimgefahren und habe von der weiteren Auseinandersetzung nichts mitbekommen. Es ist leider Gottes mein Verwandter XXXX gestorben. Ich weiß nicht, wer ihn erstochen hat, das weiß niemand. Ich bin froh, dass ich diese Auseinandersetzung überlebt habe, der Stich war nur wenige Zentimeter tief, ich wäre vielleicht verblutet, es haben nur wenige Millimeter bis zur Leber gefehlt.“ Befragt gab er des weiteren an, dass es keine Familienfehde zwischen seiner Familie und der Familie XXXX und XXXX gäbe.
Der Richter erkundige sich, was geschehen würde, wenn der Beschwerdeführer mit seiner Familie nach Mazedonien gehen würde. Der Beschwerdeführer erklärte: „Ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen, ich habe dort nie gelebt, ich wüsste nicht, wie ich dort ein neues Leben anfange.“
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX , ist Staatsangehöriger von Nordmazedonien und wurde am XXXX in Österreich geboren. Er hält sich seit seiner Geburt rechtmäßig im Bundesgebiet auf, besuchte die VS, HS, den polytechnischen Lehrgang und absolvierte eine Lehre als Pflasterer. Der Beschwerdeführer hat seit März 2021 eine eigene Pflasterfirma und beschäftigt neun Personen. Sein Nettogewinn beträgt zwischen 4.000 und 5.000 Euro.
Der Beschwerdeführer hat im Sommer seine Frau kennengelernt und ist seit 07.12.2019 verheiratet. Er ist Vater eines Buben, namens XXXX , welcher am XXXX in XXXX geboren wurde. Der Beschwerdeführer führt mit seiner Ehefrau und seinem Sohn ein Familienleben. Es ist auch eine enge Bindung zu seinen Eltern festzustellen.
Der Beschwerdeführer hielt sich durchgehend im Bundesgebiet auf, er fuhr jedes Jahr für zwei Wochen auf Urlaub nach Nordmazedonien.
Im Bundesgebiet halten sich zudem weitere Verwandte des Beschwerdeführers, konkret seine Eltern, seine Schwestern (österr. Staatsbürger) sowie seine Onkel (österr. Staatsbürger) auf.
Im Herkunftsstaat leben Verwandte seines Vaters, welche der Beschwerdeführer nicht kennt.
Das Landesgericht XXXX , Zl. XXXX , verurteilte den Beschwerdeführer am 02.09.2019 (RK 06.09.2019) wegen des Vergehens eines Raufhandels nach § 91 Abs 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstraft von 6 Monaten (Probezeit 3 Jahre).
Darin wurde er für schuldig befunden, er hatte in der Nacht zum 09.02.2019 in XXXX an einer Schlägerei, an der zumindest die namentlich genannten neun Angeklagten sowie XXXX beteiligt waren, tätlich teilgenommen, wobei die Schlägerei den Tod des XXXX verursachte, der durch einen, keinem Angeklagten konkret zuordenbaren Messerstich in den Rücken herbeigeführt wurde.
Beim Beschwerdeführer wirkte mildern die geständige Verantwortung, sein Alter von unter 21 Jahren, seine bisherige Unbescholtenheit sowie weiters seine eigene schwere Verletzung.
In Anbetracht des Umstandes, dass keinerlei Verfolgung oder Bedrohung im Herkunftsstaat vorgebracht wurde, war es auch nicht erforderlich, eigene Länderfeststellungen zu treffen.
Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
- Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden unstrittigen Verwaltungsakt des Bundesasylamtes zu XXXX insbesondere in die Befragungsprotokolle
- die öffentliche mündliche Verhandlung am Bundesverwaltungsgericht unter Einvernahme am 15.06.2021
- Einsicht in das Strafregister, Urteil des LG XXXX , Zl. XXXX , vom 02.09.2019 (RK 06.09.2019).
2. Beweiswürdigung:
Die oben getroffenen Feststellungen beruhen auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht auf Grund der vorliegenden Akten durchgeführten Ermittlungsverfahrens und werden in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung als maßgeblicher Sachverhalt zugrunde gelegt.
Insofern oben Feststellungen zu Identität (Name und Geburtsdatum), Staatsangehörigkeit, Aufenthalt in Österreich, Geburt und Schul- sowie Berufsausbildung in Österreich, familiären Bezugspunkten in Österreich, Familienstand, den Personalien und jeweiliger Staatsbürgerschaft der Ehefrau, familiären Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat, hinreichenden Deutschkenntnissen sowie Urlaubsfahrten des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat getroffen wurden, beruhen diese auf den Feststellungen im angefochtenen Bescheid, denen in der gegenständlichen Beschwerde nicht entgegengetreten wurde.
Die Vaterschaft des Beschwerdeführers in Bezug auf seinen Sohn beruht auf einer in Vorlage gebrachten entsprechenden Geburtsurkunde. Das Familienleben ergibt sich aus den übereinstimmenden Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau.
Durch Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister konnte zudem die gemeinsame Haushaltsführung des Beschwerdeführers mit seiner Ehefrau sowie deren gemeinsamen Sohn und der Eltern des Beschwerdeführers bestätigt werden.
Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beruht auf dessen vor dem Bundesverwaltungsgericht. Angesichts des festgestellten Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers konnten auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer allfälligen Arbeitsunfähigkeit festgestellt werden. Vielmehr übt und übte er Beschäftigungen aus, sodass letztlich dessen Arbeitsfähigkeit außer Zweifel steht. Der Beschwerdeführer besitzt seit März 2021 eine eigene Firma für Pflasterungen.
Die Erwerbstätigkeiten sowie die aktuelle Beschäftigung des Beschwerdeführers folgendem Inhalt des auf den Namen des Beschwerdeführers lautenden Sozialversicherungsauszuges.
Aufgrund der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in Österreich geboren und aufgewachsen ist, die Schule und die Berufsausbildung im Bundesgebiet absolvierte, konnte sich das Bundesverwaltungsgericht von der muttersprachlichen Beherrschung der deutschen Sprache während der Verhandlung vergewissern. Der Beschwerdeführer spricht oberösterreichischen Dialekt.
Die Verurteilung des Beschwerdeführers in Österreich samt näherer Ausführungen hierzu sowie die Feststellung, dass er die besagte Straftat begangen und die beschriebenen Verhaltensweisen gesetzt hat, sind dem Strafregisterauszug des Beschwerdeführers sowie einer Ausfertigung des oben zitierten Strafurteils des LG XXXX vom 02.09.2019 (RK 06.09.2019) Zl. XXXX zu entnehmen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
Der mit „Rückkehrentscheidung“ betitelte § 52 FPG lautet wie folgt:
„§ 52. (1) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich
1. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder
2. nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde.
(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. dessen Antrag auf internationalen Schutz wegen Drittstaatsicherheit zurückgewiesen wird,
2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,
3. ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt wird, ohne dass es zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten kommt oder
4. ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten aberkannt wird
und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.
(3) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §§ 55, 56 oder 57 AsylG 2005 zurück- oder abgewiesen wird.
(4) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, hat das Bundesamt mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn
1. nachträglich ein Versagungsgrund gemäß § 60 AsylG 2005 oder § 11 Abs. 1 und 2 NAG eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels entgegengestanden wäre,
1a. nachträglich ein Versagungsgrund eintritt oder bekannt wird, der der Erteilung des zuletzt erteilten Einreisetitels entgegengestanden wäre oder eine Voraussetzung gemäß § 31 Abs. 1 wegfällt, die für die erlaubte visumfreie Einreise oder den rechtmäßigen Aufenthalt erforderlich ist,
2. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und im ersten Jahr seiner Niederlassung mehr als vier Monate keiner erlaubten unselbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
3. ihm ein Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 oder 2 NAG erteilt wurde, er länger als ein Jahr aber kürzer als fünf Jahre im Bundesgebiet niedergelassen ist und während der Dauer eines Jahres nahezu ununterbrochen keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen ist,
4. der Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels ein Versagungsgrund (§ 11 Abs. 1 und 2 NAG) entgegensteht oder
5. das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, aus Gründen, die ausschließlich vom Drittstaatsangehörigen zu vertreten sind, nicht rechtzeitig erfüllt wurde.
Werden der Behörde nach dem NAG Tatsachen bekannt, die eine Rückkehrentscheidung rechtfertigen, so ist diese verpflichtet dem Bundesamt diese unter Anschluss der relevanten Unterlagen mitzuteilen. Im Fall des Verlängerungsverfahrens gemäß § 24 NAG hat das Bundesamt nur all jene Umstände zu würdigen, die der Drittstaatsangehörige im Rahmen eines solchen Verfahrens bei der Behörde nach dem NAG bereits hätte nachweisen können und müssen.
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, hat das Bundesamt eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.
(6) Ist ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates, hat er sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben. Dies hat der Drittstaatsangehörige nachzuweisen. Kommt er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach oder ist seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, ist eine Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 zu erlassen.
(7) Von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß Abs. 1 ist abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll.
(8) Die Rückkehrentscheidung wird im Fall des § 16 Abs. 4 BFA-VG oder mit Eintritt der Rechtskraft durchsetzbar und verpflichtet den Drittstaatsangehörigen zur unverzüglichen Ausreise in dessen Herkunftsstaat, ein Transitland gemäß unionsrechtlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder einen anderen Drittstaat, sofern ihm eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht eingeräumt wurde. Liegt ein Fall des § 55a vor, so wird die Rückkehrentscheidung mit dem Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise durchsetzbar. Im Falle einer Beschwerde gegen eine Rückkehrentscheidung ist § 28 Abs. 2 Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 auch dann anzuwenden, wenn er sich zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung nicht mehr im Bundesgebiet aufhält.
(9) Mit der Rückkehrentscheidung ist gleichzeitig festzustellen, ob die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung des Drittstaates, in den der Drittstaatsangehörige abgeschoben werden soll, aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich ist.
(10) Die Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 kann auch über andere als in Abs. 9 festgestellte Staaten erfolgen.
(11) Der Umstand, dass in einem Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung deren Unzulässigkeit gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festgestellt wurde, hindert nicht daran, im Rahmen eines weiteren Verfahrens zur Erlassung einer solchen Entscheidung neuerlich eine Abwägung gemäß § 9 Abs. 1 BFA-VG vorzunehmen, wenn der Fremde in der Zwischenzeit wieder ein Verhalten gesetzt hat, das die Erlassung einer Rückkehrentscheidung rechtfertigen würde.“
Gemäß § 2 Abs. 4 Z 1 FPG gilt als Fremder, wer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt und gemäß Z 10 leg cit als Drittstaatsangehöriger jeder Fremder der nicht EWR-Bürger oder Schweizer Bürger ist. Der Beschwerdeführer ist weder im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft noch ist er EWR-Bürger, und aufgrund seiner Staatsangehörigkeit zu Nordmazedonien sohin Drittstaatsangehöriger iSd. § 2 Abs. 4 Z 10 FPG.
Gemäß § 31 Abs. 1 FPG halten sich Fremde rechtmäßig im Bundesgebiet auf, wenn sie rechtmäßig eingereist sind und während des Aufenthaltes im Bundesgebiet die Befristung oder Bedingungen des Einreisetitels oder des visumfreien Aufenthaltes oder die durch zwischenstaatliche Vereinbarungen, Bundesgesetz oder Verordnung bestimmte Aufenthaltsdauer nicht überschritten haben (Z 1), sie auf Grund einer Aufenthaltsberechtigung oder eine Dokumentation des Aufenthaltsrechtes nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zur Niederlassung oder zum Aufenthalt oder aufgrund einer Verordnung für Vertriebene zum Aufenthalt berechtigt sind (Z 2), oder soweit sich dies aus anderen bundesgesetzlichen Vorschriften ergibt (Z 9).
Der Beschwerdeführer wurde in Österreich geboren und ist in Attnang-Puchheim aufgewachsen. Er hat in Österreich die Schul- und Berufsausbildung genossen. Seine Eltern und er sind im Besitz eines Dauer-Aufenthaltstitels. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich erweist sich demgemäß als rechtmäßig.
Die belangte Behörde hat sohin dem Grunde nach eine Rückkehrentscheidung zur Recht nach § 52 Abs. 4 FPG geprüft.
Der mit Schutz des Privat und Familienlebens betitelte § 9 BFA-VG lautet:
„§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.
(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:
1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.
(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.
(Anm.: Abs. 4 aufgehoben durch Art. 4 Z 5, BGBl. I Nr. 56/2018)
(5) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits fünf Jahre, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft eine Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 Abs. 4 iVm 53 FPG nicht erlassen werden. Dies gilt allerdings nur, wenn der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine andere eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint.
(6) Gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, darf eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen. § 73 Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1974 gilt.“
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihres Briefverkehrs.
Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit ein Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme, wie sie eine Ausweisung eines Fremden darstellt, kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob die Ausweisung einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt:
Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt. Der Begriff des „Familienlebens“ in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine hinreichende Intensität für die Annahme einer familiären Beziehung iSd. Art. 8 EMRK erreichen. Der EGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung nicht zwischen einer ehelichen Familie (sog. „legitimate family“ bzw. „famille légitime“) oder einer unehelichen Familie („illegitimate family“ bzw. „famille naturelle“), sondern stellt auf das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens ab (siehe EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 454; 18.12.1986, Johnston u.a., EuGRZ 1987, 313; 26.05.1994, Keegan, EuGRZ 1995, 113; 12.07.2001 [GK], K. u. T., Zl. 25702/94; 20.01.2009, ?erife Yi?it, Zl. 03976/05). Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entspricht, kommen tatsächliche Anhaltspunkte in Frage, wie etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes, die Art und die Dauer der Beziehung sowie das Interesse und die Bindung der Partner aneinander, etwa durch gemeinsame Kinder, oder andere Umstände, wie etwa die Gewährung von Unterhaltsleistungen (EGMR 22.04.1997, X., Y. und Z., Zl. 21830/93; 22.12.2004, Merger u. Cros, Zl. 68864/01). So verlangt der EGMR auch das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff.). In der bisherigen Spruchpraxis des EGMR wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Europäischen Kommission für Menschenrechte auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Wie der Verfassungsgerichtshof (VfGH) bereits in zwei Erkenntnissen vom 29.09.2007, Zl. B 328/07 und Zl. B 1150/07, dargelegt hat, sind die Behörden stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In den zitierten Entscheidungen wurden vom VfGH auch unterschiedliche – in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fallbezogen entwickelte – Kriterien aufgezeigt, die in jedem Einzelfall bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:
- die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 16.09.2004, Ghiban, Zl. 11103/03, NVwZ 2005, 1046),
- das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20.06.2002, Al-Nashif, Zl. 50963/99, ÖJZ 2003, 344; 22.04.1997, X, Y und Z, Zl. 21830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00),
- die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
- den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR 04.10.2001, Adam, Zl. 43359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Slivenko, Zl. 48321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Sisojeva, Zl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 05.07.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124),
- die Bindungen zum Heimatstaat,
- die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 11.04.2006, Useinov, Zl. 61292/00), sowie
- auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 05.09.2000, Solomon, Zl. 44328/98; 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567; 21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99; 23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09).
Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u.a., Zl. 26940/10).
„Bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 MRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG 2014 zu prüfen. Nach dessen Abs. 1 ist nämlich (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FrPolG 2005, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 MRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. E 12. November 2015, Ra 2015/21/0101; E 20. Oktober 2016, Ra 2016/21/0198). Das gilt aber nicht nur für die Rückkehrentscheidung und für das in § 9 Abs. 1 BFA-VG 2014 weiters ausdrücklich genannte Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FrPolG 2005, sondern auch für das - nur bei gleichzeitiger Erlassung einer Rückkehrentscheidung zulässige - Einreiseverbot iSd § 53 FrPolG 2005, in dessen Abs. 2 und 3 in Bezug auf die Bemessung der Dauer auch die Abwägung nach Art. 8 MRK angesprochen wird (vgl. B 3. September 2015, Ra 2015/21/0111; B 30. Juni 2016, Ra 2016/21/0179).“ (vgl. VwGH 22.08.2019, Ra 2019/21/0062)
Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgeführt hat, ist eine Ausweisung von Ausländern, die in Österreich ihre gesamte Kindheit und Jugend verbracht haben auch bei Straffälligkeit nicht zulässig (Case of MASLOV vs. Austria, Nr. 1638/03 vom 23.06.2008).
Der Europäische Gerichthof hat weiters im Fall ÜNER gegen Niederlande vom 18.10.2006, Nr. 46410/99 (Große Kammer) wie folgt ausgeführt:
„RZ 57: Auch wenn Art. 8 EMRK somit für keine Gruppe von Fremden einen absoluten Schutz vor Ausweisung gewährt, zeigt die Rechtsprechung des Gerichtshofs doch deutlich, dass die Ausweisung eines Fremden unter Umständen gegen diese Bestimmung verstoßen kann (vgl. Moustaquim / Belgien, Urteil vom 18.02.1991; Beldjoudi / Frankreich, Urteil vom 26.03.1992; Boultif/ Schweiz, Nr. 54273/00; Amrohalli / Dänemark, Urteil vom 11.07.2002, Nr. 56811/00; Yilmaz / Deutschland, Urteil vom 17.04.2003; Keles / Deutschland, Urteil vom 27.10.2005, Nr. 32231/02). Im Fall Boultif / CH hat der Gerichtshof die Kriterien dargelegt, an Hand derer er prüft, ob eine Ausweisung verhältnismäßig war. Demnach sind folgende Kriterien zu berücksichtigen: die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten, die Dauer seines Aufenthalts, die seit Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in diesem Zeitraum, die Staatsangehörigkeit der verschiedenen betroffenen Personen, die familiäre Situation (so wie die Dauer der Ehe und andere Faktoren, die die Wirksamkeit des Familienlebens eines Paares ausdrücken), ob der Ehepartner über die Straftat Bescheid wusste, als sie / er die familiäre Bindung eingegangen ist, ob es Kinder aus der Ehe gibt, und wenn ja, ihr Alter, und die Schwierigkeiten, auf die der Ehepartner wahrscheinlich im Land, in das der Beschwerdeführer ausgewiesen wird, treffen wird.
Rz. 58. Der Gerichtshof möchte zwei Kriterien hervorheben, die vielleicht schon in den im Fall Boultif/CH genannten enthalten sind: das Interesse und Wohl der Kinder, insbesondere die Schwierigkeiten, die einem Kind des Beschwerdeführers in dessen Heimatland begegnen und die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Heimatland.
Bezüglich des ersten Aspekts stellt der Gerichtshof fest, dass dieser bereits in seiner gegenwärtigen Rechtsprechung Niederschlag findet (s. Sen / Niederlande, Urteil vom 21.12.2001, Nr. 31465/96; Tuquab0-Tek1e ua. / Niederlande, Urteil vom 01.12.2005, Nr. 60665/00) und sich an die Empfehlung des Ministerkomitees Rec(2002)4 über die rechtliche Stellung von zur Familienzusammenführung zugelassenen Personen anlehnt.
Was den zweiten Aspekt anbelangt, so ist hervorzuheben, dass der Beschwerdeführer in der Sache Boultif bei seiner Einreise in die Schweiz zwar schon erwachsen war, der Gerichtshof aber erkannt hat, dass die „Boultif — Kriterien" erst recht in den Fällen anwendbar sind, in denen die Beschwerdeführer in dem Gastland geboren oder dort in jungen Jahren eingereist sind (s. Mokrani / Frankreich, Urteil vom 15.07.2003, Nr. 52206/99).
Dass die Dauer des Aufenthalts einer Person im Gastland in der Tat als ein zu berücksichtigender Aspekt gilt, ist in der Annahme begründet, dass je länger eine Person sich in einem bestimmten Land aufhält, umso stärker ihre Bindungen zu diesem Land und umso schwächer diese zu ihrem Herkunftsland sind. Im Licht dieser Erwägungen ist offensichtlich, dass der Gerichtshof die besondere Situation von Ausländern berücksichtigt, die die überwiegende oder sogar die gesamte Zeit ihrer Kindheit im Gastland verbracht haben, dort aufgewachsen sind und erzogen wurden.
Rz. 59. In der Sache Boultif hat der Gerichtshof festgestellt, dass er sich genötigt sah, diese „Leitlinien" festzulegen, weil er „nur eine begrenzte Zahl von entschiedenen Fällen hatte, in denen das Haupthindernis für die Ausweisung die Schwierigkeiten der Ehegatten, zusammenzubleiben, und insbesondere die Schwierigkeiten eines der Ehegatten und/oder der Kinder, in dem Herkunftsland des anderen Ehegatten zu leben, waren". Festzustellen ist jedoch, dass die ersten drei Leitlinien sich nicht unmittelbar auf das Familienleben beziehen. Dies veranlasst den Gerichtshof zur Prüfung der Frage, Ob die „Boultif-Kriterien" in einem
Maße verständlich sind, dass sie in allen Fällen angewendet werden können, in denen es um die „expulsion" und/oder „exclusion" von niedergelassenen Einwanderern im Anschluss an eine strafrechtliche Verurteilung geht. Er stellt diesbezüglich fest, dass nicht alle Einwanderer unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem Land, aus dem sie ausgewiesen werden sollen, notwendigerweise ein „Familienleben" im Sinne des Art. 8 EMRK aufweisen. Da aber nach Art. 8 EMRK auch das Recht geschützt ist, Beziehungen zu anderen Menschen und zur Außenwelt aufzunehmen und zu pflegen (s. Pretty / Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02) und er gelegentlich Aspekte der sozialen Identität des Einzelnen umfassen kann (s. Mikulic / Kroatien, Nr. 53176/99), muss man akzeptieren, dass die Gesamtheit der sozialen Bindungen zwischen den niedergelassenen Einwanderern und der Gemeinschaft, in der sie leben, fester Bestandteil des „Privatlebens" im Sinne des Art. 8 EMRK sind. Unabhängig also vom Bestehen oder Nichtbestehen eines „Familienlebens" ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Ausweisung eines niedergelassenen Einwanderers einen Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens darstellt. Der Gerichtshof entscheidet demnach vor dem Hintergrund der einzelfallbezogenen Umstände, ob es angemessen ist, dem Aspekt „Familienleben" größeres Gewicht beizumessen als dem Aspekt „Privatleben".
Rz. 60. Im Licht des Vorstehenden folgert der Gerichtshof, dass die vorgenannten Faktoren in ihrer Gesamtheit in allen Rechtssachen zu berücksichtigen sind, bei denen es um niedergelassene Einwanderer geht, die im Anschluss an eine strafrechtliche Verurteilung
„ausgewiesen" („expelled") und/oder „ausgeschlossen" „excluded" werden sollen.“
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat weiters in seinem Urteil Beldjoudi gegen Frankreich vom 26.03.1992, 12038/86 mit der Frage der Entwurzelung von Personen, die im Land ihrer Niederlassung geboren wurden oder aufgewachsen sind, auseinandergesetzt und auf die großen Schwierigkeiten bei der Anpassung bei einer Rückkehr in den Staat der Staatsbürgerschaft, wobei praktisch und rechtliche Hindernisse auftreten können, hingewiesen.
Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof erst jüngst (VwGH vom 30.04.2020, Ra 2019/21/0134, ähnlich VfGH vom 03.10.2019, E3456/2019-8) sich insbesondere mit der Frage des Kindeswohls und des drohenden Verlustes des persönlichen Kontakts zwischen Vater und (Klein-)kindern im Falle einer Rückkehrentscheidung und Abschiebung, wie folgt, ausgeführt: Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (vgl. VwGH 31.8.2017, Ro 2017/21/0012, Rn 8, mwN). Ein Kind hat grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen (vgl. erneut VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282, Rn 20, mwN). Im gegenständlichen Fall müsste es jedoch bei Versagung des beantragten Aufenthaltstitels und Durchsetzung der Rückkehrentscheidung (zumindest vorübergehend) ganz ohne Vater aufwachsen. Es ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach Kontakte über Telefon oder E-Mail nicht die durch die Trennung von Mutter oder Vater verursachte maßgebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls wettmachen können (vgl. VwGH 25.9.2018, Ra 2018/21/0108, Rn 11, mwN); die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel ist mit einem Kleinkind kaum möglich (z.B. auch VfGH vom 03.10.2019, E3247/2019-10) und dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) kommt grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zu (vgl. in diesem Sinn betreffend ein knapp dreijähriges Kind VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0128, mwN; zu einem ähnlich gelagerten Fall bezüglich eines vierjährigen Kindes VwGH 17.4.2013, 2013/22/0088, mwN; aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes vgl. etwa VfGH 19.6.2015, E 426/2015, mwN)“.
Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung bzw. Interessenabwägung hängt vielmehr von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (vgl. zu allem VwGH 17.5.2021, Ra 2021/01/0150-0152, mvN).
Im gegenständlichen Fall hält sich der Beschwerdeführer seit seiner Geburt am XXXX durchgehend und rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Er ist im Bundesgebiet aufgewachsen, hat hier die Schul- und Berufsausbildung genossen sowie seine Lehre hier absolviert. Er spricht Deutsch auf muttersprachlichen Niveau mit deutlichem oberösterreichischen Akzent. Seit März 2021 hat der Beschwerdeführer eine eigene Firma für Pflasterungen und beschäftigt 9 Personen. Sein Nettogewinn beträgt etwa 4.000 Euro.
Die gesamte Kernfamilie des Beschwerdeführers, bestehend aus seiner Ehefrau, dem minderjährigen Sohn und seinen Eltern welche ebenfalls einen Daueraufenthaltstitel haben, und mit denen er im gemeinsamen Haushalt, in Österreich wohnt. Der Lebensmittelpunkt des Beschwerdeführers in wirtschaftlicher, sozialer und familiärer Hinsicht liegt letztlich seit mittlerweile 21 ½ Jahren durchgehend in Österreich.
Der Beschwerdeführer wurde nie im Herkunftsstaat sozialisiert, wenn hat er seinen Urlaub für die Dauer von zwei Wochen jährlich dort verbracht. Während eines Urlaubes hat er auch seine jetzige Frau kennen und lieben gelernt.
Der Beschwerdeführer wurde einmalig wegen des Vergehens des Raufhandels zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Dabei fällt insbesondere schwer ins Gewicht, dass sich der Beschwerdeführer an einer tätlichen Auseinandersetzung mehrerer Personen beteiligt hat, die letztlich den Tod einer Person sowie die Verletzung weiterer Personen zur Folge hatte. Hierbei ist zu beachten, dass der Beschwerdeführer selbst schwer verletzt wurde und grundsätzlich nach eigenen Angaben schlichtend in den Raufhandel eingreifen wollte. Das erkennende Strafgericht konnte jedoch keine Notwehrhandlung oder ein sonstiges rechtfertigendes Verhalten auf Seiten des Beschwerdeführers feststellen.
So hat der VwGH wiederholt festgehalten, dass ein großes öffentliches Interesse an der Verhinderung von Gewalt- und Eigentumsdelikten (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0474) bestehe.
Im konkreten Fall ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Strafgericht von der Verhängung einer unbedingten Freiheitsstrafe abgesehen hat, dem Beschwerdeführer keine kausale Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit dem Tod eines Teilnehmers und der schweren Verletzung von weiteren Teilnehmern des Raufhandels nachgewiesen werden konnte. Zudem handelt es sich beim Beschwerdeführer um seine erste Straftat und hat er sich seither nichts mehr zu Schulden kommen lassen.
Das Verwaltungsgericht verkennt keinesfalls, dass das vom Beschwerdeführer gezeigte Verhalten den Schluss auf eine Gefährdung öffentlicher Interessen zulässt. Selbst unter Berücksichtigung des rechtsverletzenden Verhaltens des Beschwerdeführers und des diesem innewohnenden Unrechts ist nach Abwägung der sich widerstreitenden Interessen im gegenständlichen Fall, insbesondere unter Berücksichtigung des langjährigen rechtmäßigen Aufenthaltes, der vom Beschwerdeführer gesetzten Integrationsschritte und der kernfamiliären Ankerpunkte in Österreich, aber insbesondere auch des Kindeswohls ein Überwiegen der privaten Interessen des Beschwerdeführers festzustellen (siehe dazu auch VwGH 16.07.2020, Ra 2020/21/0091).
Die Anordnung einer Rückkehrentscheidung zöge sohin eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers nach Art. 8 EMRK nach sich und erweist sich eine solche sohin iSd. § 9 BFA-VG als unzulässig.
Demzufolge war der Beschwerde stattgebend die Rückkehrentscheidung aufzuheben.
Aufgrund erfolgter Aufhebung der von der belangten Behörde ausgesprochenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme fällt auch die Voraussetzung für einen Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung (siehe § 52 Abs. 9 FPG), die Festsetzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise (§ 55 FPG) und die Verhängung eines Einreiseverbotes (§ 53 FPG) weg, weshalb die entsprechenden Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides – im Zuge der Stattgabe der Beschwerde – ebenfalls aufzuheben waren.
Der mit „Einreiseverbot“ betitelte § 53 FPG lautet:
„§ 53. (1) Mit einer Rückkehrentscheidung kann vom Bundesamt mit Bescheid ein Einreiseverbot erlassen werden. Das Einreiseverbot ist die Anweisung an den Drittstaatsangehörigen, für einen festgelegten Zeitraum nicht in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort nicht aufzuhalten.
(Anm.: Abs. 1a aufgehoben durch BGBl. I Nr. 68/2013)
(2) Ein Einreiseverbot gemäß Abs. 1 ist, vorbehaltlich des Abs. 3, für die Dauer von höchstens fünf Jahren zu erlassen. Bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbots hat das Bundesamt das bisherige Verhalten des Drittstaatsangehörigen mit einzubeziehen und zu berücksichtigen, inwieweit der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Drittstaatsangehörige
1. wegen einer Verwaltungsübertretung gemäß § 20 Abs. 2 der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO), BGBl. Nr. 159, iVm § 26 Abs. 3 des Führerscheingesetzes (FSG), BGBl. I Nr. 120/1997, gemäß § 99 Abs. 1, 1 a, 1 b oder 2 StVO, gemäß § 37 Abs. 3 oder 4 FSG, gemäß § 366 Abs. 1 Z 1 der Gewerbeordnung 1994 (GewO),