TE Bvwg Beschluss 2021/7/29 W175 2239663-1

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Veröffentlicht am 29.07.2021
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Entscheidungsdatum

29.07.2021

Norm

AsylG 2005 §5
BFA-VG §21 Abs3 Satz2
B-VG Art133 Abs4
FPG §61

Spruch


W175 2239664-1/7E

W175 2239663-1/2E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Neumann über die Beschwerde 1.) der XXXX , und 2.) des XXXX , Staatsangehörige von Myanmar, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.02.2021, Zahlen: 1.) 1265829800-200548866 und 2.) 1273494501-210073929:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Begründung:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) ist die Mutter des in Österreich geborenen Zweitbeschwerdeführers (BF2). Die BF1 stellte am 01.07.2020 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF (AsylG).

Ein Eurodac-Abgleich der Fingerabdruckdaten der BF1 ergab keinen Treffer, eine Anfrage im VIS ergab, dass der BF1 von Italien am 02.02.2020 ein Schengenvisum der Kategorie C, gültig von 10.02.2020 bis 25.03.2020 erteilt worden war.

I.2. Im Rahmen der Erstbefragung am 01.07.2020 gab die BF1 in Bengali befragt im Wesentlichen an, dass sie volljährig und Staatsangehörige vom Myanmar sei, Identitätsdokumente habe sie keine.

Sie habe Myanmar vor vier Monaten schlepperunterstützt verlassen und sei über ihr unbekannte Länder bis nach Österreich gebracht worden, wo sie den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Myanmar habe sie verlassen, da sie vom Sohn der Familie, für die sie gearbeitet habe, wiederholt missbraucht und misshandelt worden sei.

I.3. Aufgrund des VIS-Treffers richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) an Italien am 07.07.2020 ein auf Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), gestütztes Aufnahmeersuchen betreffend die BF1, dem die italienischen Behörden stillschweigend zustimmten.

I.4. Für den am XXXX in Österreich geborenen BF2 wurde am 19.01.2021 ebenfalls ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

I.5. Anlässlich der Einvernahme zur Wahrung des Parteiengehörs vor dem BFA am 01.02.2021 gab die BF1 im Wesentlichen Folgendes an:

Der Vater des BF2, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, und dessen Familie würden ebenfalls in Österreich leben. Sie habe ihn nach Ihrer Einreise nach Österreich am 07.03.2020 kennengelernt und sie würden seitdem zusammenleben. Die Familie des Mannes würde sie ebenfalls unterstützen.

I.6. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit den beschwerdegegenständlichen Bescheiden vom 02.02.2021, zugestellt am 03.02.2021, die Anträge auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück und sprach aus, dass Italien für die Prüfung der Anträge gemäß Art. 12 Abs. 4 der Dublin III-VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Die Außerlandesbringung der BF wurde gemäß § 61 Abs. 1 FPG angeordnet und festgestellt, dass demzufolge die Abschiebung der BF nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Beweiswürdigend wurde im Bescheid hervorgehoben, dass die Identität der BF lediglich für das gegenständliche Verfahren ausreichend feststehe. Schwere lebensbedrohliche Krankheiten seien von den BF weder behauptet noch belegt worden. Eine Abhängigkeit oder ein Familienleben zu den angeführten in Österreich aufhältigen Personen bestehe nicht.

In einer Gesamtbetrachtung habe sich kein Anlass für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ergeben.

Zudem hätten sich keine Hinweise ergeben, dass durch die Außerlandesbringung unzulässigerweise in das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens eingegriffen werden würde.

Es gäbe auch keine Gründe, die Durchführung der Entscheidung gemäß § 61 Abs. 3 FPG aufzuschieben.

I.7. Mit 03.02.2021 stellte das BFA den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG einen Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) amtswegig zur Seite.

I.8. Mit Schreiben vom 15.02.2021 brachten die BF fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein, mit dem die Bescheide gesamtinhaltlich wegen Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten wurden.

Ausgeführt wurde, dass die BF1 an Schlafstörungen und Angstzuständen leide und psychisch labil sei. Sie sei auf die Unterstützung der in Österreich lebenden Familie des Kindesvaters - mit dem sie zwischenzeitlich traditionell nach islamischem Recht verheiratet sei - angewiesen und lebe mit diesen zusammen.

I.9. Die Beschwerdevorlage an die zuständige Gerichtsabteilung des BVwG iSd § 16 Abs. 4 BFA-VG erfolgte am 18.02.2021.

I.10. Aufgrund eines Schreibens vom 18.03.2021, wonach die BF1 im Rahmen eines psychologischen Therapiegespräches Gedanken geäußert habe, den BF2 „weglegen zu wollen“, wurde durch das BVwG eine psychologische Begutachtung der BF1 veranlasst.

Die Befundaufnahme erfolgte am 10.06.2021. Dem Gutachten vom 13.07.2021 ist zu entnehmen, dass die BF1 im Gespräch angegeben habe, dass es ihr vor allem nachts körperlich sehr schlecht gehe. Sie schreie und wolle das Kind schlagen und aus dem Bett werfen. Sie wolle sich umbringen. Andererseits habe sie angegeben, leben und dem Kind Liebe geben zu wollen.

Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass bei der BF1 eine Anpassungsstörung und eine längere depressive Reaktion, F 43.21, vorliege. Dies sowohl aufgrund der unklaren Lebenssituation und als auch aufgrund eines anzunehmenden Entwicklungstraumas aufgrund der frühen Trennung von der eigenen Familie und der Arbeit in einem fremden Haushalt. Es dürfte bei der BF1 zu einer anhaltenden sozialen Entwicklungsstörung und fehlender Ausbildung von Selbstwertgefühl gekommen sein. Für eine PTSD gebe er derzeit keine ausreichenden Anhaltspunkte.

Weiters leide die BF1 unter einer mittelgradigen Depression, F 32.1. Die Störung umfasse abgesehen von mangelndem Selbstwertgefühl auch fehlende Selbstfürsorge, wenig praktische Kompetenz und Fähigkeiten zur ausreichenden Planung ihrer Lebensumstände, welche sich auf die Versorgung des BF2 auswirken dürfte. Sie stille das Kind zwar, es sei jedoch eine deutliche Überforderung feststellbar. Ohne Hilfe sei eine Kindeswohlgefährdung nicht auszuschließen, was sich in den auftretenden aggressiven Zwangsgedanken - trotz oder gerade wegen der Liebe zu ihrem Kind - äußere.

Des Weiteren könne an eine abhängige Persönlichkeitsstörung, F 60.7, gedacht werden, wodurch die BF1 Defizite in ihrer psychischen Gesundheit aufweise. Dies äußere sich durch die Unterordnung eigener Bedürfnisse, eine Angst des Verlassenwerdens und eingeschränkte Fähigkeiten, Alltagsentscheidungen zu treffen.

Zum Zeitpunkt der Befundaufnahme habe keine Suizidalität bestanden. Eine Behandlung sei im Sinne psychosozialer und psychotherapeutischer Intervention zu verstehen. Dazu gehöre ein stabiles Umfeld - in erster Linie der Kindesvater - Hilfe im praktischen Tun und Unterstützung bei der Kindesversorgung. Eine Überstellung sei daher nur gemeinsam mit dem Kindesvater zu empfehlen. Eine Verschlechterung bei Überstellung sie möglich, vermutlich nicht lebensbedrohlich für die BF1. Es sei jedoch in erster Linie an das Kindeswohl zu denken, da Affekthandlungen nicht auszuschließen seien.

Die Bewältigung des täglichen Lebens sei unter guten sozialen Bedingungen und Hilfestellung durch das System gegeben, falle diese weg, könne die BF1 durchaus an die Grenzen ihrer Bewältigungsmechanismen kommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch Einsicht in:

- die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschrift der Erstbefragung der BF1 vom 01.07.2020 und der Befragung vor dem BFA vom 01.02.2021 sowie die Beschwerde vom 15.02.2021

- die Unterlagen des Konsultationsverfahrens mit Italien

- das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation im angefochtenen Bescheid

- das Gutachten vom 13.07.2021.

II.2. Feststellungen:

II.2.1. Die volljährige BF1 ist die Mutter des in Österreich geborenen minderjährigen BF2. Die BF sind Staatsangehörige von Myanmar. Die Identität der BF steht lediglich mit für das gegenständliche Verfahren ausreichender Sicherheit fest.

II.2.2. Der BF1 wurde von Italien am 02.02.2020 ein Schengenvisum der Kategorie C, gültig von 10.02.0202 bis 25.03.2020 erteilt.

II.2.3. Die BF1 stellte am 01.07.2020 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz, für den BF2 wurde am 19.01.2021 ebenfalls ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Die BF leben mit einem Staatsangehörigen von Bangladesch und dessen Familie im gemeinsamen Haushalt. Die BF1 hat ihn als Vater des Kindes angegeben, sie sind mittlerweile nach islamischem Recht verheiratet. Ein Antrag des angeführten Kindesvaters auf internationalen Schutz wurde zwischenzeitlich rechtskräftig negativ entschieden.

II.2.3. Italien stimmte nach vorangegangenem Konsultationsverfahren einem beide BF betreffenden Aufnahmeersuchen der österreichischen Behörden gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO stillschweigend zu.

II.2.4. Für die BF1 ist die Bewältigung des täglichen Lebens nur unter guten sozialen Bedingungen und Hilfestellung durch das System gegeben. Des Weiteren benötigt sie ein stabiles Umfeld - in erster Linie der Kindesvater - Hilfe im praktischen Tun und Unterstützung bei der Kindesversorgung. Eine Trennung von ihrem derzeitigen Umfeld und eine alleinige Überstellung der BF ist im Sinne des Kindeswohles nicht zu verantworten, da laut vorliegendem Gutachten unter diesen Bedingungen eine Affekthandlung der BF1 nicht ausgeschlossen werden kann und somit insbesondere beim BF2 auch eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK nicht mit ausreichender Sicherheit auszuschließen ist.

II.3. Beweiswürdigung:

II.3.1. Die Feststellungen zum Reiseweg der BF1 ergeben sich aus den Angaben der BF1.

Die Feststellungen zum Verfahrensstand mit Italien ergeben sich aus dem VIS-Treffer und der stillschweigenden Zustimmung Italiens.

Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und zum Gesundheitszustand der BF ergeben sich aus den Angaben der BF1 und aus dem Gutachten vom 13.07.2021.

Diesem ist zu entnehmen, dass die BF1 unter einer Anpassungsstörung, einer längeren depressiven Reaktion, F 43.21, einer mittelgradigen Depression, F 32.1, und einer abhängigen Persönlichkeitsstörung, F 60.7, leidet. Für eine PTSD gibt er derzeit keine ausreichenden Anhaltspunkte.

Es dürfte bei der BF1 laut Gutachten zu einer anhaltenden sozialen Entwicklungsstörung und fehlender Ausbildung von Selbstwertgefühl gekommen sein. Die Störung umfasst auch fehlende Selbstfürsorge, wenig praktische Kompetenz und Fähigkeiten zur ausreichenden Planung ihrer Lebensumstände. Dies führt zu einer deutlichen Überforderung der BF1 bei der Pflege und Versorgung des BF2, die nur durch fremde Hilfe - insbesondere des angegebenen Kindesvaters - gewährleistet ist. Ohne Hilfe sei eine Kindeswohlgefährdung laut Gutachten nicht auszuschließen, was sich in den auftretenden aggressiven Zwangsgedanken - trotz oder gerade wegen der Liebe zu ihrem Kind - äußere.

Eine Trennung vom angegebenen Kindesvater und ein Herauslösen der BF1 aus dem derzeitigen Unterstützungsgefüge könnte zu Affekthandlungen führen, die das Kindeswohl massiv beeinflussen könnten. Eine Außerlandesbringung der BF sollte laut Gutachten zum derzeitigen Zeitpunkt daher nur gemeinsam mit dem angegebenen Kindesvater erfolgen. Selbst eine behördliche Unterstützung in Italien erscheint daher nicht ausreichend, insbesondere beim BF2 eine drohende Verletzung von Art. 3 EMRK mit ausreichender Sicherheit hintanzuhalten.

Zu A) Stattgebung der Beschwerde:

II.3.2. Mit 1.1.2014 sind das BVwG (BVwGG) sowie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – Verfahrensgesetz (BFA-VG) in Kraft getreten.

Das Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist im vorliegenden Fall in der Fassung nach dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 24/2016 anzuwenden. Die maßgeblichen Bestimmungen lauten:

„§ 5 (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-VO zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.

(2) Gemäß Abs. 1 ist auch vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin-VO dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.

(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.“

§ 21 Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) idF BGBl. I Nr. 24/2016 lautet:
„§ 21 (3) Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.“

II.3.4. Zur Frage der Unzuständigkeit Österreichs für die Durchführung des gegenständlichen Verfahrens pflichtet das BVwG der belangten Behörde bei, dass sich aus dem festgestellten Sachverhalt grundsätzlich die Zuständigkeit Italiens ergibt, das der Aufnahme der BF gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO stillschweigend zustimmte, und somit die Indizien für ausreichend ansah, seine Zuständigkeit zu begründen.

Die BF sind unbestritten und nach eigenen Angaben mit einem italienischen Visum in das Gebiet der Mitgliedstaaten eingereist, sodass keine Bedenken bestehen, dass das Zuständigkeitskriterium des Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 604/2013, bei der Antragstellung verwirklicht war. Hinweise auf ein zwischenzeitiges Erlöschen bestehen nicht.

Italien wäre sohin auf Grundlage der genannten Bestimmungen dazu verpflichtet, die BF aufzunehmen und das Asylbegehren zu prüfen. Das Konsultationsverfahren mit den italienischen Behörden erfolgte mängelfrei und Italien stimmte einer Aufnahme ausdrücklich zu.

Das BFA hat von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK oder der GRC zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre:

Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zahl: 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zahl: 98/18/0317; vgl. auch VwGH 16.07.2003, Zahl: 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zahl: 2006/01/0949).

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl. VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs. 1 lit e Dublin II-VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zahl: 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zahl: 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zahl: 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs.

Mit der Frage, ab welchem Ausmaß von festgestellten Mängeln im Asylsystem des zuständigen Mitgliedstaates der Union ein Asylwerber von einem anderen Aufenthaltsstaat nicht mehr auf die Inanspruchnahme des Rechtsschutzes durch die innerstaatlichen Gerichte im zuständigen Mitgliedstaat und letztlich den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Wahrnehmung seiner Rechte verwiesen werden darf, sondern vielmehr vom Aufenthaltsstaat zwingend das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (nunmehr Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO) auszuüben ist, hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union in seinem Urteil vom 21.12.2011, C-411/10 und C-493/10, N.S./Vereinigtes Königreich, (zu vergleichbaren Bestimmungen der Dublin II-VO) befasst und, ausgehend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in der Entscheidung vom 02.12.2008, 32733/08, K.R.S./Vereinigtes Königreich, sowie deren Präzisierung mit der Entscheidung des EGMR vom 21.01.2011, 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland, ausdrücklich ausgesprochen, dass nicht jede Verletzung eines Grundrechtes durch den zuständigen Mitgliedstaat, sondern erst systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes durch den Aufenthaltsstaat gebieten (Rn. 86). An dieser Stelle ist auch auf das damit in Einklang stehende Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 14.11.2013 in der Rechtssache C-4/11, Bundesrepublik Deutschland/Kaveh Puid zu verweisen (Rn. 36, 37).

Somit ist unionsrechtlich zu prüfen, ob im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber vorherrschen, und – soweit damit noch notwendig und vereinbar - aus menschenrechtlichen Erwägungen, ob die BF im Falle der Zurückweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz und ihrer Außerlandesbringung nach Italien gemäß §§ 5 AsylG und 61 FPG - unter Bezugnahme auf ihre persönliche Situation - in ihren Rechten gemäß Art. 3 und/oder 8 EMRK verletzt werden würden, wobei der Maßstab des "real risk" anzulegen ist, wie ihn EGMR und VfGH auslegen.

Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Laut Angaben der BF1 leben die BF im Haushalt des angegebenen Kindesvaters und dessen Familie. Selbst wenn der gemeinsame Haushalt erst seit kurzem besteht, erscheint die Bindung - bedingt durch die psychische Erkrankung der BF1 - von besonderer Bedeutung. Auch ist der BF2 in hohem Maß von einer Betretung durch dritte Personen insofern abhängig, als diese der BF1 ausreichende Unterstützung bei den täglichen Aufgaben gewähren. Eine Trennung insbesondere vom Kindesvater durch Verbringung der BF nach Italien stellt somit einen nicht gerechtfertigten Eingriff in das Privatleben der BF dar.

Des Weiteren würde eine Trennung der BF1 vom Kindesvater wie ausgeführt auch eine Gefährdung der Rechte gemäß Art. 3 EMRK des BF2 bedingen. Selbst unter guten Versorgungsbedingungen und behördlicher Betreuung im Zielland ist laut Gutachten eine Affekthandlung der BF1 nicht auszuschließen, was - ebenso wie eine möglicherweise in Folge notwendige Trennung des BF2 von der BF1 - nicht im Sinne des Kindeswohles gelegen sein kann.

Da bei einer Außerlandesbringung der BF ohne familiären Rückhalt zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine reale Gefährdung ihrer insbesondere durch Art. 3 EMRK beziehungsweise Art. 4 GRC gewährleisteten Rechte nicht mit erforderlicher Sicherheit ausgeschlossen werden kann, war spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im Übrigen trifft § 21 Abs. 3 BFA-VG eine klare, im Sinne einer eindeutigen, Regelung (vgl. OGH 22.03.1992, 5Ob105/90), weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht gesundheitliche Beeinträchtigung individuelle Verhältnisse Kassation Kindeswohl mangelnde Sachverhaltsfeststellung Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W175.2239663.1.00

Im RIS seit

08.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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