RS Vfgh 2021/9/30 E3445/2021

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Veröffentlicht am 30.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art2, Art3
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Leben und im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden durch die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten an einen Staatsangehörigen von Afghanistan; Verkennung der spätestens seit 20.07.2021 erkennbaren extremen Volatilität der Sicherheitslage begründet eine reale Gefahr der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durch die später ergangene Entscheidung

Rechtssatz

Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) hat bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten eine Art2 und Art3 EMRK zuwiderlaufende Anwendung des §8 Abs1 AsylG 2005 vorgenommen:

Ausgehend vom Länderinformationsblatt vom 11.06.2021 geht das BVwG im angefochtenen Erkenntnis vom 29.07.2021 davon aus, für den Beschwerdeführer sei in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine (Neu-)Ansiedlungsmöglichkeit gegeben, weil das Ausmaß an willkürlicher Gewalt nicht ein derart hohes Niveau erreiche, dass für Zivilisten eine Gefahr für erhebliche Eingriffe in die psychische oder physische Unversehrtheit bestehe. Das BVwG verkenne nicht, dass sich die in der Berichtslage sowie in der medialen Berichterstattung abgebildete Sicherheitslage im Falle einer Einnahme Kabuls und der sonst als innerstaatliche Fluchtalternativen in Betracht kommenden Städte durch die Taliban künftig landesweit (entscheidungs-)erheblich verschlechtern könnte. Die - im Entscheidungszeitpunkt allein maßgebliche - Sicherheitslage stehe jedoch einer Ansiedelung des Beschwerdeführers in den Städten Mazar-e Sharif und Herat nicht entgegen. Hinsichtlich allfälliger künftiger Änderungen der Sicherheitslage sei darauf hinzuweisen, dass die Vollzugsbehörde verpflichtet sei, bei der Durchführung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme Art3 EMRK insbesondere auch im Hinblick auf die aktuelle Lage im Herkunftsstaat zu beachten.

Im Länderinformationsblatt vom 11.06.2021 wird bereits nicht nur von einer vielfach befürchteten massiven Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle des Abzuges internationaler Truppen berichtet, sondern auch darüber, dass sich die Sicherheitslage nach dem erfolgten Truppenabzug tatsächlich stetig verschlechtert habe. In diesem Sinne halten die genannten Länderinformationen ausdrücklich fest, dass auf Grund des US-Truppenabzuges der Beginn "eine[r] neue[n] Phase des Konflikts und des Blutvergießens", der "Zusammenbruch der afghanischen Regierung" und die "Übernahme durch die Taliban" zu befürchten sei, und verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass die "Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, [...] in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen [hat], den Vormarsch der Taliban aufzuhalten". Die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen hätten seit dem Abzug der internationalen Truppen im April stark zugenommen, die Taliban "den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt" und "seit Beginn des Truppenabzugs am 01.05.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert". Zudem gebe es einen "Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet" würden.

In der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19.07.2021 wird zudem darüber berichtet, dass "die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan" kontrollierten. Zudem seien "die Distriktzentren nur mehr in vier Provinzen vollständig in Regierungshand". Weiters seien im Juli "wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh durch die Taliban" erobert worden. Darüber hinaus komme es weiterhin zu "gezielten Angriffen auf Zivilisten".

Der VfGH ist der Auffassung, dass auf Grundlage der länderberichtlichen Informationen vom 11.06.2021, insbesondere aber auf Grund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19.07.2021 (und der zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab 20.07.2021, dh auch zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des BVwG, von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen war, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, die den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK aussetzt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3445.2021

Zuletzt aktualisiert am

08.10.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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