Index
10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §55Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision 1. der A A (protokolliert zu hg. Ra 2020/22/0193), 2. des R A (protokolliert zu hg. Ra 2020/22/0194), 3. der R A (protokolliert zu hg. Ra 2020/22/0195), und 4. des T A (protokolliert zu hg. Ra 2020/22/0196), alle vertreten durch Mag. Michael-Thomas Reichenvater, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Herrengasse 13/II, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 8. Mai 2020, Zlen. 1. W212 2142613-2/8E, 2. W212 2141915-2/8E, 3. W212 2142614-2/4E und 4. W212 2142611-2/8E, betreffend Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 sowie Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation und mit dem Zweitrevisionswerber, einem ukrainischen Staatsangehörigen, verheiratet. Sie sind die Eltern der minderjährigen dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien, die ebenfalls Staatsangehörige der Ukraine sind. Alle vier revisionswerbenden Parteien stellten am 27. Juni 2014 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Mit rechtskräftigem Erkenntnis vom 9. Oktober 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht die Anträge der revisionswerbenden Parteien zur Gänze ab, erteilte ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung zulässig sei.
3 Am 26. April 2018 stellten die revisionswerbenden Parteien die gegenständlichen Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005.
4 Mit Bescheiden jeweils vom 29. August 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) diese Anträge gemäß § 55 AsylG 2005 ab, erließ gegen die revisionswerbenden Parteien gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung nach § 46 FPG in die Russische Föderation (Erstrevisionswerberin) bzw. in die Ukraine (zweit- bis viertrevisionswerbende Parteien) zulässig sei, und legte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen fest.
5 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 8. Mai 2020 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung (mit einer für das vorliegende Revisionsverfahren nicht relevanten Maßgabe) ab. Die ordentliche Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
6 Das Verwaltungsgericht stellte im Wesentlichen fest, die revisionswerbenden Parteien seien nach Abschluss ihrer Asylverfahren ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht nachgekommen. Während der Verfahren über ihre Anträge auf internationalen Schutz hätten sie über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht verfügt, seit dem 9. Oktober 2017 hielten sie sich illegal in Österreich auf. Seitdem hätten die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien eine Deutschprüfung auf dem Niveau A2 abgelegt und ehrenamtlich bei der Caritas bzw. für die Stadt Graz gearbeitet. Beide seien nicht erwerbstätig und bezögen Grundversorgung, verfügten aber jeweils über eine Einstellungszusage und über soziale Kontakte in Österreich. Die neunjährige Drittrevisionswerberin und der siebenjährige Viertrevisionswerber besuchten die Volksschule, nähmen an sportlichen Kursen und Veranstaltungen teil und seien ihrem Alter entsprechend sozial integriert. Darüber hinausgehende außergewöhnliche integrative Bemühungen der revisionswerbenden Parteien seien nicht ersichtlich.
7 In seiner rechtlichen Beurteilung hielt das Verwaltungsgericht den Integrationsschritten der revisionswerbenden Parteien das beharrliche unrechtmäßige Verbleiben im Bundesgebiet entgegen, das eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Die Deutschkenntnisse sowie die soziale Integration hätten bereits im Zeitpunkt der im Rahmen des Asylverfahrens erlassenen Rückkehrentscheidung bestanden. An einer nachhaltigen beruflichen Integration fehle es weiterhin. Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien würden zwar mittlerweile über Einstellungszusagen verfügen, denen aber keine wesentliche Bedeutung zukomme. Auch angesichts der Aufenthaltsdauer von knapp sechs Jahren sei nicht auf eine außergewöhnliche Integration zu schließen. Daran änderten auch die vorgelegten Unterstützungserklärungen nichts. Die erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien hätten den größten Teil ihres Lebens in ihren Herkunftsländern verbracht und mit der Mutter und Großmutter des Zweitrevisionswerbers noch familiäre Anknüpfungspunkte in der Ukraine. Die Rückkehrentscheidungen gegen die dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien widersprächen auch nicht dem Kindeswohl, zumal sich beide Kinder in einem anpassungsfähigen Alter befänden. Im Ergebnis sei die Erteilung von Aufenthaltstiteln zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens der revisionswerbenden Parteien daher nicht geboten.
8 Dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien, eine Abschiebung der Erstrevisionswerberin in die Russische Föderation würde zu einer Trennung der Familie führen, hielt das Verwaltungsgericht entgegen, dass die Zulässigkeit der Abschiebung bereits im rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren festgestellt worden sei. Nach der Begründung des Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Oktober 2017 stehe es den revisionswerbenden Parteien frei, eine Trennung der Familie durch eine entsprechende Antragstellung bei den ukrainischen Fremdenbehörden hintanzuhalten, zumal den revisionswerbenden Parteien in der Vergangenheit trotz unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten ein gemeinsames Familienleben in der Ukraine möglich gewesen sei; es sei nicht zu erkennen, weshalb eine neuerliche gemeinsame Aufenthaltsbegründung in der Ukraine nicht möglich sein sollte.
9 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe unterbleiben können, weil in den Beschwerden kein relevantes neues bzw. ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen erstattet worden sei, welches dazu geeignet gewesen wäre, ein anderes Verfahrensergebnis herbeizuführen. Der maßgebliche Sachverhalt sei daher als geklärt anzusehen.
10 Gegen dieses Erkenntnis erhoben die revisionswerbenden Parteien zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 14. Juli 2020, E 2085-2088/2020, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
11 In der Folge erhoben die revisionswerbenden Parteien die vorliegende außerordentliche Revision.
12 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
13 Die revisionswerbenden Parteien bringen in der Zulässigkeitsbegründung vor, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht von der in den Beschwerden ausdrücklich beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung und der persönlichen Einvernahme der revisionswerbenden Parteien abgesehen. Die Revision erweist sich im Hinblick darauf als zulässig und auch berechtigt.
14 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht (vgl. zu den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG grundsätzlich VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018).
15 Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA-VG, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0195, Rn. 9, mwN). Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0267, Rn. 7, mwN).
16 Vorliegend haben die revisionswerbenden Parteien in ihren Beschwerden ausdrücklich auf die befürchtete Trennung der Familienangehörigen im Fall der Rückkehr in ihre Herkunftsstaaten aufgrund ihrer unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten hingewiesen. Das Verwaltungsgericht hat diesbezüglich - wenn auch disloziert im Rahmen der rechtlichen Beurteilung - Feststellungen zur Frage der Möglichkeit der Aufrechterhaltung des Familienverbandes in der Ukraine getroffen, die in den Bescheiden der belangten Behörde noch keinen Niederschlag gefunden hatten. Das Verwaltungsgericht hätte daher nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen und somit nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen (vgl. zur Unzulässigkeit einer ergänzenden Beweiswürdigung ohne Durchführung einer Verhandlung etwa VwGH 8.4.2021, Ra 2020/20/0232 und 0233, Rn. 20, mwN).
17 Darüber hinaus ist auf Folgendes hinzuweisen: Die revisionswerbenden Parteien halten sich (zwar erst) seit rund sechs Jahren im Bundesgebiet auf, können jedoch auf nicht unerhebliche (vom Verwaltungsgericht dem Grunde nach auch anerkannte) integrationsbegründende Umstände verweisen und sie haben im Beschwerdeverfahren umfangreiche Konvolute bestehend aus Unterstützungserklärungen und weiteren Nachweisen ihrer fortgeschrittenen Integration vorgelegt. Hinsichtlich der neunjährigen Drittrevisionswerberin und des siebenjährigen Viertrevisionswerbers hat das Verwaltungsgericht zwar dem Grunde nach zutreffend die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit angenommen und berücksichtigt (vgl. etwa zur Anpassungsfähigkeit von Kindern im Alter von sieben und elf Jahren unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte VwGH 10.4.2014, 2013/22/0211, mwN). Allerdings handelt es sich dabei nur um einen von mehreren Aspekten, der bei der erforderlichen Berücksichtigung des Kindeswohls im Rahmen der unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls vorzunehmenden Interessenabwägung in Betracht zu ziehen ist (vgl. zu weiteren maßgeblichen Aspekten etwa VwGH 21.6.2021, Ra 2021/14/0096 bis 0100, Rn. 15, mwN). Eine Auseinandersetzung des Verwaltungsgerichtes mit diesen Aspekten (wie etwa mit dem Umstand, dass die neunjährige Drittrevisionswerberin und der siebenjährige Viertrevisionswerber den überwiegenden Teil ihrer Sozialisation in Österreich erfahren haben) sowie mit den im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebrachten integrationsbegründenden Schritten der dritt- und viertrevisionswerbenden Parteien unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohls lässt sich dem angefochtenen Erkenntnis nicht entnehmen. Vor diesem Hintergrund ist für den Verwaltungsgerichtshof aber nicht zu erkennen, dass hier ein eindeutiger Fall im Sinn der zitierten hg. Rechtsprechung vorläge, in dem auch bei Verschaffung eines persönlichen Eindrucks kein günstigeres Ergebnis zu erwarten wäre.
18 Im Hinblick darauf war das angefochtene Erkenntnis zur Gänze (die weiteren Aussprüche betreffend die Abschiebung und die Frist für die freiwillige Ausreise können allein keinen Bestand haben) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
19 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf den §§ 47 ff, insbesondere auf § 53 Abs. 1 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 9. September 2021
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220193.L00Im RIS seit
08.10.2021Zuletzt aktualisiert am
04.11.2021