Entscheidungsdatum
27.05.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L514 2214331-1/30E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. KLOIBMÜLLER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.01.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 23.02.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, schiitischen Glaubens und der Volksgruppe der Araber angehörig, reiste gemeinsam mit seiner Gattin illegal in das Bundesgebiet ein, wo sie jeweils am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz stellten.
Am 30.01.2016 wurde der Beschwerdeführer durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Im Rahmen der Erstbefragung brachte er vor, dass seine Eltern, drei Brüder sowie fünf Schwestern noch im Irak leben würden. In Österreich würden neben seiner Gattin, noch sein Cousin sowie sein Bruder leben. Er habe den Irak am XXXX legal mit dem Flugzeug in Richtung Türkei verlassen und sei in weiterer Folge über Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich weitergereist.
Als Grund für die Ausreise führte der Beschwerdeführer an, dass die Eltern seiner Gattin ihre Hochzeit nicht akzeptiert hätten, weswegen sie beschlossen hätten, aus dem Irak zu flüchten. Er habe sein Auto verkauft und dann seine Gattin geheiratet. Sie hätten einen Reisepass besorgt und am selben Tag ein Flugzeugticket gebucht. Im Falle einer Rückkehr des Beschwerdeführers in den Irak würden ihn seine Schwiegereltern sicherlich umbringen. Bei ihnen sei dies eine große Schande. In der Türkei habe er erfahren, dass sie bereits verfolgt worden seien. Zudem würde er bei seiner Rückkehr sofort verhaftet werden, wenn ihn seine Schwiegereltern angezeigt hätten.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er sechs Jahre lang die Grundschule sowie drei Jahre lang die Hauptschule besucht und im Irak den Beruf eines Arbeiters ausgeübt habe. Der Beschwerdeführer brachte einen irakischen Reisepass XXXX , ausgestellt am XXXX und gültig bis XXXX , sowie Registrierungsbestätigungen von Slowenien und Mazedonien in Vorlage.
Am XXXX wurde der Sohn des Beschwerdeführers namens XXXX im Bundesgebiet geboren. Für diesen wurde am XXXX ein Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren gestellt. Am XXXX folgte ein weiterer Sohn des Beschwerdeführers namens XXXX . Auch für diesen wurde am XXXX ein Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren gestellt.
2. Am 16.03.2018 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) eine E-Mail ein, wonach die Fluchtgeschichte des Beschwerdeführers und seiner Gattin erfunden sei und diese nur für eine bessere Lebensqualität nach Österreich gekommen seien. Die Ehe der beiden sei tatsächlich von ihren Familien arrangiert worden und hätten beide auch noch täglich Kontakt zu ihren Familien. Der Verfasser der E-Mail bat abschließend darum, anonym zu bleiben.
3. Am 07.08.2018 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden BFA) niederschriftlich einvernommen. Der Beschwerdeführer gab eingangs an, er habe bei der Erstbefragung die Wahrheit gesagt, jedoch sei ihm diese nicht rückübersetzt worden, dies habe sein Bruder für ihn gemacht. Nach dem Ende der Erstbefragung habe der Dolmetscher ihm mitgeteilt, dass es zu Ende sei und er habe nicht die Möglichkeit gehabt, alles vorzutragen. Des Weiteren legte der Beschwerdeführer neun Deutschkursbestätigungen, eine Bestätigung der MB-Fremdenbetreuung GmbH, den Reisepass und die Daueraufenthaltskarte EU seines Bruders sowie acht Dokumente aus dem Irak betreffend seine Familie in Kopie vor, wobei letztere Dokumente sich nicht im Akt befinden.
Der Beschwerdeführer führte weiters aus, dass seine Familie vor seiner Geburt in Kuwait gelebt habe und er auch dort geboren worden, seine Familie jedoch wenige Tage nach seiner Geburt aus Kuweit vertrieben worden und in den Irak gezogen sei. Seine Identitätsdokumente würden aus XXXX stammen und er habe die irakische Staatsbürgerschaft. Bis zu seiner Ausreise habe er in XXXX gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Brüdern in einem Eigentumshaus gelebt. Nachdem er sechs Jahre lang die Grundschule und drei Jahre lang die Mittelschule besucht habe, habe er als Fahrer von großen Fahrzeugen wie bspw. LKWs aber auch als Mechaniker gearbeitet. Danach habe er als Techniker für das Erdölministerium gearbeitet und zuletzt als Feuerwehrmann. Im Irak sei es ihm wirtschaftlich sehr gut gegangen. Seiner Familie im Irak gehe es wirtschaftlich ebenfalls gut, jedoch habe er mit dieser seit seiner Ausreise keinen Kontakt mehr. Nachrichten über seine Familie erfahre er über seinen in Österreich aufhältigen Bruder.
Dass er bereits verheiratet sei, sei in der Erstbefragung falsch protokolliert worden. Er sei nicht standesamtlich verheiratet, sondern habe im Jahr 2016 in der Türkei lediglich traditionell geheiratet. Dokumente betreffend die traditionelle Hochzeit gebe es keine. Hier in Österreich hätten sie bereits standesamtlich heiraten wollen, jedoch würden sie dafür ihre Reisepässe benötigen, welche sich momentan beim BFA befinden würden. Am XXXX und am XXXX seien seine beiden Söhne in Österreich geboren worden.
Nach seinen Ausreisegründen befragt führte der Beschwerdeführer aus, dass er sich ungefähr eineinhalb Jahre vor seiner Ausreise in seine nunmehrige Gattin verliebt habe. Er habe zwei oder drei Mal um ihre Hand angehalten, ihre Eltern hätten seinen Antrag jedoch abgelehnt, da er nicht dem selben Stamm angehöre. Sie seien zwar weiterhin in einer Beziehung gewesen, die Eltern des Mädchens hätten diese jedoch mit ihrem Cousin verheiraten wollen. Um nicht gegen ihren Willen heiraten zu müssen, habe seine Gattin vorgeschlagen zu fliehen. Er sei daraufhin zu dem Entschluss gekommen, dass sie nur ins Ausland gehen könnten. Seine Gattin habe jedoch keinen Pass gehabt, weswegen er für sie noch schnell einen solchen ausstellen habe lassen. Sie habe ihm deshalb ihre persönlichen Dokumente über eine Freundin, welche die Dokumente aus dem Haus geschmuggelt habe, zukommen lassen. Normalerweise bedürfe es der Anwesenheit der Person, welche den Reisepass beantrage, und würde die Ausstellung länger dauern. Der Beschwerdeführer habe aber einen Freund aufgesucht und diesen gebeten, ohne Anwesenheit seiner Freundin und möglichst schnell den Reisepass auszustellen. Sein Freund habe zuerst Bedenken geäußert, anschließend aber doch einen Offizier gefragt. Am nächsten Tag sei der Pass fertig gewesen, wofür er 300,- USD zahlen habe müssen. Er sei in weiterer Folge ins Reisebüro gegangen und habe einen Flug in die Türkei für den XXXX gebucht und seiner Gattin gesagt, dass er sie an diesem Tag abholen werde, wenn die Familie noch schlafe. Um 04:00 Uhr in der Früh habe er sie abgeholt und sie seien sodann zum Flughafen gefahren, wo um 08:00 Uhr der Flug in die Türkei gegangen sei. Die Eltern seiner Gattin hätten zuerst nicht gewusst, dass er am Verschwinden ihrer Tochter beteiligt gewesen sei und hätten ihre Tochter bei der Polizei als entführt angezeigt. Das Mädchen habe jedoch in der Türkei mit einer Freundin telefoniert und dieser alles erzählt, weswegen ihre Eltern vom Mitwirken des Beschwerdeführers erfahren hätten. Es sei anschließend eine Strafanzeige gegen ihn erstattet worden; der XXXX Clan sei ebenfalls hinter ihm her. Auch sein Clan würde ihm Probleme machen, der XXXX Clan wolle ihm jedoch den Hals durchschneiden und die Regierung des Iraks würde hinter diesem Clan stehen. Sein Vater wolle wegen des Vorfalls auch nichts mehr vom Beschwerdeführer wissen.
4. Mit gegenständlich in Beschwerde gezogenen Bescheid des BFA vom 10.01.2019, Zl. XXXX , wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.) nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG (Spruchpunkt IV.) wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG (Spruchpunkt V.) festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG (Spruchpunkt VI.) wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass die Identitätsdokumente des Beschwerdeführers einem kriminaltechnischen Untersuchungsverfahren der LPD unterzogen und von dieser als authentisch eingestuft worden seien, weshalb die Identität festgestellt werden konnte. Hinsichtlich des Fluchtvorbringens wurde ausgeführt, dass dieses aus näher dargestellten Gründen nicht plausibel und deswegen nicht glaubhaft sei. Glaubhaft und plausibel sei jedoch, dass er und seine Gattin mit Zustimmung beider Eltern vor der legalen Ausreise aus dem Irak geheiratet hätten. Vor diesem Hintergrund vermochte das BFA keine individuelle asylrelevante Verfolgung zu erkennen. Eine Gefährdung im Falle der Rückkehr in den Heimatstaat könne ebenfalls nicht wahrgenommen werden.
Das BFA hielt auch fest, dass bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen, keine Hinweise gefunden werden konnten, welche den Schluss zulassen würden, dass durch die Rückkehrentscheidung auf unzulässige Weise im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familien- und Privatlebens eingegriffen werden würde.
Mit Verfahrensanordnung vom selben Tag wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtberater amtswegig zu Seite gestellt.
5. Gegen den ordnungsgemäß zugestellten Bescheid erhob der Beschwerdeführer vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, mit Schreiben vom 06.02.2019, fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass der Bescheid im vollen Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung der Verfahrensvorschriften angefochten werde. Die Art und Weise, in welcher die Behörde die Glaubwürdigkeit abgesprochen habe, entspreche nicht den Anforderungen der amtswegigen Ermittlungspflicht. Die belangte Behörde gehe im gegenständlichen Fall, basierend auf der Chronologie der protokollierten Aussagen in der Erstbefragung, fälschlicherweise von einem Widerspruch aus. Die Fluchtgründe des Beschwerdeführers und seiner Gattin seien jedoch während des gesamten Verfahrens gleichgeblieben und hätten sich diese in den getrennt stattgefundenen Einvernahmen gegenseitig im Detail nicht widersprochen. Das BFA habe es zudem verabsäumt, sich mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers ausreichend auseinanderzusetzen, denn es hätten Ermittlungen auch zur Eheschließung in der Türkei unternommen werden müssen. Der Beschwerdeführer sei nicht nur einer Verfolgung von privater Seite ausgesetzt, sondern auch von staatlicher Seite, da gegen ihn eine Anzeige wegen Entführung erstattet worden sei.
6. Mit E-Mail vom 27.05.2019 teilte eine unbekannte Person dem Bundesverwaltungsgericht neuerlich mit, dass der Beschwerdeführer seinen Fluchtgrund erfunden habe und dessen Leben tatsächlich nicht bedroht sei. Ihre Ehe sei in Wahrheit von deren Eltern und Familien organisiert worden.
Es folgte ein mehrfacher Schriftverkehr via E-Mail zwischen dem Bundesverwaltungsgericht und der unbekannten Person, in welchem diese aufgefordert wurde bekannt zu geben, wer sie sei, in welchem Verhältnis sie zum Beschwerdeführer stehe und woher die Informationen stammen würden. Weiters wurde sie aufgefordert Beweismittel zu übersenden, welche die Angaben untermauern würden. Die unbekannte Person gab zusammengefasst jedoch lediglich an, unbedingt anonym bleiben zu wollen, zu wissen, dass der Beschwerdeführer und seine Gattin mit ihren Familien im Irak in Kontakt stehen würden und für ihre Angaben keine Beweise vorlegen zu können.
7. Am 24.02.2020 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Abschlussbericht nach § 207a StGB der Landespolizeidirektion XXXX ein, demnach dem Beschwerdeführer ein Video mit pornografischer Darstellung einer weiblichen unmündigen Minderjährigen via Facebook Messenger zugesendet worden sei.
Die Verständigung von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Beschwerdeführer langte am 22.04.2020 ein.
8. Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage gemäß § 288 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
9. Am 23.02.2021 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Gattin, einem seiner beiden Söhne, seines rechtsfreundlichen Vertreters sowie einem Vertreter der belangten Behörde durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, die der Antragstellung zugrundeliegenden Umstände neuerlich umfassend darzulegen. Weiters wurde ihm die Möglichkeit eingeräumt, innerhalb einer Frist von zwei Wochen eine schriftliche Stellungnahme zu den aktuellen Länderfeststellungen nachzureichen.
Am 09.03.2021 langte die Stellungnahme zu den Länderfeststellungen beim Bundesverwaltungsgericht ein. Mit dieser wurde auch eine Anmeldebestätigung des Beschwerdeführers für einen Deutschkurs auf Niveau A2 vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
1.1. Feststellungen zur Person:
Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Der Beschwerdeführer heißt XXXX , geb. am XXXX in Kuwait und ist Staatsangehöriger des Irak.
Der Beschwerdeführer gehört dem schiitischen Glauben und der Volksgruppe der Araber an. Er stellte am XXXX in Österreich, nach illegaler Einreise, einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer ist in XXXX aufgewachsen. Seine Familie, seine Eltern, seine zwei Brüder und seine vier Schwestern, lebt nach wie vor im Irak, wie auch weitere Verwandte. Eine weitere Schwester verstarb im Jahr 2016 aufgrund einer Krankheit. Ein weiterer Bruder lebt in Österreich und noch ein weiterer lebt in Dänemark. Die Eltern des Beschwerdeführers leben in XXXX in einem eigenen Haus. Seine beiden noch im Irak aufhältigen Brüder wohnen noch bei den Eltern. Der Vater des Beschwerdeführers bezieht eine staatliche Pension. Der eine im Irak lebende Bruder ist in einer staatlichen Behörde tätig, der andere Bruder arbeitet in einer staatlichen Firma und ist dort für Ölrohre zuständig. Die vier Schwestern des Beschwerdeführers sind alle verheiratet und Hausfrauen. Bis zu seiner Ausreise aus dem Irak hat der Beschwerdeführer mit seiner Familie in einem gemeinsamen Haushalt gelebt.
Der Beschwerdeführer hat im Irak sechs Jahre lang die Grundschule, sowie drei Jahre lang die Mittelschule besucht. Er ist nach der Schule verschiedenen Tätigkeiten nachgegangen, so arbeitete er bspw. auf einer Baustelle, als Chauffeur, als Mechaniker, als Kranfahrer, bediente schwere Baumaschinen und Bohrer und hat vor seiner Ausreise auch als Fahrer bei der Feuerwehr gearbeitet.
Der Beschwerdeführer verfügt über einen mittlerweile abgelaufenen irakischen Reisepass, XXXX (ausgestellt am XXXX und gültig bis XXXX ), welchen er im Zuge seiner Erstbefragung vorgelegt hat.
Der Beschwerdeführer besuchte von April bis Mai 2016 einen 24-stündigen Deutschkurs, von 21.04.2016 – 07.07.2016 den Deutschkurs „Elementar 1“, von 01.08.2016 – 29.08.2016 den Deutschkurs „Elementar 2“, von 03.10.2016 – 13.02.2017 den Deutschkurs „Elementar 2/3“ sowie von 02.03.2017 – 03.07.2017 einen Deutschkurs A1.2 im Gesamtausmaß von 58 Einheiten. Ferner hat sich der Beschwerdeführer für den Deutschkurs A2.2 angemeldet, welchen er jedoch nicht besuchte. Der Beschwerdeführer spricht kaum die deutsche Sprache.
Der Beschwerdeführer geht bzw. ging bisher in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach. Er lebt seit seiner Antragstellung auf internationalen Schutz von der österreichischen Grundversorgung und ist in einer Asylwerberunterkunft untergebracht.
In Österreich verfügt der Beschwerdeführer über mehrere Familienangehörige. Ein Bruder namens Mohammed Ali Shekhayer AL RUFAI, geb. 15.09.1984, lebt seit dem Jahr 2003 im Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer besucht seinen Bruder manchmal. Des Weiteren lebt in Wien ein Cousin namens Salman AL-RAFEEA, geb. 11.01.1994. In Dänemark lebt ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu diesen Familienangehörigen besteht nicht.
Darüber hinaus leben in Österreich die Gattin des Beschwerdeführers, XXXX , geb. XXXX , welche gemeinsam mit dem Beschwerdeführer nach Österreich reiste und hier einen Antrag auf internationalen Schutz stellte, sowie die beiden minderjährigen Söhne des Beschwerdeführers, XXXX , geb. XXXX , und XXXX , geb. XXXX .
Nennenswerte soziale Bindungen in Österreich hat der Beschwerdeführer nicht vorgebracht, insbesondere sind diese weder zahlreich noch außergewöhnlich. Er verfügt hier über einen Freundes- und Bekanntenkreis, dem auch österreichische Staatsangehörige angehören. Der Beschwerdeführer verfügt über eine Einstellungszusage der Reinigungsfirma „ XXXX “ in XXXX datiert mit XXXX . Er ist Mitglied im Verein „ XXXX “, wo er ehrenamtlich Bedürftigen oder älteren Menschen bei der Gartenarbeit oder im Haushalt hilft.
Der Beschwerdeführer leidet an keiner chronischen sowie schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankung. Er ist arbeitsfähig.
Mit (rechtskräftigem) Urteil des Landesgerichts XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der falschen Beweisaussage gemäß § 288 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt, wobei die Freiheitsstrafe unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Gattin und den beiden minderjährigen Söhnen im Familienverband. Das Verfahren wird als Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 geführt. Die Beschwerden der Ehegattin und der minderjährigen Söhne gegen die Bescheide des BFA vom 10.01.2019, Zlen. XXXX , XXXX sowie XXXX , wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnissen vom heutigen Tag vollinhaltlich als unbegründet ab.
1.2. Feststellungen zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates:
Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak einer aktuellen, unmittelbaren persönlichen und konkreten Verfolgung, Bedrohung oder sonstigen Gefährdung ausgesetzt war oder im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.
Das Vorbringen im Irak einer Verfolgung durch den Familienstamm seiner Gattin namens XXXX ausgesetzt zu sein, welcher den Beschwerdeführer wegen der Beziehung zu seiner Gattin bzw. der Ausreise mit dieser umbringen wolle, sowie eine Strafanzeige wegen Entführung erstattet habe, war nicht glaubhaft.
In der Konsequenz stellt sich auch das Vorbringen, dass er keinen Kontakt zu seiner Familie im Irak hat, als nicht glaubwürdig dar und ist es dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland jedenfalls möglich, den Kontakt zu seinen Familienangehörigen wiederaufzunehmen bzw fortzuführen.
Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder terroristische Anschläge im Irak.
Weiters kann nicht festgestellt werden, dass eine Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung der EMRK bedeuten würde oder für den Beschwerdeführer als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit mit sich bringen würde.
1.3. Zur aktuellen Lage im Irak wird auf folgende Feststellungen verwiesen:
Politische Lage
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).
An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).
Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).
Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).
Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).
Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).
Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).
Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).
Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).
Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).
Sicherheitslage
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Sicherheitslage Südirak
Der gesamte südliche Teil des Irak, einschließlich des Gouvernements Babil, steht nominell unter der Kontrolle der irakischen Regierung. Vielerorts scheinen die Regierungsbehörden gegenüber lokalen Stämmen und Milizen noch immer in einer schwächeren Position zu sein. Die irakische Regierung war gezwungen, dem Kampf gegen den IS im Zentral- und Nordirak in den letzten Jahren Vorrang einzuräumen, bedeutende militärische und polizeiliche Ressourcen aus dem Süden abzuziehen und in diese Gegenden zu entsenden. Vor diesem Hintergrund sind Stammeskonflikte, eskalierende Gesetzlosigkeit und Kriminalität ein Problem der lokalen Sicherheitslage. Die Bemühungen der Regierung, die Kontrolle wieder zu übernehmen, scheinen noch nicht zum entscheidenden Erfolg geführt zu haben. Regierungsnahe Milizen sind in unterschiedlichem Maße präsent, aber der Großteil ihrer Kräfte wird im Norden eingesetzt. Terrorismus und Terrorismusbekämpfung spielen im Süden nach wie vor eine Rolle, insbesondere in Babil, aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden. Noch immer gibt es vereinzelte Terroranschläge (Landinfo 31.5.2018).
Das Gouvernement Babil ist ein einfaches Ziel für die Aufständischen des IS, in das sie von Anbar aus leichten Zugang haben. Insbesondere der Distrikt Jurf al-Sakhr, in dem es keine Zivilisten gibt und der als PMF-Basis dient, ist ein beliebtes Ziel des IS (Joel Wing 9.9.2019). Im November 2019 gab es im Gouvernement Babil zwei sicherheitsrelevante Vorfälle mit einem Toten (Joel Wing 2.12.2019), im Dezember 2019 drei Vorfälle mit drei Verletzten (Joel Wing 6.1.2020) und im Februar 2020 zwei Vorfälle mit einem Verletzten (Joel Wing 5.3.2020).
Seit 2015 finden in allen Städten des Südirak regelmäßig Demonstrationen statt, um gegen die Korruption der Regierung und die Arbeitslosigkeit zu protestieren und eine bessere Infrastruktur zu fordern. Gewöhnlich finden diese Demonstrationen in Ruhe statt, sie haben jedoch auch schon zu Zusammenstößen mit der Polizei geführt, mit Verletzten und Toten (CEDOCA 28.2.2018).
Seit 1.10.2019 kommt es in mehreren Gouvernements des Zentral- aber auch Südiraks (Bagdad, Basra, Maysan, Qadisiyah, Dhi Qar,Wasit, Muthanna, Babil, Kerbala, Najaf, Diyala, Kirkuk und Salah ad-Din) zu teils gewalttätigen Demonstrationen (ISW 22.10.2019, vgl. Joel Wing 3.10.2019).
Die meisten Proteste wurden in Basra City sowie in der Nähe der Ölfelder und der Häfen gemeldet. UNAMI gab an, dass Demonstranten entführt und verschwinden lassen worden sind und es zu zahlreichen weiteren Verstößen und Misshandlungen gegenüber Aktivisten gekommen sei, einschließlich exzessiver und rechtswidriger Gewaltanwendung. Zwischen dem 1. Oktober und dem 15. Dezember 2019 wurden in Basra 33 Todesfälle und 1.079 Verletzungen von Demonstranten gemeldet. Laut ICG waren vom Iran unterstützte PMUs in erster Linie für die Anwendung von Gewalt gegen Demonstranten verantwortlich.
Laut UNAMI kam es im Zeitraum von 01.01.2019 bis 31.12.2019 in Basra zu 17 bewaffneten konfliktbedingten Vorfällen, wobei 6 Personen verletzt und 3 Personen getötet worden sind. Im Zeitraum vom 01.01.2020 bis 31.07.2020 kam es zu 2 bewaffneten konfliktbedingten Vorfällen, wobei 3 Personen verletzt und niemand getötet worden ist.
Rechtsschutz / Justizwesen
Die irakische Gerichtsbarkeit besteht aus dem Obersten Justizrat, dem Obersten Gerichtshof, dem Kassationsgericht, der Staatsanwaltschaft, der Justizaufsichtskommission, dem Zentralen Strafgericht und anderen föderalen Gerichten mit jeweils eigenen Kompetenzen (Fanack 2.9.2019). Das Oberste Bundesgericht erfüllt die Funktion eines Verfassungsgerichts (AA 12.1.2019).
Die Verfassung garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (Stanford 2013; vgl. AA 12.1.2019; USDOS 11.3.2020). Jedoch schränken bestimmte gesetzliche Bestimmungen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz ein (USDOS 11.3.2020). Die Rechtsprechung ist in der Praxis von einem Mangel an kompetenten Richtern, Staatsanwälten sowie Justizbeamten gekennzeichnet. Eine Reihe von Urteilen lassen auf politische Einflussnahme schließen. Hohe Richter werden oftmals auch unter politischen Gesichtspunkten ausgewählt (AA 12.1.2019). Zudem ist die Justiz von Korruption, politischem Druck, Stammeskräften und religiösen Interessen beeinflusst. Aufgrund von Misstrauen gegenüber Gerichten oder fehlendem Zugang wenden sich viele Iraker an Stammesinstitutionen, um Streitigkeiten beizulegen, selbst wenn es sich um schwere Verbrechen handelt (FH 4.3.2020).
Eine Verfolgung von Straftaten findet nur unzureichend statt (AA 12.1.2019). Strafverfahren sind zutiefst mangelhaft. Willkürliche Verhaftungen, einschließlich Verhaftungen ohne Haftbefehl, sind üblich (FH 4.3.2020). Eine rechtsstaatliche Tradition gibt es nicht. Häufig werden übermäßig hohe Strafen verhängt. Obwohl nach irakischem Strafprozessrecht Untersuchungshäftlinge binnen 24 Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden müssen, wird diese Frist nicht immer respektiert und zuweilen auf 30 Tage ausgedehnt. Es gibt häufig Fälle überlanger Untersuchungshaft, ohne dass die Betroffenen, wie vom irakischen Gesetz vorgesehen, einem Richter oder Staatsanwalt vorgeführt würden. Freilassungen erfolgen mitunter nur gegen Bestechungszahlungen. Insbesondere Sunniten beschweren sich über „schiitische Siegerjustiz“ und einseitige Anwendung der bestehenden Gesetze zu ihren Lasten. Das seit 2004 geltende Notstandsgesetz ermöglicht der Regierung Festnahmen und Durchsuchungen unter erleichterten Bedingungen (AA 12.1.2019).
Korruption oder Einschüchterung beeinflussen Berichten zufolge einige Richter in Strafsachen auf der Prozessebene und bei der Berufung vor dem Kassationsgericht. Zahlreiche Drohungen und Morde durch konfessionelle, extremistische und kriminelle Elemente oder Stämme beeinträchtigten die Unabhängigkeit der Justiz. Richter, Anwälte und ihre Familienangehörigen sind häufig mit Morddrohungen und Angriffen konfrontiert (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 26.2.2019). Nicht nur Richter, sondern auch Anwälte, können dem Druck einflussreicher Personen, z.B. der Stämme, ausgesetzt sein. Dazu kommt noch Überlastung. Ein Untersuchungsrichter kann beispielsweise die Verantwortung über ein Gebiet von einer Million Menschen haben, was sich negativ auf die Rechtsstaatlichkeit auswirkt (LIFOS 8.5.2014).
Die Verfassung garantiert das Recht auf einen fairen und öffentlichen Prozess für alle Bürger (USDOS 11.3.2020) und das Recht auf Rechtsbeistand für alle verhafteten Personen (CEDAW 30.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Dennoch verabsäumen es Beamte routinemäßig, Angeklagte unverzüglich oder detailliert über die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu informieren. In zahlreichen Fällen dienen erzwungene Geständnisse als primäre Beweisquelle. Beobachter berichteten, dass Verfahren nicht den internationalen Standards entsprechen (USDOS 11.3.2020).
Die Behörden verletzen systematisch die Verfahrensrechte von Personen, die verdächtigt werden dem IS anzugehören, sowie jene anderer Häftlinge (HRW 14.1.2020). Die Verurteilungsrate der im Schnelltempo durchgeführten Verhandlungen tausernder sunnitischer Moslems, denen eine IS-Mitgliedschaft oder dessen Unterstützung vorgeworfen wurde, lag 2018 bei 98% (USCIRF 4.2019). Menschenrechtsgruppen kritisierten die systematische Verweigerung des Zugangs der Angeklagten zu einem Rechtsbeistand und die kurzen, summarischen Gerichtsverfahren mit wenigen Beweismitteln für spezifische Verbrechen, abgesehen von vermeintlichen Verbindungen der Angeklagten zum IS (FH 4.3.2020; vgl. CEDAW 30.9.2019). Rechtsanwälte beklagen einen häufig unzureichenden Zugang zu ihren Mandanten, wodurch eine angemessene Beratung erschwert wird. Viele Angeklagte treffen ihre Anwälte zum ersten Mal während der ersten Anhörung und haben nur begrenzten Zugang zu Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft. Dies gilt insbesondere für die Anti-Terror-Gerichte, wo Justizbeamte Berichten zufolge versuchen, Schuldsprüche und Urteilsverkündungen für Tausende von verdächtigen IS-Mitgliedern in kurzer Zeit abzuschließen (USDOS 11.3.2020). Anwälte und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die Familien mit vermeintlicher IS-Zugehörigkeit unterstützen, sind gefährdet durch Sicherheitskräfte bedroht oder sogar verhaftet zu werden (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Laut einer Studie über Entscheidungen von Berufungsgerichten in Fällen mit Bezug zum Terrorismus, haben erstinstanzliche Richter Foltervorwürfe ignoriert, auch wenn diese durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet wurden und die erzwungenen Geständnisse durch keine anderen Beweise belegbar waren (HRW 25.9.2019; vgl. HRW 14.1.2020). Für das Anti-Terror-Gericht in Ninewa beobachtete HRW im Jahr 2019 eine Verbesserung bei den Gerichtsverhandlungen. So verlangten Richter einen höheren Beweisstandard für die Inhaftierung und Verfolgung von Verdächtigen, um die Abhängigkeit des Gerichts von Geständnissen, fehlerhaften Fahndungslisten und unbegründeten Anschuldigungen zu minimieren (HRW 14.1.2020).
Am 28.3.2018 kündigte das irakische Justizministerium die Bildung einer Gruppe von 47 Stammesführern an, genannt al-Awaref, die sich als Schiedsrichter mit der Schlichtung von Stammeskonflikten beschäftigen soll. Die Einrichtung dieses Stammesgerichts wird durch Personen der Zivilgesellschaft als ein Untergraben der staatlichen Institution angesehen (Al Monitor 12.4.2018). Das informelle irakische Stammesjustizsystem überschneidet und koordiniert sich mit dem formellen Justizsystem (TCF 7.11.2019).
Nach Ansicht der Regierung gibt es im Irak keine politischen Gefangenen. Alle inhaftierten Personen sind demnach entweder strafrechtlich verurteilt oder angeklagt oder befinden sich in Untersuchungshaft. Politische Gegner der Regierung behaupteten jedoch, diese habe Personen wegen politischer Aktivitäten oder Überzeugungen unter dem Vorwand von Korruption, Terrorismus und Mord inhaftiert oder zu inhaftieren versucht (USDOS 11.3.2020).
Sicherheitskräfte und Milizen
Im Mai 2003, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein, demontierte die Koalitions-Übergangsverwaltung das irakische Militär und schickte dessen Personal nach Hause. Das aufgelöste Militär bildete einen großen Pool für Aufständische. Stattdessen wurde ein politisch neutrales Militär vorgesehen (Fanack 2.9.2019).
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS) (USDOS 11.3.2020). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI) (GS 18.7.2019).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle (USDOS 11.3.2020; vgl. GS 18.7.2019).
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)
Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Einheiten, die vom Innen- und Verteidigungsministerium, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF), und dem Counter-Terrorism Service (CTS) verwaltet werden. Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig. Es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Erdöl-Infrastruktur verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der CTS ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 11.3.2020).
Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.1.2019).
Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums, sowie über extra-legale Tötungen (USDOS 11.3.2020).
Folter und unmenschliche Behandlung
Folter und unmenschliche Behandlung sind laut der irakischen Verfassung ausdrücklich verboten. Im Juli 2011 hat die irakische Regierung die UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) unterzeichnet. Folter wird jedoch auch in der jüngsten Zeit von staatlichen Akteuren angewandt, etwa bei Befragungen durch irakische (einschließlich kurdische) Polizei- und andere Sicherheitskräfte (AA 12.1.2019), oder auch um Geständnisse zu erzwingen (HRW 14.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020; AI 10.4.2019) und Gerichte diese als Beweismittel akzeptieren (USDOS 11.3.2020) auch für die Vollstreckung von Todesurteilen (AI 10.4.2019). Laut Informationen von UNAMI sollen u.a. Bedrohung mit dem Tod, Fixierung mit Handschellen in schmerzhaften Positionen und Elektroschocks an allen Körperteilen zu den Praktiken gehören (AA 12.1.2019). Ehemalige Häftlinge berichten auch über Todesfälle aufgrund von Folter (AI 26.2.2019). Auch Minderjährige werden Folter unterzogen, um Geständnisse zu erpressen (HRW 6.3.2019).
Weiterhin misshandeln und foltern die Sicherheitskräfte der Regierung, einschließlich der mit den Volksmobilisierungskräften (PMF) verbundenen Milizen und Asayish, Personen während Verhaftungen, Untersuchungshaft und nach Verurteilungen. Internationale Menschenrechtsorganisationen dokumentierten Fälle von Folter und Misshandlung in Einrichtungen des Innenministeriums und in geringerem Umfang in Haftanstalten des Verteidigungsministeriums sowie in Einrichtungen unter Kontrolle der kurdischen Regionalregierung (KRG). Ehemalige Gefangene, Häftlinge und Menschenrechtsgruppen berichteten von einer Vielzahl von Folterungen und Misshandlungen (USDOS 11.3.2020). Eine Studie zu Berufungsgerichtsentscheidungen zeigt, dass Richter bei fast zwei Dutzend Fällen aus den Jahren 2018 und 2019 Foltervorwürfe ignorierten und auf Grundlage von Geständnissen ohne weitere Beweise Schuldsprüche erließen. Einige dieser Foltervorwürfe waren durch gerichtsmedizinische Untersuchungen erhärtet. Die Berufungsgerichte sprachen die Angeklagten in jedem dieser Fälle frei (HRW 14.1.2020). Das im August 2015 abgeschaffte Menschenrechtsministerium hat nach eigenen Angaben 500 Fälle unerlaubter Gewaltanwendung an die Justiz übergeben, allerdings wurden die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen (AA 12.1.2019).
Trotz der Zusage des damaligen Premierministers Haidar Abadi im September 2017, den Vorwürfen von Folter und außergerichtlichen Tötungen nachzugehen, haben die Behörden im Jahr 2019 keine Schritte unternommen, um diese Missstände zu untersuchen (HRW 14.1.2020).
Korruption
Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Staatsdiener vor, aber die Regierung setzt das Gesetz nicht immer wirksam um. Im Laufe des Jahres 2018 gab es zahlreiche Berichte über staatliche Korruption. Beamte waren häufig ungestraft in korrupte Praktiken verstrickt. Die Untersuchung von Korruption ist nicht frei von politischer Einflussnahme. Erwägungen hinsichtlich Familienzugehörigkeit, Stammeszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit beeinflussen Regierungsentscheidungen auf allen Ebenen maßgeblich. Bestechung, Geldwäsche, Vetternwirtschaft und Veruntreuung öffentlicher Gelder sind üblich. Obwohl Antikorruptionsinstitutionen zunehmend mit zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, ist die Wirkung der erweiterten Zusammenarbeit begrenzt. Medien und NGOs versuchen Korruption unabhängig aufzudecken, obwohl ihre Möglichkeiten begrenzt sind. Antikorruptions-, Strafverfolgungs- und Justizbeamte sowie Mitglieder der Zivilgesellschaft und der Medien werden wegen ihrer Bemühungen zur Bekämpfung korrupter Praktiken bedroht und eingeschüchtert (USDOS 11.3.2020). Korruption war einer der Auslöser für die Massenproteste am 1.10.2019 im Süd- und Zentralirak, inklusive Bagdad (UNAMI 10.2019).
Auf dem Corruption Perceptions Index 2020 von Transparency International wird der Irak mit 20 (von 100) Punkten bewertet (0=highly corrupt, 100=very clean) (TI 3.2020).
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) müssen sich registrieren (FH 4.3.2020). Mit Stand September 2019 waren laut der irakischen Bundesdirektion für Nichtregierungsorganisationen 4.365 NGOs registriert (USDOS 11.3.2020). In der Kurdischen Region im Irak (KRI) betrug die Zahl registrierter NGOs 4.300 im Jahr 2018 (USDOS 13.3.2019). In der KRI sind die Registrierungen jährlich zu erneuern (FH 4.3.2020).
Seit 2010 gibt es ein Gesetz zu NGOs, das die Beschränkungen der Auslandsfinanzierung von NGOs lockert, die Ablehnung von Registrierungsanträgen einschränkt, strafrechtliche Sanktionen beseitigt, unbegründete Überprüfungen und Inspektionen untersagt, sowie gerichtliche Kontrollen über die Suspendierung von NGOs schafft (ICNL 26.6.2019). NGOs, die nur in Bagdad registriert waren, konnten nicht in der KRI tätig werden, und vice versa (USDOS 11.3.2020).
Im gesamten Irak existierten allein im Bereich Menschenrechte zuletzt etwa 368 registrierte NGOs. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen, unterliegen in ihrer Registrierung keinen besonderen Einschränkungen. Die schwierige Sicherheitslage und weiter bestehende regulatorische Hindernisse erschweren dennoch die Arbeit vieler NGOs. Sie unterliegen der Kontrolle durch die Behörde für Angelegenheiten der Zivilgesellschaft. Zahlreiche NGOs berichten von bürokratischen und intransparenten Registrierungsverfahren, willkürlichem Einfrieren von Bankkonten sowie unangekündigten und einschüchternden „Besuchen“ durch Vertreter des Ministeriums. Die Präsenz von ausländischen NGOs im Zentral- und Südirak ist nach wie vor gering. Dies gilt nicht für die KRI, wo viele ausländische NGOs tätig sind, die derzeit aber unter verschärften Kontrollen durch die Zentralregierung in ihrer Arbeit beeinträchtigt sind (AA 12.1.2019).
Nationale und internationale NGOs operieren in den meisten Fällen unter geringer staatlicher Einflussnahme, jedoch gibt es Berichte über staatliche Einmischung, wenn NGOs Menschenrechtsverletzungen von staatlichen Akteuren untersuchen. In Basra im Südirak wurden Berichten zufolge mehrere Menschenrechtsvertreter willkürlich festgenommen und gezwungen Dokumente ihnen unbekannten Inhalts zu unterzeichnen, bevor sie wieder freigelassen wurden(USDOS 11.3.2020). Ende 2019 gibt es im Zuge der Protestbewegung auch Berichte über Entführungen und Ermordnungen von regierungskritischen Aktivisten (FH 4.3.2020). Die KRI verfügt über eine aktive Gemeinschaft von meist kurdischen NGOs, viele mit engen Beziehungen zu den politischen Parteien PUK und KDP (USDOS 11.3.2020).
Wehrdienst, Rekrutierungen und Wehrdienstverweigerung
Im Irak besteht keine Wehrpflicht. Männer zwischen 18 und 40 Jahren können sich freiwillig zum Militärdienst melden (AA 12.1.2019; vgl. CIA 21.8.2019). Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 wurde die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft (BasNews 7.8.2019). Juden sind per Gesetz vom Militärdienst ausgeschlossen (USDOS 21.6.2019). Die irakische Regierung und das irakische Parlament planen, die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu prüfen. Hierbei wird auch die Möglichkeit erwogen, anstelle des Militärdienstes eine Ersatzzahlung leisten zu können (BasNews 7.8.2019).
Laut Kapitel 5 des irakischen Militärstrafgesetzes von 2007 ist Desertion in Gefechtssituationen mit bis zu sieben Jahren Haft strafbar. Das Überlaufen zum Feind ist mit dem Tode strafbar (MoD 10.2007). Die Armee hat kaum die Kapazitäten, um gegen Desertion von niederen Rängen vorzugehen. Es sind keine konkreten Fälle bekannt, in denen es zur Verfolgung von Deserteuren gekommen wäre (DIS/Landinfo 5.11.2018). Im Jahr 2014 entließ das Verteidigungsministerium Tausende Soldaten, die während der IS-Invasion im Nordirak ihre Posten verlassen haben und geflohen sind. Im November 2019 wurden, mit der behördlichen Anordnungen alle entlassenen Soldaten wieder zu verpflichten, über 45.000 wieder in Dienst gestellt (MEMO 6.11.2019).
Die Rekrutierung in die Volksmobilisierungskräfte (PMF) erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis. Viele schließen sich den PMF aus wirtschaftlichen Gründen an. Desertion von den PMF kam in den Jahren 2014 bis 2015 seltener vor als bei der irakischen Armee. Desertion von Kämpfern niederer Ränge hätte wahrscheinlich keine Konsequenzen oder Vergeltungsmaßnahmen zur Folge (DIS/Landinfo 5.11.2018).
Auch in der Kurdischen Region im Irak (KRI) herrscht keine Wehrpflicht. Kurdische Männer und Frauen können sich freiwillig zu den Peshmerga melden (DIS 12.4.2016). Rekruten für die Peshmerga unterzeichnen einen Vertrag für eine bestimmte Dienstzeit, nach dessen Ablauf die Person freiwillig gehen kann (EASO 3.2019).
Die Strafe für Desertion von den Peshmerga kann, je nach den Umständen, von der Auflösung des Vertrages bis zur Verurteilung zum Tode reichen. Für letzteres gibt es jedoch keine Berichte (DIS 12.4.2016; vgl. EASO 3.2019). Wenn ein Peshmerga von der Frontlinie desertiert, wird er vor ein Militärgericht gestellt und kann nach irakischem Militärrecht zum Tode verurteilt werden. Einige Peshmerga-Soldaten verlassen die Streitkräfte, weil sie keinen Sold erhalten. Bislang wurden jedoch keine Fälle von Desertion durch die Peshmerga-Truppen vor Gericht gebracht (DIS 12.4.2016).
Es gibt Vorwürfe der Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), der Shingal Protection Units (YBS) und von PMF-Milizen (USDOS 11.3.2020).
Allgemeine Menschenrechtslage
Die Verfassung vom 15.10.2005 garantiert demokratische Grundrechte wie Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und Gleichberechtigung. Der Menschenrechtskatalog umfasst auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Der Irak hat wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Es kommt jedoch weiterhin zu Menschenrechtsverletzungen durch Polizei und andere Sicherheitskräfte. Der in der Verfassung festgeschriebene Aufbau von Menschenrechtsinstitutionen kommt weiterhin nur schleppend voran. Die unabhängige Menschenrechtskommission konnte sich bisher nicht als geschlossener und durchsetzungsstarker Akteur etablieren. Internationale Beobachter kritisieren, dass Mitglieder der Kommission sich kaum mit der Verletzung individueller Menschenrechte beschäftigen, sondern insbesondere mit den Partikularinteressen ihrer jeweils eigenen ethnisch-konfessionellen Gruppe. Ähnliches gilt für den Menschenrechtsausschuss im irakischen Parlament. Das Menschenrechtsministerium wurde 2015 abgeschafft (AA 12.1.2019).
Zu den wesentlichsten Menschenrechtsfragen im Irak zählen unter anderem: Anschuldigungen bezüglich rechtswidriger Tötungen durch Mitglieder der irakischen Sicherheitskräfte, insbesondere durch einige Elemente der PMF; Verschwindenlassen; Folter; harte und lebensbedrohliche Haftbedingungen; willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen; willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre; Einschränkungen der Meinungsfreiheit, einschließlich der Pressefreiheit; Gewalt gegen Journalisten; weit verbreitete Korruption; gesetzliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen; Rekrutierung von Kindersoldaten durch Elemente der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Shingal Protection Units (YBS) und PMF-Milizen; Menschenhandel; Kriminalisierung und Gewalt gegen LGBTIQ-Personen. Es gibt auch Einschränkungen bei den Arbeitnehmerrechten, einschließlich Einschränkungen bei der Gründung unabhängiger Gewerkschaften (USDOS 11.3.2020).
Internationale und lokale NGOs geben an, dass die Regierung das Anti-Terror-Gesetz weiterhin als Vorwand nutzt, um Personen ohne zeitgerechten Zugang zu einem rechtmäßigen Verfahren festzuhalten (USDOS 21.6.2019). Es wird berichtet, dass tausende Männer und Buben, die aus Gebieten unter IS-Herrschaft geflohen sind, von zentral-irakischen und kurdischen Kräften willkürlich verhaftet wurden und nach wie vor als vermisst gelten. Sicherheitskräfte einschließlich PMFs haben Personen mit angeblichen IS-Beziehungen auch in Lagern inhaftiert und gewaltsam verschwinden lassen (AI 26.2.2019).
Die Verfassung und das Gesetz verbieten Enteignungen, außer im öffentlichen Interesse und gegen eine gerechte Entschädigung. In den vergangenen Jahren wurden Häuser und Eigentum von mutmaßlichen IS-Angehörigen, sowie Mitgliedern religiöser und konfessioneller Minderheiten, durch Regierungstruppen und PMF-Milizen konfisziert und besetzt (USDOS 11.3.2020).
Die Regierung, einschließlich des Büros des Premierministers, untersucht Vorwürfe über Missbräuche und Gräueltaten, bestraft die Verantwortlichen jedoch selten (USDOS 11.3.2020).
Im Zuge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste haben Sicherheitskräfte unter anderem scharfe Munition gegen Demonstranten eingesetzt und hunderte Menschen getötet (HRW 31.1.2020).
Der IS begeht weiterhin schwere Gräueltaten, darunter Tötungen durch Selbstmordattentate und improvisierte Sprengsätze (IEDs). Die Behörden untersuchen IS-Handlungen und verfolgen IS-Mitglieder nach dem Anti-Terrorgesetz von 2005 (USDOS 11.3.2020).
Meinungs- und Pressefreiheit
Die Verfassung garantiert die Meinungs- und Pressefreiheit, solange diese nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzt (AA 12.1.2019), Unterstützung für die verbotene Ba‘ath-Partei ausdrückt oder die gewaltsame Änderung der Grenzen des Landes befürwortet. Einzelpersonen und Medien betreiben jedoch Selbstzensur aufgrund der begründeten Furcht vor Repressalien durch die Regierung, politische Parteien, ethnische und konfessionellen Kräfte, terroristische und extremistische Gruppen oder kriminelle Banden. Kontrolle und Zensur der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung behindern manchmal den Medienbetrieb, was mitunter die Schließung von Medien, Einschränkungen der Berichterstattung und Behinderung von Internetdiensten zur Folge hat. Einzelpersonen können die Regierung öffentlich oder privat kritisieren, jedoch nicht ohne Angst vor Vergeltung (USDOS 11.3.2020).
Im Irak existiert eine lebendige, aber wenig professionelle, zumeist die ethnisch-religiösen Lagerbildungen nachzeichnende Medienlandschaft, die sich zudem weitgehend in ökonomischer Abhängigkeit von Personen oder Parteien befindet, die regelmäßig direkten Einfluss auf die Berichterstattung nehmen (AA 12.1.2019). Die meisten der mehreren hundert Printmedien, die im Irak täglich oder wöchentlich erscheinen, sowie dutzende Radio- und Fernsehsender, werden von politischen Parteien stark beeinflusst oder vollständig kontrolliert (USDOS 11.3.2020). Es gibt nur wenige politisch unabh