Entscheidungsdatum
09.06.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
L507 2185561-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Habersack über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.03.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, stellte am 18.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesbezüglich wurde der Beschwerdeführer am 18.01.2016 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.
Im Rahmen dieser Befragung führte der Beschwerdeführer aus, dass er als Kurde unter Druck gestanden und er dies nicht mehr ausgehalten habe. Es herrsche Ausnahmezustand und würden Kurden unterdrückt werden. Weiters habe er seinen Militärdienst noch nicht abgeleistet, weil er als Kurde in den Osten geschickt werden würde und gegen seine Brüder kämpfen müsse.
2. Am 10.10.2017 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen.
Dabei führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen aus, dass er Kurde sei und deshalb Probleme mit den Behörden gehabt habe. Wenn er Kurdisch gesprochen habe, sei die Polizei brutal gegen ihn vorgegangen. Wenn er vor Behörden gesagt habe, dass er Kurde sei, hätten alle Tätigkeiten vor den Behörden negative geendet. Der Beschwerdeführer sei auch für die HDP tätig gewesen, weshalb die Behörde behauptet habe, dass er Terrorist sei. Einmal sei er von einem Polizisten nach dem Ausweis gefragt worden und habe dieser dann zum Beschwerdeführer gesagt, dass alle Kurden sterben würden. In seiner Gegend gebe es auch mehrere PKK Mitglieder, weshalb von der Gendarmerie behauptet worden sei, dass der Beschwerdeführer die PKK unterstütze. Er sei beschimpft und bedroht sowie anders behandelt worden. Der Beschwerdeführer wolle auch nicht zum Wehrdienst einrücken. Er habe 2013 einen Einberufungsbefehl erhalten, sei aber nicht hingegangen. Er habe ein Jahr wegen der Schule einen Aufschub erhalten. Danach sei dann nicht mehr nachgeforscht worden und man habe ihn auch nicht mehr gefragt. Der Beschwerdeführer habe verschiedene Wohnorte gehabt und sei dann nach Österreich geflüchtet.
Der Beschwerdeführer sei auch immer wieder abgeholt und einvernommen worden, weil er verdächtigt worden sei, mit einer Terrorgruppe in Verbindung zu stehen. Man werde beschimpft und eingeschüchtert. Es werde nichts protokolliert und dann werde man freigelassen. Wenn der Beschwerdeführer einige Monate in XXXX gewohnt habe und zurück nach XXXX gegangen sei, sei er gefragt worden, ob er ein Terrorcamp besucht oder jemanden getötet habe.
3. Mit Bescheid des BFA vom XXXX , Zl. XXXX , wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei nicht zuerkannt. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 46 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
Beweiswürdigend wurde vom BFA zusammenfassend ausgeführt, dass den Angaben des Beschwerdeführers aufgrund des unplausiblen und gesteigerten Vorbringens kein Glauben geschenkt werden könne. Weiters wurde festgestellt, dass dem Beschwerdeführer auch keine Gefahren drohen, die eine Gewährung subsidiären Schutzes rechtfertigen würden. Die Rückkehrentscheidung verletze nicht das Recht auf ein Privat- und Familienleben im Bundesgebiet und würden auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 nicht vorliegen.
4. Mit Verfahrensanordnungen des BFA vom 09.01.2018 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt und gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG die Verpflichtung mitgeteilt, innerhalb von zehn Tagen ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.
5. Der bekämpfte Bescheid wurde dem Beschwerdeführer ordnungsgemäß am 11.01.2018 zugestellt, wogegen mit Schreiben vom 01.02.2018 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.
Darin wurde zunächst das bisherige Vorbringen wiederholt und darauf hingewiesen, dass sich seit dem missglückten Putschversuch gegen das Regime von Recep Tayyip Erdogan noch weitere Probleme ergeben hätte. Der Konflikt zwischen der Regierung und den kurdischen Aktivisten habe sich verschärft. Vielen Mitglieder oder Sympathisanten der Kurdenpartei HDP würden wegen der unterstellten Unterstützung der PKK, welche als terroristische Organisation bezeichnet werde, festgenommen und verurteilt werden. Der Beschwerdeführer habe den Wehrdienst verweigert und sei für die HDP tätig gewesen, weshalb ihm eine gewisse Nähe zum Widerstand unterstellt werden würde. Weiters führt der Beschwerdeführer aus, dass er deshalb keine konkrete Verfolgungshandlung vorgebracht habe, weil sich die Situation erst seit Juli 2016 wirklich zugespitzt habe. Zu diesem Zeitpunkt habe er sich bereits in Österreich aufgehalten. Der Beschwerdeführer könne auch die pauschale Behauptung des BFA, wonach Wehrdienstleistende während des Wehrdienstes generell nicht relevanten Nachteilen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ausgesetzt seien, den Länderfeststellungen nicht entnehmen und verweist der Beschwerdeführer auszugsweise auf Berichte, woraus sich Gegenteiliges ergeben würde. Schließlich folgen Ausführungen zu seinen Integrationsbemühungen in Österreich.
6. Am 02.03.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen Zudem wurden dem Beschwerdeführer Länderberichte zur Türkei ausgehändigt und ihm eine Frist von zwei Wochen für die Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme dazu eingeräumt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Türkei, muslimischen Glaubens und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe. Er stammt aus XXXX in der Provinz XXXX und besuchte in XXXX zwölf Jahre lang die Grundschulde und ein Gymnasium. Nach der Schule hat der Beschwerdeführer in der Landwirtschaft seiner Familie mitgeholfen und in einer Apotheke gearbeitet. Zudem war der Beschwerdeführer als Kellner in einem Hotel in XXXX tätig, wo ihm eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wurde.
In der Türkei sind nach wie vor zwei Onkel des Beschwerdeführers aufhältig.
Den Militärdienst hat der Beschwerdeführer in der Türkei noch nicht abgeleistet. Er unterliegt als männlicher türkischer Staatsangehöriger der allgemeinen Wehrpflicht in der Türkei und wird im Fall einer Rückkehr in der Türkei seinen Wehrdienst ableisten müssen, sollte er für tauglich befunden werden.
Im Fall einer tatsächlichen Einberufung zu den türkischen Streitkräften im Rahmen der Wehrpflicht wird der Beschwerdeführer nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bei Kampfhandlungen eingesetzt werden. Er muss sich im Rahmen seines Wehrdienstes nicht an völkerrechtswidrigen Militäraktionen beteiligen. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass in der Türkei derzeit großflächige Kampfhandlungen oder eine Generalmobilmachung stattfindet. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass Rekruten systematischen Misshandlungen unterliegen bzw. der Beschwerdeführer im Zuge der Verrichtung des Militärdienstes mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit solche zu erwarten hat. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer – sollte er sich weigern, seinen Militärdienst abzuleisten – eine unverhältnismäßig hohe Strafe droht bzw. dass die Verbüßung einer Haftstrafe in der Türkei an sich schon eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt.
Der Beschwerdeführer war Sympathisant der HDP und hat im Rahmen dessen Versammlungen besucht und an Demonstrationen teilgenommen. Als Anhänger und Sympathisant der HDP unterliegt der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer staatlichen Verfolgung.
Ferner kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit im Fall einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit willkürlicher Gewaltausübung, willkürlichem Freiheitsentzug oder exzessiver Bestrafung durch staatliche Organe ausgesetzt wäre.
Der Beschwerdeführer hat am 06.01.2016 die Türkei verlassen und hält sich seit Jänner 2016 durchgehend in Österreich auf.
In Österreich leben die Eltern des Beschwerdeführers. Bis 30.09.2020 hat er mit diesem in einem gemeinsamen Haushalt gelebt, wobei die Mutter des Beschwerdeführers erst nach dem Beschwerdeführer im Jahr 2017 nach Österreich gekommen ist.
Am 25.07.2020 hat der Beschwerdeführer eine türkischstämmige österreichische Staatsbürgerin geheiratet und wohnt mit ihr sowie den Schwiegereltern seit dem 01.10.2020 in einem gemeinsamen Haushalt. Der Vater des Beschwerdeführers sowie der Vater der Ehegattin des Beschwerdeführers sind Cousins.
Der Beschwerdeführer ist nicht berufstätig und bezog bis XXXX Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber. Im Jahr 2019 war der Beschwerdeführer selbständig erwerbstätig und hat mit einem Partner einen Kebabimbiss betrieben ( XXXX ). Der Beschwerdeführer übt diese Tätigkeit nicht mehr aus und wird der Imbiss von seinem Partner alleine weitergeführt. Aktuell wird der Beschwerdeführer von seiner Ehegattin, den Schwiegereltern und seinem Vater finanziell unterstützt.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten, gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführe hat in Österreich keine Deutschqualifizierungsmaßnahmen besucht und spricht auf einfachem Niveau die deutsche Sprache.
Der Beschwerdeführer ist kein Mitglied in einem Verein und absolvierte keine Ausbildung in Österreich.
Der Beschwerdeführer entfaltete während seines Aufenthaltes in Österreich kein
(exil-)politisches Engagement.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Türkei vor seiner Ausreise einer individuellen Verfolgung durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer solchen ausgesetzt wäre.
Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt ist oder dass sonstige Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.
1.2. Zur Lage in der Türkei wird festgestellt:
Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte. Staats- und zugleich Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems am 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 24.8.2020; vgl. DFAT 10.9.2020).
Entgegen den Behauptungen der Regierungspartei zugunsten des neuen präsidialen Regierungssystems ist nach dessen Einführung das Parlament geschwächt, die Gewaltenteilung ausgehöhlt, die Justiz politisiert, die Institutionen verkrüppelt und es herrschen autoritäre Praktiken (SWP 4.2021, S.2). Die Verfassungsarchitektur ist weiterhin von einer fortschreitenden Zentralisierung der Befugnisse im Bereich des Präsidentenamtes geprägt, ohne eine solide und wirksame Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zu gewährleisten (EC 29.5.2019).
Die Konzentration der Exekutivgewalt in einer Person bedeutet, dass der Präsident gleichzeitig die Befugnisse des Premierministers und des Ministerrats (Kabinetts) übernimmt, die beide durch das neue System abgeschafft wurden (Art.8). Die Minister werden nun nicht mehr aus den Reihen der Parlamentarier, sondern von außen gewählt; sie werden vom Präsidenten ohne Beteiligung des Parlaments ernannt und entlassen und damit auf den Status eines politischen Staatsbeamten reduziert (SWP 4.2021, S.9).
Da es keinen wirksamen Kontroll- und Ausgleichsmechanismus gibt, bleibt die demokratische Rechenschaftspflicht der Exekutive auf Wahlen beschränkt. Unter diesen Bedingungen setzten sich die gravierenden Rückschritte bei der Achtung demokratischer Normen, der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten fort. Die politische Polarisierung verhindert einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die parlamentarische Kontrolle über die Exekutive bleibt schwach. Unter dem Präsidialsystem sind viele Regulierungsbehörden und die Zentralbank direkt mit dem Präsidentenamt verbunden, wodurch deren Unabhängigkeit untergraben wird. Mehrere Schlüsselinstitutionen, wie der Generalstab, der Nationale Nachrichtendienst, der Nationale Sicherheitsrat und der Souveräne Wohlfahrtsfonds, sind dem Büro des Präsidenten angegliedert worden (EC 29.5.2019). Der öffentliche Dienst wurde politisiert, insbesondere durch weitere Ernennungen von politischen Beauftragten auf der Ebene hoher Beamter und die Senkung der beruflichen Anforderungen an die Amtsinhaber (EC 6.10.2020).
Der Europarat leitete im April 2017 im Zuge der Verfassungsänderung, welche zur Errichtung des Präsidialsystems führte, ein parlamentarisches Monitoring über die Türkei als dessen Mitglied ein, um mögliche Fehlentwicklungen aufzuzeigen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stellte in ihrer Resolution vom April 2021 fest, dass zu den schwerwiegendsten Problemen die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, das Fehlen ausreichender Garantien für die Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, die Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, die missbräuchliche Auslegung der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Nichtumsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Einschränkung des Schutzes der Menschen- und Frauenrechte und die Verletzung der Grundrechte von Politikern und (ehemaligen) Parlamentsmitgliedern der Opposition, Rechtsanwälten, Journalisten, Akademikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft gehören (PACE 22.4.2021, S.1).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf (vor der Verfassungsänderung vier) Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Die Zehn-Prozent-Hürde, die höchste unter den OSZEMitgliedstaaten, wurde trotz der langjährigen Empfehlung internationaler Organisationen und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht gesenkt. Die unter der Militärherrschaft verabschiedete Verfassung garantiert die Grundrechte und -freiheiten nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates konzentriert und der Gesetzgebung erlaubt, weitere unangemessene Einschränkungen festzulegen. Die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit und das Wahlrecht selbst werden durch die Verfassung und die Gesetzgebung übermäßig eingeschränkt (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 16.4.2017 stimmten 51,4% der türkischen Wählerschaft für die von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung im Sinne eines exekutiven Präsidialsystems (OSCE 22.6.2017; vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und PACE kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terror-Sympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdo?an mit 52,6% der Stimmen bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit für die Wiederwahl. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AKP 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen MHP unter dem Namen „Volksbündnis“ verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekulare Republikanische Volkspartei (CHP) gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative ?yi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 27.6.2018). Trotz einer echten Auswahl bestand keine Chancengleichheit zwischen den kandidierenden Parteien. Der amtierende Präsident und seine AKP genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem (damals noch) geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, auch in den Medien, ein (OSCE/ODIHR 21.9.2018).
Am 23.6.2019 fand in Istanbul die Wiederholung der Bürgermeisterwahl statt. Diese war von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet (NZZ 23.6.2019). Bei der ersten Wahl am 31.3.2019 hatte der Kandidat der oppositionellen CHP, Ekrem ?mamo?lu, mit einem Vorsprung von nur 13.000 Stimmen gewonnen. Die regierende AKP hatte jedoch das Ergebnis angefochten, sodass die Hohe Wahlkommission am 6.5.2019 schließlich die Wahl wegen formaler Fehler bei der Besetzung einiger Wahlkomitees annullierte (FAZ 23.6.2019; vgl. Standard 23.6.2019). ?mamo?lu gewann die wiederholte Wahl mit 54%. Der Kandidat der AKP, Ex-Premierminister Binali Y?ld?r?m, erreichte 45% (Anadolu 23.6.2019). Die CHP löste damit die AKP nach einem Vierteljahrhundert als regierende Partei in Istanbul ab (FAZ 23.6.2019). Bei den Lokalwahlen vom 30.3.2019 hatte die AKP von Staatspräsident Erdo?an bereits die Hauptstadt Ankara (nach 20 Jahren) sowie die GroßstädteAdana,Antalya und Mersin an die Opposition verloren. Ein wichtiger Faktor war der Umstand, dass die pro-kurdische HDP auf eine Kandidatur im Westen des Landes verzichtete (Standard 1.4.2019) und deren inhaftierter Vorsitzende, Selahattin Demirta?, auch bei der Wahlwiederholung seine Unterstützung für ?mamo?lu betonte (NZZ 23.6.2019).
Die Gesetzgebungsverfahren sind nicht effektiv. Präsidialdekrete bleiben der parlamentarischen Beratung und Kontrolle entzogen (EC 6.10.2020; vgl. ÖB 10.2020). Präsidialdekrete können nur noch vom Verfassungsgericht aufgehoben werden (ÖB 10.2020) und zwar nur noch durch eine Klage von einer der beiden größten Parlamentsfraktionen oder von einer Gruppe von Abgeordneten, die ein Fünftel der Parlamentssitze repräsentieren (SWP 4.2021, S.9). Parlamentarier haben kein Recht, mündliche Anfragen zu stellen. Schriftliche Anfragen können nur an den Vizepräsident und Minister gerichtet werden. Der Rechtsrahmen verankert zwar den Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialdekreten und bewahrt somit das Vorrecht des Parlaments, nichtsdestotrotz hat der Präsident bis Dezember 2019 53 Dekrete erlassen, die ein breites Spektrum sozioökonomischer Politikbereiche abdecken und eben nicht in den Geltungsbereich von Präsidialdekreten fallen (EC 6.10.2020). Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen, den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialdekrete zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen, das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft, das Regierungsbudget zu erstellen und 4 von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat jedoch das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialdekreten beantragen kann (EC 29.5.2019).
Der Präsident kann einen Ausnahmezustand selbständig ausrufen. Die zulässigen Gründe sind extrem weit gefasst. Im Ausnahmezustand gibt es keine Grenzen für die Reichweite von Präsidialdekreten. Gegen diese ist kein Einspruch beim Verfassungsgericht möglich (SWP 4.2021, S.9).
Zunehmende politische Polarisierung verhindert weiterhin einen konstruktiven parlamentarischen Dialog. Die Marginalisierung der Opposition, insbesondere der HDP, hält an. Viele der HDP-Abgeordneten sowie deren beide ehemaligen Ko-Vorsitzende befinden sich nach wie vor in Haft (Stand Ende Dezember 2020), im Falle von Selahattin Demirta? trotz eines neuerlichen Urteils des EGMR, diesen sofort frei zu lassen (ZO 22.12.2020). Von den ursprünglichen, bei der Wahl 2018 errungenen 67 Mandaten (HDN 27.6.2018) waren nach der Aufhebung der parlamentarischen Immunität des HDP-Abgeordneten, Ömer Faruk Gergerlio?lu, am 17.3.2021 und dessen Verhaftung bzw. Bekräftigung des Gerichtsurteils vom Februar 2018 von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe nur mehr 55 HDP-Parlamentarier übrig (AM 17.3.2021; vgl. AAN 17.3.2021) Die Unzulänglichkeiten des Systems der parlamentarischen Immunität, das die Meinungsfreiheit von gewählten Amtsträgern außerhalb des Parlaments einschränkt, bleiben ungelöst (EC 6.10.2020).
PACE beanstandete in ihrer Resolution vom April 2021 das schwache Rahmenwerk zum Schutze der parlamentarischen Immunität in der Türkei. PACE stellte mit Besorgnis fest, dass ein Drittel der Parlamentarier von Gerichtsverfahren betroffen ist und ihre Immunität aufgehoben werden könnte. Überwiegend Parlamentarier der Opposition sind von diesen Verfahren betroffen, wobei von diesen wiederum die Parlamentarier der HDP mehrheitlich betroffen sind. Auf letztere entfallen 75% der Verfahren, zumeist wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen. Drei Abgeordnete der HDP verloren ihre Mandate in den Jahren 2020 und 2021 nach rechtskräftigen Verurteilungen wegen Terrorismus, während neun HDP-Parlamentarier (Stand April 2021) mit verschärften lebenslangen Haftstrafen für ihre angebliche Organisation der „Kobane-Proteste“ im Oktober 2014 rechnen müssen. In der Besorgnis, dass die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Oppositionsmandataren zur Routine wird, forderte PACE daher die türkischen Behörden auf, die gerichtlichen Schikanen gegen Parlamentarier zu beenden und von der Einleitung zahlreicher Verfahren zur unzulässigen Aufhebung ihrer Immunität abzusehen, die die Ausübung ihres politischen Mandats ernsthaft behindern (PACE 22.4.2021, S.2f.).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser negativ auf Demokratie und Grundrechte aus. Einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumen und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert (EC 6.10.2020). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen bei Verdacht, dass sie „die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören“, bis zu 15 Tage den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Der neue Gesetzestext regelt auch im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können (ZO 25.7.2018). Mehr als 152.000 Beamte, darunter Akademiker, Lehrer, Polizisten, Gesundheitspersonal, Richter und Staatsanwälte, wurden durch Notverordnungen entlassen. Mehr als 150.000 Personen wurden während des Ausnahmezustands verhaftet und mehr als 78.000 aufgrund Vorwürfen mit Terrorismusbezug festgenommen (EC 29.5.2019).
Im September 2016 verabschiedete die Regierung ein Dekret, das die Ernennung von „Treuhändern“ anstelle von gewählten Bürgermeistern, stellvertretenden Bürgermeistern oder Mitgliedern von Gemeinderäten, die wegen Terrorismusvorwürfen suspendiert wurden, erlaubt. Dieses Dekret wurde im Südosten der Türkei vor und nach den Kommunalwahlen 2019 großzügig angewandt (DFAT 10.9.2020). Mit Stand Oktober 2020 war die Zahl der Gemeinden, denen aufgrund der Lokalwahlen vom März 2019 ursprünglich ein Bürgermeister aus den Reihen der HDP vorstand (insgesamt 65) um 48 reduziert. Die Zentralregierung entfernte die gewählten Bürgermeister, hauptsächlich mit der Begründung, dass diese angeblich Verbindungen zu terroristischen Organisationen hatten, und ersetzte sie durch Treuhänder (EC 6.10.2020; vgl. bianet 2.10.2020). Die Kandidaten waren jedoch vor den Wahlen überprüft worden, sodass ihre Absetzung noch weniger gerechtfertigt war. Hunderte von HDP-Kommunalpolitikern und gewählten Amtsinhabern sowie Tausende von Parteimitgliedern wurden wegen terroristischer Anschuldigungen inhaftiert. Da keine Anklage erhoben wurde, verstießen laut Europäischer Kommission diese Maßnahmen gegen die Grundprinzipien einer demokratischen Ordnung, entzogen den Wählern ihre politische Vertretung auf lokaler Ebene und schadeten der lokalen Demokratie (EC 6.10.2020).
Quellen:
• AA–AuswärtigesAmt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der _Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 1.10.2020
• AAN – Al Arabiya News (17.3.2021): Turkey’s parliament strips pro-Kurdish deputy of seat in blow to third largest party, https://english.alarabiya.net/News/middle-east/2021/03/17/Turkey-s-parliam ent-strips-pro-Kurdish-deputy-of-seat-in-blow-to-third-largest-party , Zugriff 23.3.2021
• AM – Al Monitor (17.3.2021): Lawsuit filed to close pro-Kurdish party after lawmaker stripped of parliamentary seat, https://www.al-monitor.com/originals/2021/03/lawsuit-close-pro-kurdish-party-l awmaker-parliament-seat.html , Zugriff 23.2.2021
• Anadolu – Anadolu Agency (23.6.2019): CHP’s Imamoglu wins Istanbul’s mayoral poll, https: //www.aa.com.tr/en/politics/chps-imamoglu-wins-istanbul-s-mayoral-poll/1513613 , Zugriff 20.10.2020
• bianet (2.10.2020): Co-Mayor Ayhan Bilgen arrested, trustee appointed to Kars Municipality, http: //bianet.org/english/politics/231997-co-mayor-ayhan-bilgen-arrested-trustee-appointed-to-kars-mu nicipality, Zugriff 5.10.2020
• DFAT – Department of ForeignAffairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 20.10.2020
• EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 9.10.2020
• EC – European Commission (29.5.2019): Turkey 2019 Report [SWD (2019) 220 final], https://www.ecoi.net/en/file/local/2010472/20190529-turkey-report.pdf, Zugriff 9.10.2020
• FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.6.2019): Erdogan gratuliert Imamoglu zum Wahlsieg in Istanbul, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wieder-niederlage-fuer-erdogans-akp-in-istan bul-16250529.html , Zugriff 20.10.2020
• HDN – Hürriyet Daily News (27.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen, Ergebnisse Parlamentswahlen, https://web.archive.org/web/20180730173700/http://www.hurriyetda ilynews.com:80/wahlen-turkei-2018 , Zugriff 20.10.2020
• HDN – Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.asp x?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338 , Zugriff 20.10.2020
• NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.6.2019): Niederlage für Erdogans AKP: CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt erneut die Bürgermeisterwahl in Istanbul, https://www.nzz.ch/international/niederlage-fuer -erdogans-akp-chp-kandidat-imamoglu-gewinnt-erneut-die-buergermeisterwahl-in-istanbul-ld.149 0981 , Zugriff 20.10.2020
• NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnah mezustands-weitergeht-ld.1404273 , Zugriff 25.1.2021
• ÖB – Österreichische Botschaft – Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https: //www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf , Zugriff 20.10.2020
• OSCE – Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?dow nload=true , Zugriff 20.10.2020
• OSCE/PACE – Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey – Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true , Zugriff 20.10.2020
• OSCE/ODIHR – Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (21.9.2018): Turkey, Early Presidential and Parliamentary Elections, 24 June 2018: Final Report ,https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/397046?download=true , 20.10.2020
• PACE – Parliamentary Assembly of the Council of Europe (22.4.2021): The functioning of democratic institutions in Turkey, Resolution 2376 (2021), https://pace.coe.int/files/29189/pdf , Zugriff 23.4.2021
• Standard – Der Standard (23.6.2019): Opposition gewinnt Wahlwiederholung in Istanbul, https: //derstandard.at/2000105305388/Imamoglu-bei-Auszaehlung-der-Wahlwiederholung-in-Istanbul-i n-Fuehrungin-Istanbul , Zugriff 20.10.2020
• Standard – Der Standard (1.4.2019): Erdo?ans AKP verliert bei türkischer Kommunalwahl die Großstädte, https://derstandard.at/2000100581333/Erdogans-AKP-verliert-die-tuerkischen-Gross staedte , Zugriff 20.10.2020
• SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik [Seufert, Günter/Adar, Sinem] (4.2021): Turkey’s Presidential System after Two and a Half Years.An Overview of Institutions and Politics, https://www.swp-berl in.org/fileadmin/contents/products/research_papers/2021RP02_Turkey_Presidential_System.pdf , Zugriff 28.4.2021
• ZO – Zeit Online (22.12.2020): Menschenrechtshof fordert Freilassung von türkischem Oppositionellen, https://www.zeit.de/politik/2020-12/selahattin-demirtas-europaeischer-gerichtshof-mensch enrechte-tuerkei , Zugriff 28.12.2020
• ZO – Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/au sland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen , Zugriff 20.10.2020
Sicherheitslage
Die Türkei steht vor einer Reihe von Herausforderungen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit. Dazu gehören der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Südosten des Landes, externe Sicherheitsbedrohungen im Zusammenhang mit der Beteiligung der Türkei an Konflikten in Syrien und im Irak sowie die Bedrohung durch Terroranschläge durch interne und externe Akteure (DFAT 10.9.2020).
Die Regierung sieht die Sicherheit des Staates durch mehrere Akteure gefährdet: namentlich durch die seitens der Türkei zur Terrororganisation erklärten Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, durch die auch in der EU als Terrororganisation gelistete PKK, durch, aus türkischer Sicht, mit der PKK verbundene Organisationen, wie die YPG in Syrien, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) und weitere terroristische Gruppierungen, wie der linksextremistischen DHKP-C. Die Ausrichtung des staatlichen Handelns auf die „Terrorbekämpfung“ und die Sicherung „nationaler Interessen“ hat infolgedessen ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften, vornehmlich durch die PKK und ihre Ableger, den sog. IS und im geringen Ausmaß durch die DHKP-C (AA 24.8.2020; vgl. SDZ 29.6.2016, AJ 12.12.2016).
Die Lage im Südosten des Landes ist weiterhin sehr besorgniserregend (EC 6.10.2020). Der Konflikt zwischen der Regierung und der PKK dauert an. Bestehende Spannungen werden durch die Lage-Entwicklung in Syrien und Irak verstärkt. Es kommt immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen PKK-Kämpfern und den Sicherheitskräften (EDA 28.4.2021), wenn auch auf einem geringeren Niveau als in den Vorjahren. Diese führen zu Verletzten und Toten unter den Sicherheitskräften, PKK-Kämpfern aber auch unter der Zivilbevölkerung. Diesbezüglich gibt es glaubwürdige Hinweise, dass die Regierung im Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die PKK zum Tod von Zivilisten beigetragen hat (USDOS 30.3.2021, S.2;25). Die zahlreichen Anschläge der PKK richten sich hauptsächlich gegen die Sicherheitskräfte, treffen jedoch auch Zivilpersonen. Die Sicherheitskräfte führen groß angelegte Operationen und Strassencheckpoints durch, bei denen es auch zu Risiken für anwesende Zivilpersonen kommen kann. Auch bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Sicherheitskräften kann es zu Todesopfern und Verletzten kommen (EDA 28.4.2021). In den Grenzgebieten ist die Sicherheitslage durch wiederkehrende Terrorakte der PKK prekärer (EC 6.10.2020).
Laut der türkischen Menschenrechtsvereinigung (?HD) kamen 2019 bei bewaffneten Auseinandersetzungen 440 Personen ums Leben, davon 98 Angehörige der Sicherheitskräfte, 324 bewaffnete Militante und 18 Zivilisten (?HD 18.5.2020a). 2018 starben 502 Personen, davon 107 Sicherheitskräfte, 391 bewaffnete Militante und vier Zivilisten (?HD 19.4.2019). 2017 betrug die Zahl der Todesopfer 656 (?HD 24.5.2018) und 2016, am Höhepunkt der bewaffneten Auseinandersetzungen, 1.757 (?HD 1.2.2017). Die International Crisis Group zählte seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe über 5.300 Tote (PKK-Kämpfer, Sicherheitskräfte, Zivilisten) im Zeitraum Juli 2015 bis April 2021. Im Jahr 2020 wurden 366 Opfer registriert. Besonders hoch waren die Zahlen in den Monaten Mai bis September 2020. In den ersten vier Monaten des Jahres 2021 wurden 56 Tote gezählt (ICG 4.5.2021). Es gab keine Entwicklungen hinsichtlich der Wiederaufnahme eines glaubwürdigen politischen Prozesses zur Erzielung einer friedlichen und nachhaltigen Lösung (EC 6.10.2020).
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (EDA 28.4.2021). Im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien und Irak, insbesondere in Diyarbak?r, Cizre, Silopi, Idil, Yüksekova und Nusaybin sowie generell in den Provinzen Mardin, ??rnak und Hakkâri bestehen erhebliche Gefahren durch angrenzende Auseinandersetzungen. In den Provinzen Hatay, Kilis, Gaziantep, ?anl?urfa, Diyarbak?r, Mardin, Batman, Bitlis, XXXX , Siirt, Mu?, Tunceli, ??rnak, Hakkâri und Van besteht ein erhöhtes Risiko. Die Behörden verhängen Ausgangssperren von unterschiedlicher Dauer in bestimmten städtischen und ländlichen Regionen und errichten in einigen Gebieten spezielle Sicherheitszonen, um die Operationen gegen die PKK zu erleichtern. Können Bewohner vor Beginn von Sicherheitsoperationen gegen die PKK ihre Häuser nicht rechtzeitig verlassen, sind sie mitAusgangssperren von unterschiedlichem Umfang und Dauer konfrontiert (USDOS 30.3.2021, S.25; vgl. AA 28.4.2021). Sicherheitszonen und Ausgangssperren werden streng kontrolliert, das Betreten der Sicherheitszonen ist strikt verboten. Zur Einrichtung von Sicherheitszonen und Verhängung von Ausgangssperren kam es bisher insbesondere im Gebiet südöstlich von Hakkâri entlang der Grenze zum Irak sowie in Diyarbak?r und Umgebung sowie südöstlich der Ortschaft Cizre, aber auch in den Provinzen Gaziantep, Kilis, Urfa, Hakkâri, Batman und A?r? (AA 28.4.2021).
Laut Medienberichten wurde am 7.4.2021 im türkischen Amtsblatt (Resmî Gazete) gemäß dem Gesetz zur Verhinderung von Terrorfinanzierung eine zwölfseitige Liste mit insgesamt 377 Personen veröffentlicht, deren Vermögen in der Türkei eingefroren wurde (BAMF 19.4.2021). Die Assets von 205 Gülen-, 86 IS-, 77 PKK- und neun DHKP-C-Mitgliedern wurden blockiert (Anadolu 7.4.2021).
Das türkische Parlament stimmte (mit Ausnahme der pro-kurdischen HDP) am 7.10.2020 einem Gesetzentwurf zu, das Mandat für grenzüberschreitende Militäroperationen sowohl im Irak als auch in Syrien um ein weiteres Jahr zu verlängern (BAMF 19.10.2020).
Quellen:
• AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.4.2021): Reise- und Sicherheitshinweise (COVID-19bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/tuerkei-node/ tuerkeisicherheit/201962#content_1 , Zugriff 28.4.2021
• AA–AuswärtigesAmt [Deutschland] (24.8.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2037143/Deutschland___Ausw%C3
%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Republik_T%C3%BCrkei_%28Stand_Juni_2020%29%2C_24.08.2020.pdf , Zugriff 7.10.2020
• AJ – Al Jazeera (12.12.2016): Turkey detains pro-Kurdish party officials after attack, https://www. aljazeera.com/news/2016/12/12/turkey-detains-pro-kurdish-party-officials-after-attack/ , Zugriff 8.10.2020
• Anadolu – Anadolu Agency [Türkei] (7.4.2021): Turkey blocks assets of 377 members of terrorist groups, https://www.aa.com.tr/en/turkey/turkey-blocks-assets-of-377-members-of-terrorist-groups/ 2200499 , Zugriff 20.4.2021
• BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.4.2021): Briefing Notes KW 16, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw16-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3 , Zugriff 20.4.2021
• BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.10.2020): Briefing Notes KW 43, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2 020/briefingnotes-kw43-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=6, Zugriff 28.10.2020
• DFAT – Department of ForeignAffairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf, Zugriff 20.10.2020
• EC – European Commission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final],
https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 19.10.2020
• EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten [Schweiz] (28.4.2021): Reisehinweise Türkei, Spezifische regionale Risiken, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertret ungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html , Zugriff 28.4.2021
• ICG – International Crisis Group (4.5.2021): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https: //www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 28.12.2020
• ?HD – ?nsan Haklar? Derne?i – Human Rights Association (18.5.2020a): 2019 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2020/05/2019-SUMM ARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf, Zugriff 7.10.2020
• ?HD – ?nsan Haklar? Derne?i – Human Rights Association (19.4.2019): 2018 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2019/05/2018-SUMM
ARY-TABLE-OF-HUMAN-RIGHTS-VIOLATIONS-IN-TURKEY.pdf , Zugriff 20.10.2020
• ?HD – ?nsan Haklar? Derne?i – Human Rights Association (24.5.2018): 2017 Summary Table of Human Rights Violations In Turkey, http://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2018/05/IHD_2017_bal ance-sheet-1.pdf , Zugriff 17.10.2020
• ?HD – ?nsan Haklar? Derne?i – Human Rights Association (1.2.2017): IHD’s 2016 Report on Human Rights Violations in Eastern and Southeastern Anatolia Region, https://ihd.org.tr/en/ihds-2016-re port-on-human-rights-violations-in-eastern-and-southeastern-anatolia/ , Zugriff 19.10.2020
• SDZ – Süddeutsche Zeitung (29.6.2016) [ANM.: Ohne ein Aktualisierungsdatum zu nennen, sind Ereignisse bis Jän. 2017 hinzugefügt]: Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.suedde utsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595 , Zugriff 19.10.2020
• USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on Human Rights Practices 2020 – Turkey, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2021/03/TURKEY-2020-HUM AN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 1.4.2021
• USDOS – United States Department of State [USA] (24.6.2020): Country Report on Terrorism 2019– Chapter 1 – Turkey, https://www.ecoi.net/de/dokument/2032441.html , Zugriff 19.10.2020
Terroristische Gruppierungen: PKK – Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
Der Kampf der marxistisch orientierten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die nicht nur in der Türkei verboten, sondern auch von den USAund der EU als terroristische Organisation eingestuft ist, wird gegenwärtig offiziell für eine weitreichende Autonomie innerhalb der Türkei geführt (ÖB 10.2020).
Ein von der PKK angeführter Aufstand tötete zwischen 1984 und einem Waffenstillstand im Jahr 2013 schätzungsweise 40.000 Menschen. Der Waffenstillstand brach im Juli 2015 zusammen, was zu einer Wiederaufnahme der Sicherheitsoperationen führte. Seitdem wurden über 5.000 Menschen getötet (DFAT 10.9.2020). Andere Quellen gehen unter Berufung auf vermeintliche Armeedokumente von fast 7.900 Opfern, darunter PKK-Kämpfer und Zivilisten, durch das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte aus, zuzüglich 520 getöteter Angehöriger der Sicherheitskräfte (NM 11.4.2020). Der PKK-Gewalt standen Verhaftungen und schwere Menschenrechtsverletzungen seitens der türkischen Militärregierung (ab 1980) gegenüber. Die PKK agiert vor allem im Südosten, in den Grenzregionen zum Iran und Syrien sowie im Nord-Irak, wo auch ihr Rückzugsgebiet, das Kandil-Gebirge, liegt (ÖB 10.2020).
Zu den Kernforderungen der PKK gehören nach wie vor die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie der Kurden unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in ihren türkischen, aber auch syrischen Siedlungsgebieten (BMIBH 7.2020).
2012 initiierte die Regierung den sog. „Lösungsprozess“ (keine offiziellen Verhandlungen), bei dem zum Teil auch auf Vermittlung durch Politiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zurückgegriffen wurde. Nach der Wahlniederlage der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Juni 2015 (Verlust der absoluten Mehrheit), dem Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament und den militärischen Erfolgen kurdischer Kämpfer im benachbarten Syrien, brach der gewaltsame Konflikt wieder aus (ÖB 10.2020). Auslöser für eine neuerliche Eskalation des militärischen Konflikts war auch ein der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugerechneter Selbstmordanschlag am 20.7.2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç, der über 30 Tote und etwa 100 Verletzte gefordert hatte. PKK-Guerillaeinheiten töteten daraufhin am 22.7.2015 zwei türkische Polizisten, die sie einer Kooperation mit dem IS bezichtigten. Das türkische Militär nahm dies zum Anlass, in der Nacht zum 25.7.2015 Bombenangriffe auf Lager der PKK in Syrien und im Nordirak zu fliegen. Parallel fanden in der Türkei landesweite Exekutivmaßnahmen gegen Einrichtungen der PKK statt. Noch am selben Tag erklärten die PKK-Guerillaeinheiten den seit März 2013 jedenfalls auf dem Papier bestehenden Waffenstillstand mit der türkischen Regierung für bedeutungslos (BMI-D 6.2016). Der Lösungsprozess wurde vom Präsidenten für gescheitert erklärt. Ab August 2015 wurde der Kampf von der PKK in die Städte des Südostens getragen: Die Jugendorganisation der PKK hob in den von ihnen kontrollierten Stadtvierteln Gräben aus und errichtete Barrikaden, um den Zugang zu sperren. Die Kampfhandlungen, die bis ins Frühjahr 2016 anhielten, waren von langen Ausgangssperren begleitet und forderten zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung (ÖB 10.2020).
Die International Crisis Group verzeichnet mit Stand 25.3.2021 3.265 getötete PKK-Kämpfer bzw. mit ihr Verbündete seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe 2015, schätzt jedoch selbst die Dunkelziffer als höher ein. Die türkischen Behörden sprechen hingegen von über 10.000 „neutralisierten“ PKK-Kämpfern, d.h. diese wurden getötet oder festgenommen. Besonders stark betroffen waren die südöstlichen Provinzen: Hakkari, ??rnak, Sur, Diyarbak?r sowie die zentralöstliche Provinz Tunceli (Dersim) (ICG 25.3.2021).
Die Kampfhandlungen zwischen dem türkischen Militär und den Guerilla-Einheiten der PKK in den südost-anatolischen und den nordsyrischen Gebieten mit überwiegend kurdischer Bevölkerungsmehrheit setzten sich fort und verschärften sich teils noch. Schon aus diesem Grund erscheint eine Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der türkischen Regierung gegenwärtig als unwahrscheinlich (BMIBH 7.2020; vgl. ICG 25.3.2021).
Bei einer der größten Anti-Terror-Operationen in 42 Provinzen wurden Ende November 2020 laut Innenministerium mindestens 641 vermeintliche PKK-Mitglieder festgenommen (Anadolu 28.11.2020). Bis Anfang Dezember hatten 218 PKK-Mitglieder durch die Überzeugungsarbeit der Behörden laut Innenministerium freiwillig ihre Waffen niedergelegt bzw. sich gestellt (Anadolu 3.12.2020).
Mitte Februar 2021 wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in 40 Städten insgesamt 718 Menschen wegen angeblicher Kontakte zur verbotenen PKK festgenommen, darunter auch führende Vertreter der pro-kurdischen Parlamentspartei HDP. Bei den Polizeieinsätzen seien zahlreiche Waffen, Dokumente und Dateien beschlagnahmt worden. Die Festnahmen erfolgten einen Tag, nachdem die Regierung erklärt hatte, im Nordirak die Leichen von 13 in den Jahren 2015 und 2016 entführten Türken, darunter Soldaten und Polizisten, gefunden zu haben. Die Regierung warf der PKK vor, die Gefangenen im Zuge der Geiselbefreiungsaktion des türkischen Militärs exekutiert zu haben. Die PKK wies dies zurück und erklärte, sie wären durch türkische Bombardierungen und Gefechte ums Leben gekommen (DW 15.2.2021; vgl. Standard 15.2.2021). Alle drei parlamentarischen Oppositionsparteien gaben der Regierung die Schuld, da diese nicht zuvor gehandelt hätte, obwohl der Fall seitens der Opposition angesprochen wurde. Laut HDP hätten Verhandlungen in früheren ähnlichen Fällen eine Rettung ermöglicht (Duvar 15.2.2021).
In der Türkei kann es zur strafrechtlichen Verfolgung von Personen kommen, die nicht nur dem militanten Arm der PKK angehören. So können sowohl österreichische Staatsbürger als auch türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich durchaus ins Visier der türkischen Behörden geraten, wenn sie beispielsweise einem der PKK freundlich gesinnten Verein, der in Österreich oder in einem anderen EU-Mitgliedstaat aktiv ist, angehören oder sich an dessen Aktivitäten beteiligen. Eine Mitgliedschaft in einem solchen Verein oder auch nur auf Facebook oder in sonstigen sozialen Medien veröffentlichte oder mit „gefällt mir“ markierte Beiträge eines solchen Vereins können bei der Einreise in die Türkei zur Verhaftung und Anklage wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung führen. Auch können Untersuchungshaft und ein Ausreiseverbot über solche Personen verhängt werden (ÖB 10.2020).
Quellen:
• Anadolu – Anadolu Agency (3.12.2020): 218 terrorists surrendered to Turkish forces in 2020, https: //www.aa.com.tr/en/turkey/218-terrorists-surrendered-to-turkish-forces-in-2020/2064008 , Zugriff 3.12.2010
• Anadolu – Anadolu Agency (28.11.2020): Suspects rounded up in 42 provinces during 2-day operations, says Interior Ministry, https://www.aa.com.tr/en/turkey/over-640-pkk-terror-suspects-nab bed-across-turkey/2059291 , 3.12.2020
• BMIBH – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (7.2020): Verfassungsschutzbericht 2019, https://www.verfassungsschutz.de/downl oad/vsbericht-2019.pdf , Zugriff 3.11.2020
• BMI-D – Bundesministerium des Innern/ Bundesamt für Verfassungsschutz [Deutschland] (6.2016): Verfassungsschutzbericht 2015, https://www.verfassungsschutz.de/de/download-manager/_vsber icht-2015.pdf , Zugriff 3.11.2020
• DFAT – Department of ForeignAffairs and Trade [Australien] (10.9.2020): DFAT Country Information Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2038892/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 2.11.2020
• Duvar (15.2.2021): Turkey announces sweeping roundup of 718 people, including HDP officials, after Iraq killings, https://www.duvarenglish.com/turkey-announces-sweeping-roundup-of-718-pe ople-including-hdp-officials-after-iraq-killings-news-56261 , Zugriff 19.2.2021
• DW – Deutsche Welle (15.2.2021): Türkei nimmt Hunderte wegen angeblicher PKK-Kontakte fest, https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-nimmt-hunderte-wegen-angeblicher-pkk-kontakte-fest/a-5 6575099 , Zugriff 19.2.2021
• ICG – International Crisis Group (25.3.2021): Turkey’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https: //www.crisisgroup.org/content/turkeys-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 23.4.2021
• NM – Nordic Monitor (11.4.2020): Over 12,000 killed or wounded during Turkey’s security operations in Kurdish areas in 2015-2016, https://www.nordicmonitor.com/2020/04/more-than-twelve-thous and-people-were-killed-or-wounded-during-turkeys-security-operations-in-2015-2016/ , Zugriff 10.12.2020
• ÖB – Österreichische Botschaft - Ankara [Österreich] (10.2020): Asylländerbericht Türkei, https://www.ecoi.net/en/file/local/2044096/TUER_%C3%96B+Asyll%C3%A4nderbericht_10_2020.pdf , Zugriff 18.11.2020
• Standard – Der Standard (15.2.2021): Türkei ließ in prokurdischen Kreisen über 700 Menschen festnehmen, https://www.derstandard.at/story/2000124178508/tuerkische-menschenrechtsanwa eltin-eren-keskin-zu-langer-haft-verurteilt , Zugriff 19.1.2021
Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen
Die Rechtsstaatlichkeit wird ausgehöhlt und die Grundfreiheiten werden weiter eingeschränkt. Dies markiert eine Beschleunigung des Prozesses der Autokratisierung, der im Land bereits zuvor im Gange war (BS 29.4.2020). Die ernsthaften Bedenken der EU hinsichtlich einer weiteren Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz wurden in vielen Bereichen nicht ausgeräumt, sondern verzeichneten im Gegenteil weitere Rückschritte (EC 6.10.2020; vgl. PACE 24.1.2019). Die Situation in Hinblick auf die Justizverwaltung und die Unabhängigkeit der Justiz hat sich merkbar verschlechtert (CoECommDH 19.2.2020; vgl. EC 6.10.2020, USDOS 30.3.2021, S.1;14f.). Seine Besorgnis über die anhaltende Verschlechterung der Grundrechte und -freiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere über den anhaltenden Rückschritt der Türkei in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz brachte im Jänner 2021 auch das Europäische Parlament in einer Resolution zum Ausdruck (EP 21.1.2021). Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, verschärft haben und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Verfahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020).
Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zahlreiche Maßnahmen des Ausnahmezustandes, darunter insbesondere die Verleihung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behörden und Einschränkungen der Grundfreiheiten, wurden nunmehr gesetzlich verankert. Besonders problematisch sind der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung sowie einzelne Artikel des türkischen Strafgesetzbuches, so Art. 301 – Verunglimpfung/Herabsetzung des türkischen Staates und seiner Institutionen; Art. 299 – Beleidigung des Staatsoberhauptes (ÖB 10.2020). Teile der Notstandsvollmachten wurden auf die vom Staatspräsidenten ernannten Provinzgouverneure übertragen (AA 14.6.2019). Diese können nicht nur das Versammlungsrecht einschränken, sondern haben großen Spielraum bei der Entlassung von Beamten, inklusive Richtern (ÖB 10.2020). Das Gesetz Nr. 7145 sieht auch keine Abschwächung der Kriterien vor, auf Grundlage derer (Massen-)Entlassungen ausgesprochen werden können (wegen Verbindungen zu Terrororganisationen, Handeln gegen die Sicherheit des Staates etc.). Ein adäquater gerichtlicher Überprüfungsmechanismus ist nicht vorgesehen. Beibehalten wird auch die Möglichkeit, Reisepässe der entlassenen Person einzuziehen (ÖB 10.2019).
Rechtsanwaltsvereinigungen aus 25 Städten sahen in einer öffentlichen Deklaration im Februar 2020 die Türkei in der schwersten Justizkrise seit dem Bestehen der Republik, insbesondere infolge der Einmischung der Regierung in die Gerichtsbarkeit, der Politisierung des Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK), der Inhaftierung von Rechtsanwälten und des Ignorierens von Entscheidungen der Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (bianet 24.2.2020). Hinzukommt, dass die Regierung im Juli 2020 ein neues Gesetz verabschiedete, um die institutionelle Stärke der größten türkischen Anwaltskammern zu reduzieren, die den Rückschritt der Türkei in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert haben (HRW 13.1.2021).
Im vom World Justice Project jährlich erstellten „Rule of Law Index“ rangierte die Türkei im Jahr 2020 auf Platz 107 von 128 untersuchten Ländern. Der statistische Indikator verharrte wie 2019 auf dem Messwert von 0,43 (1 ist der statistische Bestwert, 0 der absolute Negativwert). Besonders schlecht schnitt das Land in den Unterkategorien „Grundrechte“ mit 0,32 (Rang 123 von 128) und „Einschränkungen der Macht der Regierung“ mit 0,30 sowie bei der Strafjustiz mit 0,38 ab. Gut war der Wert für „Ordnung und Sicherheit“ mit 0,69, der annähernd dem globalen Durchschnitt von 0,72 entsprach (WJP 11.3.2020).
Gemäß Art. 138 der Verfassung sind Richter in der Ausübung ihrer Ämter u