TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/19 L516 2172134-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2021
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Entscheidungsdatum

19.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch


L516 2172134-1/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Paul NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb XXXX alias XXXX , StA Pakistan, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.09.2017, Zahl 1139752701-170029677, nach mündlicher Verhandlung am 07.06.2021 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 Abs 1, § 8 Abs 1, § 57, § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs 2 Z 2 und Abs 9 sowie § 46 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

Der Beschwerdeführer ist pakistanischer Staatsangehöriger und stellte am 08.01.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies mit gegenständlich angefochtenem Bescheid den Antrag (I.) gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und (II.) gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab. Das BFA erteilte unter einem (III.) keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs 9 FPG fest, dass die Abschiebung nach Pakistan gemäß § 46 FPG zulässig sei und sprach (IV.) aus, dass gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde. Der Bescheid wird zur Gänze angefochten.

Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache am 07.06.2021 eine mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer mit seiner Vertretung teilnahm, ein Vertreter der belangten Behörde erschien nicht.

1. Sachverhaltsfeststellungen:

[regelmäßige Beweismittel-Abkürzungen: AS=Aktenseite des Verwaltungsaktes des BFA; EB=Erstbefragung; EV=Einvernahme; NS=Niederschrift; VS=Verhandlungsschrift der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht; S=Seite; OZ=Ordnungszahl des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichtes; ZMR=Zentrales Melderegister; IZR=Zentrales Fremdenregister; GVS= Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich; SD=Staatendokumentation des BFA; LIB=Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA]

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Lebensverhältnissen in Pakistan

Der Beschwerdeführer führt in Österreich den im Spruch angeführten Namen sowie die ebenso dort angeführte Geburtsdatum. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Pakistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen sowie der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an. Seine Identität steht nicht fest. (NS EB 09.01.2017 S 1; NS EV 11.07.2017 AS 173; Gutachten AS 85-116; Feststellung des Mindestalters durch das BFA AS 117)

Der Beschwerdeführer stammt aus dem Ort XXXX , welcher im Tehsil XXXX , Subthesil XXXX in der Nähe von XXXX , im Distrikt Lower Dir in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa (bis 2018 Gebiet der FATA) liegt. Er hat in Pakistan acht Jahre die Schule besucht. Die Mutter und die Geschwister des Beschwerdeführers leben nach wie vor am Heimatort des Beschwerdeführers, wo auch dieser vor seiner Ausreise gelebt hat. Seine Brüder besuchen die Schule. Sein Vater arbeitet als Taxifahrer in Saudi-Arabien und besucht die Familie in Pakistan etwa alle zwei Jahre. (NS EB 09.01.2017 S 1; NS EV 11.07.2017 AS 173, 179; VS 07.06.2021 S 5, 6, 7)

Der Beschwerdeführer verließ seinen Herkunftsort ungefähr im November 2016. (NS EB 09.01.2017 S 3)

1.2 Zu den Lebensverhältnissen in Österreich

Im Jänner 2017 reiste der Beschwerdeführer nach Österreich ein, wo er sich seither ununterbrochen aufhält. Es handelt sich um gegenständlich um seinen ersten und einzigen Antrag auf internationalen Schutz. Der Beschwerdeführer hat von Beginn seines Verfahrens an sämtlichen Ladungen Folge geleistet und an seinen Verfahren mitgewirkt, weshalb ihm die bisherige Verfahrensdauer nicht anzulasten ist.

Der Beschwerdeführer bezieht nach wie vor Leistungen aus der Grundversorgung für hilfsbedürftige Fremde. Er leistete gemeinnützige Arbeiten für seine Wohnsitzgemeinde im Bereich Grünraumpflege und unterstützte den lokalen Bauhof; der Bürgermeister beschrieb ihn diesbezüglich als gewissenhaft, interessiert und einsatzfreudig. Von September 2017 bis Juli 2018 absolvierte der Beschwerdeführer die Übergangsstufe an einer österreichischen AHS für Jugendliche mit geringen Kenntnissen der Unterrichtssprache Deutsch und schloss diese positiv ab. Für den Fall des Erhalts einer Arbeitserlaubnis, hat der Beschwerdeführer eine Einstellungszusicherung einer Bäckerei in seinem Wohnort in Österreich. Er ist somit arbeitswillig und arbeitsfähig. Österreichische Staatsbürger führen langjährige Freundschaften mit dem Beschwerdeführer und beschreiben ihn als ruhig, genügsam, gewissenhaft, freundlich und hilfsbereit. (GVS; Bestätigung Gemeinde XXXX OZ 10; Bestätigung Übergangsstufe AHS vom 06.07.2018 OZ 15; Einstellungszusicherung vom 28.10.2020; Unterstützungsschreiben VS 07.06.2021 Beilagen; Unterstützungsschreiben OZ 15;

Der Beschwerdeführer hat während seines Verfahrens Deutschkurse besucht, die Integrationsprüfung A2 im Februar 2021 aber nicht bestanden. In der mündlichen Verhandlung konnte der Beschwerdeführer die ihm auf Deutsch gestellten Fragen in deutscher Sprache flüssig und in freier Erzählung sehr verständlich beantworten. (VS 07.06.2021 S 6, 7; ÖSD Prüfungsergebnis vom 15.03.2021 OZ 15)

Er ist strafrechtlich unbescholten. (Strafregister der Republik Österreich)

1.3 Zum Gesundheitszustand

Der Beschwerdeführer ist gesund. (VS 07.06.2021 S 4, 5)

1.4 Zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz

Der Beschwerdeführer brachte zur Beründung seines Antrages auf internationalen Schutz – zusammengefasst – Folgendes vor:

Bei der Einvernahme vor dem BFA am 11.07.2017 führte er aus, er habe Kontakt zu einem Mädchen gehabt, sie seien von jemanden gesehen worden und die Familie des Mädchens habe das mitbekommen und keiner habe ihn bei sich wohnen lassen wollen, aus Angst, Feinde jener Familie zu werden. Er sei zur Schule gegangen, das Mädchen habe bei einer Schneiderei am Basar gearbeitet. So hätten sie sich kennengelernt. Etwa vier Monate hätten sie Kontakt gehabt, da hätten das andere Leute bemerkt. Dann habe er mit seinem Onkel darüber gesprochen, sein Leben sei in Gefahr gewesen und der Onkel habe ihm geholfen. Er sei bei dem Mädchen gestanden, sie hätten geredet. Ihr Vater habe sie gesehen. Der Beschwerdeführer sei zu seinem Onkel gegangen, der gesagt habe, dass es für den Beschwerdeführer gefährlich sei und der Onkel ihm helfen werde, Pakistan zu verlassen. Er habe mit dem Mädchen über die Liebe gesprochen. Das Mädchen habe in der Schneiderei gearbeitet, er habe etwas nähen lassen. So habe er sie kennengelernt. Er habe Nadeln, Stoff und Faden kaufen müssen. Er habe ihr geholfen, Material zu besorgen. Das Mädchen sei eine Nachbarin im Dorf. Sie arbeite als Schneiderin von zu Hause aus. Da er zur Schule gegangen sei, habe sie ihm Geld gegeben, um Nadel, Stoff und Faden zu kaufen. Das Mädchen lebe mit ihren Eltern, zwei Brüdern und zwei Schwestern zusammen. Er kenne das Mädchen schon lange. Der Name des Mädchens sei XXXX . Er sei einmal bei der Familie des Mädchens gewesen, aber nicht mit ihr allein. Es seien ihre Nachbarn gewesen und er habe dort gegessen und Tee getrunken. Mehrmals. Sie seien auch bei seiner Familie zu Hause gewesen, das Mädchen und ihre Mutter. Es sei ein ganz kleines Dorf, 12 Häuser, und sie würden sich gegenseitig besuchen. Ihr Vater habe ihn verdächtigt, dass der Beschwerdeführer eine Beziehung mit ihr habe. Der Vater habe sie beide gesehen, als sie draußen gestanden seien. Es sei schon dunkel gewesen. Es sei spät gewesen, Gebetszeit und der Beschwerdeführer hätte zur Moschee gehen sollen, wie die anderen. Er habe sie da stehen gesehen und habe mit ihr gesprochen. Ihr Vater habe sie beide gesehen. Der Beschwerdeführer habe ihren Vater gesehen und sofort gewusst, dass es ein Problem gebe. Der Beschwerdeführer sei zu seinem Onkel und der habe ihn nach Peshawar geschickt. Der Onkel habe gesagt, es werde große Probleme geben. Der Onkel habe mit einer Person gesprochen, die den Beschwerdeführer nach Peshawar und Quetta und von dort in den Iran gebracht habe. Der Beschwerdeführer habe mit seinem Vater Kontakt gehabt, als jener in Saudi-Arabien gewesen sei. Sein Vater versuche nun, mit jenen zu reden, er mache eine Jirga, aber die Familie des Mädchens sei nicht einverstanden. Die Familie des Mädchens wolle den Beschwerdeführer töten. (NS EV 11.07.2017 AS 175-181)

Mit der Beschwerde vom 26.09.2017 wurde das Vorbringen des Beschwerdeführers in wenigen Sätzen wiederholt; gleichzeit wurden jeweils in Kopie vorgelegt: ein handschriftliches fremdsprachiges Schreiben inklusive Übersetzung in die englische Sprache, eine Schulbesuchsbestätigung, die Übersetzung einer Geburtsurkunde (AS 315 ff).

Mit XXXX wurde eine pakistanische Geburtsurkunde und eine Schulbestätigung in Kopie vorgelegt. (OZ 3)

In der mündlichen Verhandlung am 07.06.2021 führte der Beschwerdeführer aus, er komme aus dem Dorf XXXX , welches aus ingsgesamt 12 Häusern bestehe. Das Mädchen namens XXXX , das er geliebt habe, habe mit ihrer Familie auch in diesem Dorf gewohnt; sie seien Nachbarn gewesen. Das Mädchen sei zum Zeitpunkt seiner Ausreise ungefähr 16 Jahre alt gewesen, habe zu Hause als Schneiderin gearbeitet und habe dem Beschwerdeführer immer wieder Geld gegeben, damit dieser auf dem Schulweg Sachen am Bazar für sie kaufe, die sie zum Nähen brauche. So hätten sie sich kennengelernt und die Beziehung sei stärker geworden. Eines Abends als der Beschwerdeführer gesagt habe, zur Moschee zu gehen, habe er sich mit dem Mädchen getroffen. Sie seien bei einer Mauer gestanden und hätten geredet. Ihr Vater sei dann von der Moschee nach Hause gekommen und habe sie gesehen. Der Vater habe gefragt „Wer bist du“ und der Beschwerdeführer sei schnell weggelaufen, das Mädchen sei nach Hause gegangen. Der Beschwerdeführer sei zu seinem Onkel und habe ihm davon erzählt. Sein Onkel habe gesagt, er könne nicht bleiben, da das für den Onkel zu gefährlich sei. Inzwischen dürfe niemand mehr den Weg benützen, der über das Grundstück der Familie zur Schule geführt habe und die Familie des Beschwerdeführers dürfe sich nicht mehr der Familie des Mädchens nähern. Der Beschwerdeführer und das Mädchen würden beide umgebracht werden, wenn der Beschwerdeführer gefunden werde. (NS EB 09.01.2017 S 5; NS EV 11.07.2017 AS 175-181; VS 07.06.2021 S 7-13)

1.5 Zur Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens und Gefährdung bei einer Rückkehr nach Pakistan

Das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er ein Mädchen geliebt habe, mit diesem Kontakt gehabt habe und deshalb von der Familie des Mädchens verfolgt werde und er bei einer Rückkehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich individuell konkret mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt sein wird, ist nicht glaubhaft.

1.6 Zur Lage in Pakistan

1.6.1 Das Pashtunwali (Kulturelle Werte und Verhaltensregeln der Paschtunen)

Die im Paschtunwali (dem „Paschtunentum“) festgelegten kulturellen Werte und Verhaltensregeln haben die Lebensführung der Paschtunen seit Urzeiten bestimmt. Es handelt sich um einen ungeschriebenen Verhaltenskodex, der alle Aspekte der eigentlichen paschtunischen Identität beschreibt und dessen Einhaltung von jedem Paschtunen erwartet wird. Er basiert auf den Grundsätzen von Gleichheit und Vergeltung und ist in den sozialen Strukturen, in denen jeder Paschtune lebt, tief verwurzelt. Unabhängig von ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung teilen alle Paschtunen die hohe Wertschätzung für das Paschtunwali, das für sie unantastbar ist. Jeder Verstoß gegen diesen Kodex hat schwerwiegende Folgen. Solche Folgen nennt man „starke Nogha“ (Strafe), z.B. Abbrennen des Hauses, Vertreibung aus der Region usw...

[…] In der Gesellschaft der Paschtunen wird das Pashtunwali zur Regelung aller gesellschaftlichen und internen Angelegenheiten der Gemeinschaft als zentrale Autorität herangezogen. […] Das Pashtunwali gilt für jeden, der in einem Siedlungsgebiet der Paschtunen lebt. [...]

Kodizes des Pashtunwali (Auszug)

Ghairat (Würde)

Ghairat bedeutet, dass Paschtunen ihre Würde und Ehre wahren müssen. Die Ehre spielt in der Paschtunen-Gesellschaft eine wichtige Rolle und bei vielen anderen Lebensregeln geht es darum, die eigene Ehre und den Stolz zu verteidigen. Hierfür muss der Paschtune sich selbst und andere respektieren, insbesondere Personen, die er nicht kennt. Der Respekt beginnt zuhause unter den Mitgliedern der Familie und den Verwandten. Ghairat gehört zu Namoos (die Keuschheit der Frauen beschützen) und es heißt, dass derjenige, der kein Ghairat hat, sein Namoos nicht wahren kann. Es ist eine Beleidigung, jemanden Begairat (würdelos) zu nennen und niemand würde es wagen, jemanden so zu nennen. Wenn beispielsweise auf eine Paschtunin Toor (Frauen, die einer illegalen sexuellen Beziehung schuldig sind) zutrifft, ist es eine Sache von Ghairat die beschuldigte Frau und ihren Partner zu erschießen.

Badal (Vergeltung)

Badal, bedeutet in Pashto Vergeltung und soll die Gerechtigkeit wiederherstellen oder an den Übeltätern Rache nehmen. Wer eine Straftat begeht, muss Badal bezahlen. Badal kann von der Jirga auferlegt oder vom Maraka, dem Geschädigten, oder einem Mitglied seiner Familie eingefordert werden. Dies gilt für Ungerechtigkeiten, die in der Gegenwart und in der Vergangenheit begangen wurden. Wenn der Übeltäter, seine Familienmitglieder oder Verwandten noch leben, wird Rache geübt oder Badal verlangt. Ein Sprichwort der Paschtunen lautet: der Paschtune, der nach 100 Jahren Vergeltung übte sagte: „Ich habe mich zu früh gerächt.“ Das führt dann zu einer Blutfehde, die sich über Generationen hinziehen, ganze Stämme mitreißen und hunderte von Leben kosten kann. Dies kann jedoch durch Versöhnung, genannt Nanawatai (Abbitte leisten) vermieden werden.

Der Islam und das Pashtunwali

Der Islam spielt im täglichen Leben der Paschtunen eine zentrale Rolle und ist ein tief verwurzelter und wichtiger Bestandteil ihrer Identität. Haji Habib Ullah Khan Asi, Stammesältester und Mitglied der Großen Jirga in den Federally Administered Tribal Areas in Pakistan, sagt: “Ein Paschtune erkennt die Religion ohne Zweifel und Fragen an, deshalb gibt es keinen Konflikt zwischen der Lehre des Pashtunwali und des Islam und jeder, der seinen religiösen Pflichten nicht nachkommt, wird von der Gesellschaft verachtet”. Die Einheit des Pashtunwali und des Islam wird im Dorfleben schon durch die physische Einheit der Moschee und des Hujra (= Gemeindezentrum) symbolisiert sowie durch die Verankerung der fünf Säulen des Islam in den lokalen Praktiken und sozialen Strukturen.

Pflichten und Aufgaben nach dem Pashtunwali

In der traditionellen paschtunischen Gesellschaft symbolisieren die Frauen die Nang (Ehre) der Familie und des Stammes. Sie sind für die Hauswirtschaft, die Kindererziehung und die Versorgung der Familienmitglieder zuständig. Außerdem erwartet man von ihnen die Pflege gutnachbarschaftlicher Beziehungen und insbesondere die Wahrung einer guten Atmosphäre zwischen den engen Verwandten. Sie sollen in ihren jeweiligen Gemeinden ein ehrenhaftes und achtbares Leben führen und müssen das Verschleierungsgebot Purdah streng einhalten, die meiste Zeit sollen sie in den eigenen vier Wänden verbringen. Jedes Fehlverhalten oder sexuelle Fehltritte (Ehebruch, Entführung, Vergewaltigung) von Frauen gelten als schwerwiegende Verletzungen des Pashtunwali. In diesen Fällen können die Frauen von männlichen Verwandten getötet werden, um die Familienehre zu bewahren. Paschtuninnen, die in pakistanischen Städten wie Peshawar, Quetta, Mardan usw. wohnen, sind jedoch selbständiger, unabhängiger und beteiligen sich aktiv an geschäftlichen Angelegenheiten, der Politik und anderen gesellschaftlichen Entwicklungen innerhalb und außerhalb der Familie.

Traditionell wurden vor allem die Frauen, die im Stammesverbund lebten, auch im Umgang mit Gewehren geschult, hauptsächlich, um sich in Konflikten selbst verteidigen zu können. Auch das Verschleierungsgebot wird in Not- oder Konfliktsituationen gelockert. In der Stammesgesellschaft spielten sie eine sehr wichtige Rolle für das Swara, d.h., dass die Schwester, Tochter, eine Cousine ersten oder zweiten Grades von der Familie eines Mörders als Entschädigung übergeben wird, um den Konflikt zwischen den Parteien beizulegen. Swara, ein paschtunischer Brauch, bedeutet wörtlich eine Frau auf dem Rücken eines Pferdes oder Kamels. Auf Druck der Regierung ist diese Praxis in der paschtunischen Gesellschaft jedoch weitgehend ausgemerzt worden. Der Brauch ist aber in einigen Gebieten in Nord- und Südwaziristan, den Agencies Khyber, Kurram, Bajaur, Orakzai in den Federally Administered Tribal Areas in Pakistan und in den afghanischen Provinzen Patkiya, Jalalabad, Nangarhar, Nazyan, Helmand, Kunar und anderen paschtunischen Siedlungsgebieten in Afghanistan immer noch lebendig.

Es ist die Aufgabe der Männer für Nahrung, Kleidung und Unterkunft zu sorgen und sie sollen mit dem anderen Geschlecht (Ehefrau, Mutter, Tochter, Schwester, usw.) eine herzliche und liebenswürde Beziehung pflegen. Die Moor (Mutter) steht in der Familienhierarchie nur an zweiter Stelle. Die Beschwerde einer Mutter über ihren Sohn bei einem Mashar (Ältesten) wird ohne weitere Nachforschungen als Wahrheit anerkannt. Sie werden so hoch geschätzt, dass eine gewaltsame Auseinandersetzung aufhört, wenn eine Frau ihren Schleier vor die Kämpfenden wirft. Frauen spielen auch für die Bewertung der Ehre eines Mannes eine große Rolle. Oft ist es die Meinung der Frauen, die die Stellung eines Mannes erhöht oder erniedrigt. Das Lob oder die üble Nachrede der Frauen kann sehr große Auswirkungen auf das Ansehen eines Mannes in der Gemeinschaft haben. Von den Männern erwartet man, dass sie die Namoos (Keuschheit der Frauen) schützen. Nach dem Verständnis der Paschtunen gehört auch ein neugeborenes Mädchen zur Namoos. Die Bedeutung der Namoos zeigt sich in dem paschtunischen Sprichwort: “mal tar sar jar, sar ta Namoos”, was heißt, “Opfere Materielles, um den Kopf zu retten, opfere den Kopf um Namoos zu schützen”. Die Männer müssen ihr positives Ansehen um jeden Preis wahren oder stärken. Sie sollten gute Redner sein und politische Allianzen schmieden können, sie sollten den Mut haben, die Familie und die Gemeinschaft zu verteidigen und für jede Beleidigung und jeden Angriff auf diese Rache nehmen. Außerdem sollen sie ihr Vermögen gegen fremde Begierden schützen und zeigen, dass sie bereit sind, Vermögen und Leben zu riskieren, um die Ehre der Familie zu bewahren.

Tabus im Pashtunwali

Jede menschliche Gesellschaft hat ihre Tabus, obwohl diese in den einzelnen Kulturen unterschiedlich stark ausgeprägt sein können; hier ist die paschtunische Gesellschaft keine Ausnahme. In dieser Gesellschaft gelten die Frauen als Symbole der Nang (Ehre). Die Erwähnung des Namens einer Frau in der Öffentlichkeit oder vor Fremden durch einen Stammesangehörigen gilt als Tabu und kann Blutvergießen verursachen. Shakanza bedeutet Beschimpfen und Beleidigung, das ist eine schwerwiegende Tat und der Täter muss Tawan (Zahlung eines Schuldigen an das Opfer) bezahlen, deren Höhe sich nach dem Alter und der sozialen Stellung des Beleidigten richtet. So gilt beispielsweise Shakanza einer nicht zu den eigenen Verwandten gehörenden Frau als die schlimmste Tat. Wer dessen beschuldigt wird, muss dem Geschädigten Nanawatai (Abbitte leisten) zukommen lassen.

Das Pashtunwali verurteilt auch eine Heirat gegen den Willen der Familienmitglieder (Liebesheirat); um die Ehre der Familie zu bewahren, müssen beide (der Mann und die Frau) getötet werden. Eine Frau, die das Haus des Vaters verlässt, um einen Ehemann zu suchen ist eine Mateeza. Insbesondere eine Frau, die mit ihrem Verlobten vor der Hochzeit wegläuft, ist eine Mateeza. Eine Mateeza gilt als eine schlechte Frau, als Landstreicherin. In Paschto sagt man von einer solchen Frau: “Flankai Sail Di Kawa, Mateeza Larhe”, was bedeutet “Oh, Fräulein so und so, du hast dich mit allen abgegeben und bist dann als Mateeza weggelaufen”.

(Quelle: Dossier der Staatendokumentation AfPak, Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, 2016, 34, 36 f, 41 f, 50 f)

BFA Staatendokumentation Anfragebeantwortung Pakistan, Stammeskonflikte, Blutrache und Landkonflikte unter Paschtunen in Khyber Pakhtunkhwa; Durchsetzung staatlicher Schutzpflicht

Laut dem Bericht zu Blutfehden, paschtunischem Gewohnheitsrecht und traditioneller Konfliktresolution, der 2011 vom norwegischen COI-Unit LandInfo erstellt worden ist, ist die Blutrache primär ein paschtunisches Phänomen, welches eng mit dem Konzept der Ehre verbunden ist. Das Versäumnis Vergeltung zu leisten wird als Zeichen moralischer Schwäche verstanden und kann dazu führen, dass ganze Verwandtschaftsgruppen als charakterlos gesehen werden. Wenn z.B. ein Mord den Behörden gemeldet wird, oder eine finanzielle Entschädigung mit der Familie des Täters ausgehandelt wird, kann das als Schwäche interpretiert werden und als Zeichen, dass die Gruppe [Anm.: Familie, Clan, etc.] nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Ein Rechtsspruch, der im staatlichen Justizsystem bzgl. eines bestimmten Falles gefällt wurde, schließt nicht aus, dass in dem Fall trotzdem gewaltsam Vergeltung gesucht wird. Es kann weiterhin erwartet werden, dass die Familie des Opfers den Mörder, wenn er entlassen wird, umbringt (es sei denn es kommt zu einer Übereinkunft, in der die Fehde beigelegt wird). Die Gemeinde vor Ort würde einen Blutmord nicht als Straftat ansehen, sondern als durch die Tradition legitimiert.

[…]

Bei den Paschtunen muss der Mann aufs Äußerste darauf bedacht sein, seine Ehre und die seiner Familie zu bewahren (izzat). Er muss bereit sein, jedes Unrecht zu vergelten (ghairat), das seine Ehre oder die Familienehre mindern könnte. Das kann ihn dazu verpflichten, gewaltsam Rache (badal) an denen zu üben, die ihn oder seine Familie entehrt haben. Die Vergeltung kann auch ein Mitglied der eigenen Familie treffen, wobei in diesem Falle nicht von Rache gesprochen wird. […]

[…]

Die Beziehung der Geschlechter wird bei den Paschtunen streng patriarchalisch aufgefasst, daher haben Frauen den Männern gegenüber keinerlei Rechte. Das passt nicht in das Rechtswesen eines modernen Staates, der die Menschen- und Bürgerrechte aller gewährleisten muss, unabhängig von Alter und Geschlecht. Große Bedeutung hat für Paschtunen auch, ein „männliches“ Auftreten zu zeigen, das häufig aggressiv und gewalttätig ist; das Ergebnis sind Praktiken wie persönliche Racheakte und blutige Familienfehden.

(Quelle: BFA Staatendokumentation Anfragebeantwortung Pakistan, Stammeskonflikte, Blutrache und Landkonflikte unter Paschtunen in Khyber Pakhtunkhwa; Durchsetzung staatlicher Schutzpflicht, 19.01.2018)

Blutfehden, Ehrverbrechen, erzwungene und unakzeptierte Heirat und andere schädliche traditionelle Praktiken

Blutrache ist vor allem im ländlichen Bereich Pakistans noch immer ein verbreitetes Phänomen. Die meisten Fälle dürfte es in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa geben, Blutfehden kommen aber auch in den ländlichen Gebieten Sindhs und Punjabs vor. Auslöser für Blutfehden zwischen Familien sind Ehrverletzungen, die aus einem Mord eines Angehörigen, der Respektlosigkeit gegenüber einem weiblichen Familienmitglied, einer Beleidigung, Verletzung von Eigentumsrechten (Bewässerungskanäle, Land) etc. bestehen können. Das Konzept der Ehre (ghairat), das vor allem in der paschtunischen Bevölkerung Khyber Pakhtunkhwas besonders stark ausgeprägt ist, verlangt es, eine Ehrverletzung zu rächen. Blutfehden führen oft dazu, dass Familien über Generationen miteinander verfeindet sind und in ständiger Angst davor leben, dass eines ihrer Familienmitglieder aus Rache getötet wird (ÖB 5.2020).

In den einstigen, seit 2018 in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa eingegliederten Stammesgebieten FATA, die bisher de facto nur beschränkt der pakistanischen Jurisdiktion unterliegen, hat sich ein auf dem Stammesrecht (z.B. Pashtunwali) basierendes paralleles Rechtssystem mit den im übrigen Staatsgebiet verbotenen „Jirga“-Gerichten der Stammesältesten erhalten. Während sich männliche Angeklagte mit Geldleistungen der Verhängung schwerer Strafen entziehen können, werden Frauen bei Verstößen gegen den Sittenkodex hart bestraft. Auch sind Fälle bekannt, in denen stellvertretend für die Delinquenten weibliche Familienangehörige getötet oder in anderer Weise bestraft wurden. 2017 wurde die Rechtsprechung in den Stammesgebieten jedoch dem Peshawar High Court unterworfen. Der Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen in den ehemaligen Stammesgebieten und die Umsetzung des Reformprozesses stehen jedoch noch ganz am Anfang (AA 29.9.2020).

Das Gesetz über Ehrenmorde aus dem Jahr 2004 (Honour Killing Act), sowie das Gesetz zur Verhütung frauenfeindlicher Praktiken aus dem Jahr 2011 und das Strafrechtsänderungsgesetz (Straftaten im Namen oder unter dem Vorwand der Ehre) aus dem Jahr 2016 stellen „Ehrentötungen“ (Karo Mari) unter Strafe (AA 29.9.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Eine wesentliche Neuerung ist die Abschaffung des Konzepts der Vergebung (diyat). Bis zur Einführung des Gesetzes konnte die Familie der Ermordeten dem Täter vergeben, was zur automatischen Straffreiheit des Täters führte und damit einer strafrechtlichen Verfolgung entgegenstand. Der Implementierung der Anti Honour Killings Bill steht die große Bedeutung des informellen Justizwesens in vielen ländlichen und von Stammesstrukturen geprägten Teilen Pakistans entgegen (ÖB 5.2020).

Trotz dieser Gesetze wurden Berichten zufolge Hunderte von Frauen Opfer sogenannter Ehrenmorde, wobei viele Fälle nicht gemeldet wurden und unbestraft blieben. Polizei und NGOs berichteten, dass eine verstärkte Medienberichterstattung es den Strafverfolgungsbeamten ermöglichte, gegen derartige Verbrechen vorzugehen (USDOS 11.3.2020). Opfer von Eheverbrechen sind hauptsächlich Frauen, allerdings sind auch Männer betroffen. Medien berichteten, dass in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 78 Personen, darunter 50 Frauen, bei Ehrenmorden getötet wurden (USDOS 11.3.2020). Human Rights Watch schätzte 2019, dass nach wie vor jedes Jahr etwa 1.000 sogenannte Ehrenmorde stattfinden (AA 29.9.2020; vgl. HRW 17.1.2019). Ehrenmorde kommen hauptsächlich in ländlichen Gebieten, allerdings auch in Städten vor (UKHO 2.2020). Die Mehrzahl der Morde wird dabei von der Familie der Frau verübt (ÖB 5.2020).

Blutfehden führen oft dazu, dass Familien über Generationen miteinander verfeindet sind und in ständiger Angst davor leben, dass eines ihrer Familienmitglieder aus Rache getötet wird. Besonders in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa ist es üblich, zur Beendigung von Blutfehden eine junge Frau (oft Mädchen unter 18 Jahren) als Blutzoll an eine verfeindete Familie zu übergeben. Die Zwangsverheiratung eines Mädchens kann dabei nicht nur als Sühne für einen erfolgten Mord, sondern auch für andere Ehrverletzungen, die von dessen Vater, Bruder oder Onkel begangen wurden, erfolgen. Der Criminal Law (Third Amendment) Act 2011 stellt diese Praxis des badla-a-sulh (auch: wanni oder swara; Gabe eines Mädchens/einer Frau zur Beilegung von Streitigkeiten) unter Strafe von bis zu sieben Jahren Haft. Auch Zwangsverheiratung ist darin mit bis zu sieben Jahren Freiheitsstrafe bedroht. Trotz des Verbots ist die Praxis noch immer weit verbreitet. Es fehlen offizielle Statistiken, laut der NGO CAMP dürften aber 20% aller Fälle von Gewalt gegen Frauen auf swara/wanni zurückzuführen sein. Es gibt allerdings eine Reihe von NGOs, die sich um solche Frauen kümmern, sowie staatliche Einrichtungen wie Crisis Center for Women in Distress und Shaheed Benazir Bhutto Centers for Women, die jeweils einer kurzfristigen Erstbetreuung dienen, wie auch rund 200 Frauenhäuser (Dar-ul- Aman). Ferner können sich Opfer allenfalls direkt an die Human Rights Cell des Supreme Court wenden (ÖB 05.2020).

Das Gesetz zur Bekämpfung der Ausbeutung und Diskriminierung von Frauen („Prevention of Anti-Women Practices Act“) vom 15.11.2011 zielt v.a. auf Zwangsehen, den Brauch der „Verheiratung mit dem Koran“ und den Ausschluss vom Erbrecht ab (AA 29.9.2020). Sogenannte „verbotene“ Eheschließungen (gegen den Willen der Eltern geschlossene Ehen bzw. Liebesehen; Anm.) [socially unacceptable/love marriages] sind gemäß pakistanischer Rechtsordnung gültig; auch Frauen können grundsätzlich ohne Einwilligung der Eltern heiraten. Arrangierte Ehen, die allerdings nicht mit Zwangsehen gleichzusetzen sind, sind besonders in ländlichen Gebieten sowie innerhalb der unteren Mittelschicht sowie der Arbeiter- und Bauernklasse nach wie vor üblich. Als Problem könnte sich bei diesen „verbotenen“ Ehen allerdings die Anwendung der Hudood Ordinances wegen Unzucht erweisen, wobei die Polizei hier häufig nicht auf den Schutz der Betroffenen, sondern vielmehr auf deren Verfolgung bedacht ist. Es existieren in Pakistan keine Institutionen, die vom Staat dezidiert zum Schutz von Personen, die eine solche Art Ehe schlossen, eingerichtet wurden (ÖB 05.2020).

[Beweisquelle: LIB Jänner 2021 mwN]

Wiewohl Männer und Frauen theoretisch von Ehrenmorden betroffen sein können, dürfte der Großteil der Fälle auf Frauen entfallen (ÖB 10.2018). Es wird geschätzt, dass jährlich bis zu 1.000 Frauen in Pakistan Ehrenmorden zum Opfer fallen (HRW 17.1.2019; vgl. USDOS 13.3.2019) und viele Fälle werden nicht gemeldet und geahndet. Den des „Ehrverbrechens“ beschuldigten Männern wird in vielen Fällen die Flucht erlaubt (USDOS 13.3.2019). Die hauptsächlichen Gründe für die Ehrenmorde waren 2015 familiäre Streitigkeiten, Vorwürfe einer unrechtmäßigen Beziehung und die eigene Wahl eines Ehepartners (HRCP 3.2016). Ehrenmorde kommen hauptsächlich in ländlichen Gebieten, allerdings auch in Städten, vor (UKHO 2.2016). Der Mord wird als Weg zur Wiederherstellung der Reputation und Ehre der Familie gesehen (AF 1.2015). Etwa drei Viertel der Morde werden dabei von der Familie der Frau verübt (ÖB 10.2018).

Auch Opfer von Vergewaltigungen können, weil sie die Ehre der Familie verletzt haben, Opfer solcher Ehrverbrechen werden. Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen Frauen, die angeblich Kontakt zu fremden Männern hatten, von ihren Ehemännern oder Brüdern getötet oder schwer verletzt wurden (AA 21.8.2018). Es gibt landesweit zahlreiche Säureangriffe auf Frauen und nur wenige Täter werden vor Gericht gestellt (USDOS 13.3.2019). Im Dezember 2011 verabschiedete das Parlament einstimmig den „Acid Crime Prevention Act“. Säureangriffe werden danach mit Haftstrafen von zehn Jahren bis lebenslänglich unter Strafe gestellt (AA 21.8.2018).

Zwangsheiraten sind nach pakistanischem Recht verboten, allerdings dennoch weit verbreitet – auch unter Minderheiten. Rechtliche Maßnahmen gegen Zwangsehen geschehen jedoch relativ selten, v.a. da diese als Verstoß gegen die Kultur wahrgenommen werden (ÖB 10.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Das Phänomen der Zwangsverheiratung trifft Frauen weit stärker als Männer, da sie nur wenige Möglichkeiten haben, sich gegen solche Entscheidungen zu wehren (AA 21.8.2018).

Besonders in Punjab und Khyber Pakhtunkhwa ist es verbreitet, zur Beendigung von Blutfehden eine junge Frau (oft Mädchen unter 18 Jahren) als Blutzoll an eine verfeindete Familie zu übergeben. Die Zwangsverheiratung des Mädchens kann dabei nicht nur als Sühne für einen erfolgten Mord, sondern auch für andere Ehrverletzungen, die von dessen Vater, Bruder oder Onkel begangen wurden, erfolgen. Der Criminal Law (Third Amendment) Act 2011 stellt die Praxis des badla-e-sulh, wanni oder swara (Gabe eines Mädchens/einer Frau zur Beilegung von Streitigkeiten) unter Strafe (von bis zu sieben Jahren); auch Zwangsverheiratung ist darin mit bis zu sieben Jahren Freiheitsstrafe bedroht. Trotz des Verbots ist die Praxis noch immer weit verbreitet: Es fehlen offizielle Statistiken, laut der NGO CAMP dürften aber 20% aller Fälle von Gewalt gegen Frauen auf swara/wanni zurückzuführen sein (ÖB 10.2018).

Sogenannte „verbotene“ Eheschließungen (d.h. gegen den Willen der Eltern - „socially unacceptable/love marriages“) sind gemäß pakistanischer Rechtsordnung gültig, auch Frauen können grundsätzlich ohne Einwilligung der Eltern heiraten. Eltern aus der gebildeten städtischen Mittel- und Oberschicht erscheinen eher gewillt, die eigene Wahl der Kinder zu akzeptieren. Arrangierte Ehen, die allerdings nicht mit Zwangsehen gleichzusetzen sind, sind besonders in ländlichen Gebieten sowie innerhalb der unteren Mittelschicht sowie der Arbeiter- und Bauernklasse nach wie vor üblich. Als Problem könnte sich bei „socially unacceptable/love marriages“ allerdings die Anwendung der Hudood Ordinances wegen Unzucht erweisen, wobei die Polizei hier häufig nicht auf den Schutz der Betroffenen, sondern vielmehr auf deren Verfolgung bedacht ist (ÖB 10.2018).

Die im Extremfall auf eine „verbotene“ Eheschließung folgenden Ermordungen der Eheleute, zumindest der Frauen, durch Familienmitglieder aufgrund der durch die Heirat erlittenen Ehrverletzung ziehen zwar ein besonderes Medienecho auf sich, sind jedoch landesweit nicht die Norm (ÖB 10.2018).

Es existieren in Pakistan keine Institutionen, die vom Staat dezidiert zum Schutz von Eheleuten einer „socially unacceptable/love marriage“ eingerichtet wurden. Es gibt allerdings eine Reihe von NGOs, die sich vor allem um das Wohl der betroffenen Frauen kümmern (siehe Liste unten), sowie staatliche Einrichtungen wie Crisis Center for Women in Distress und Shaheed Benazir Bhutto Centers for Women, die jeweils einer kurzfristigen Erstbetreuung dienen, wie auch rund 200 Frauenhäuser (Dar-ul-Aman) [vgl. Abschnitt 18.1]. Es erscheint in Einzelfällen fraglich, ob Frauen aufgrund einer Liebesheirat die Aufnahmekriterien erfüllen. Ferner können sich Opfer allenfalls direkt an die Human Rights Cell des Supreme Court wenden (ÖB 10.2018).

[Beweisquelle: LIB Mai 2019 mwN, OZ 7]

1.6.2. Allgemeine Lage in Pakistan

Politische Lage

Pakistan ist ein Bundesstaat mit den vier Provinzen Punjab, Sindh, Belutschistan und Khyber-Pakhtunkhwa sowie dem Hauptstadtterritorium Islamabad (AA 25.9.2020). Die vormaligen FATA (Federally Administered Tribal Areas / Stammesgebiete unter Bundesverwaltung) sind nach einer Verfassungsänderung im Mai 2018 offiziell in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert worden (ET 25.5.2018). Daneben kontrolliert Pakistan die Gebiete Gilgit-Baltistan und Azad Jammu & Kashmir auf der pakistanisch verwalteten Seite Kaschmirs (AA 25.9.2020).

Pakistan ist gemäß seiner Verfassung eine parlamentarische Demokratie. Seit der Unabhängigkeit wurde die demokratische Entwicklung jedoch mehrfach von längeren Phasen der Militärherrschaft unterbrochen. Zuletzt kehrte Pakistan 2008 zur Demokratie zurück. Bei den Parlamentswahlen am 25.7.2018 gewann die bisherige Oppositionspartei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI). Seit August 2018 führt PTI-Chef Imran Khan als Premierminister eine Koalitionsregierung an (AA 29.9.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Sicherheitslage allgemein

Die Sicherheitslage in Pakistan ist landesweit unterschiedlich und wird von verschiedenen Faktoren wie politischer Gewalt, Gewalt von Aufständischen, ethnischen Konflikten und konfessioneller Gewalt beeinflusst. Die Sicherheitslage im Inneren wird auch von Auseinandersetzungen mit den Nachbarländern Indien und Afghanistan beeinflusst, die gelegentlich gewalttätig werden (EASO 10.2020).

Sicherheitslage - Punjab und Islamabad

Die Bevölkerung der Provinz Punjab beträgt laut Zensus 2017 110 Millionen. In der Provinzhauptstadt Lahore leben 11,1 Millionen Einwohner (PBS 2017d; vgl. EASO 10.2020). Die Bevölkerung des Hauptstadtterritoriums beträgt laut Zensus 2017 ca. zwei Millionen Menschen (PBS 2017d).

Beim einzigen 2019 aus Islamabad gemeldeten Terroranschlag wurden zwei Polizisten getötet und ein weiterer bei einem Angriff auf einen Sicherheitsposten verletzt (PIPS 2020).

Im südlichen Punjab sind militante Netzwerke und Extremisten präsent, Lashkar-e Taiba (LeT) und JeM haben dort ihre Hauptquartiere und unterhalten religiösen Einrichtungen. Die Abteilung für Terrorismusbekämpfung im Punjab (CTD) hat 2019 und im ersten Halbjahr 2020 ihre Operationen gegen Militante fortgesetzt. Es kam dabei zu Festnahmen und zur Tötung von (mutmaßlichen) Kämpfern der TTP, HuA, LeJ und ISKP. Vom 1. Jänner bis 31. Juli 2020 zählte PIPS neun Vorfälle im Punjab, fünf davon wurden als Terroranschläge erfasst (EASO 10.2020; vgl. PIPS 2020).

Sicherheitslage Khyber-Pakhtunkhwa

Die Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KP) ist in 25 Bezirke (PBS 2017d) und sieben Tribal Districts unterteilt (Dawn 31.5.2018). Die FATA (Federally Administered Tribal Areas / Stammesgebiete unter Bundesverwaltung) wurden Ende Mai 2018 offiziell in die Provinz Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert (EASO 10.2020; vgl. AA 29.9.2020). Laut Zensus 2017 hat die Provinz [im Gebietsstand ab 1.6.2018] ca. 35,5 Millionen Einwohner, wovon ca. fünf Millionen auf dem Gebiet der ehemaligen FATA leben. Die Hauptstadt Peschawar hat 4,3 Millionen Einwohner (PBS 2017d).

Die Sicherheitslage in den Khyber Pakhtunkhwa Tribal Districts (KPTDs) hat sich im Jahr 2019 erheblich verbessert. Mit Ausnahme der Bezirke in Süd-Waziristan war in den übrigen sechs Bezirken der ehemaligen FATA ein erheblicher Rückgang an terroristischen Vorfällen und der daraus resultierenden Zahl an Opfern zu beobachten. Insgesamt wurde 2019 im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang der terroristischen Vorfälle um 16 Prozent und der Anzahl der Opfer um rund ein Viertel verzeichnet. Um andererseits die operative Kapazität terroristischer Gruppen in den ehemaligen FATA zu verringern, führten die pakistanischen Sicherheitskräfte im Rahmen der laufenden Militäroperationen im Jahr 2019 unter dem Code-Namen Radd-ul-Fasad nachrichtendienstlich gestützte Operationen (IBOs) durch. 2019 wurden insgesamt 54 solcher IBOs gemeldet, gegenüber 137 im Jahr 2018. Obwohl IBOs in allen Stammesbezirken von KP durchgeführt wurden, blieben Nord-Waziristan, Süd-Waziristan und Bajaur der Hauptschwerpunkt der Operationen. Am anfälligsten für terroristische Anschläge blieb, trotz eines Rückgangs derselben um 22 Prozent, die Provinz Nord-Waziristan (FRC 13.1.2020).

Die Operationen der Armee zur Aufstandsbekämpfung in KP (einschließlich der ehemaligen FATA) trugen langfristig zu einem höheren Sicherheitsniveau in der Provinz bei, und führten zu einer Verringerung des Einflusses der Tehrik-e Taliban Pakistan (TTP - Pakistan Movement of Taliban) auf den größten Teil des Stammesgürtels. Diese Militäraktionen bewirkten jedoch auch die Vertreibung von Millionen von Bewohnern aus diesem Gebiet. Insgesamt hat sich die Sicherheit in diesen Gebieten verbessert, ist aber weiterhin fragil. Die Netzwerke der TTP bleiben sowohl auf afghanischer Seite als auch in einigen pakistanischen Bezirken entlang der Grenze aktiv (EASO 10.2020; vgl. FRC 13.1.2020). Die Bedrohung durch Gewalttaten der TTP bleibt aufrecht. Zahlreiche Taliban-Fraktionen konnten ihre Netzwerke auf afghanischer Seite der Grenze wieder herstellen und sind in der Lage, terroristische Angriffe auf Sicherheitskräfte und Zivilisten in den KPTDs Nord- und Süd-Waziristan durchzuführen (FRC 13.1.2020; vgl. EASO 10.2020). Die militanten Gruppen haben ihre Taktiken, Strategien und Aussichten geändert, um sich an das veränderte Umfeld anzupassen. Anstelle von Selbstmordattentaten, die früher die bevorzugte und wirksamste Taktik waren, wenden die Militanten jetzt hauptsächlich gezielte Tötungsaktionen gegen Mitarbeiter von Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden, politische Vertreter, Stammesälteste und Mitglieder von Anti-Taliban-Stammesmilizen der KPTD an (FRC 13.1.2020).

Die Pak Institute for Peace Studies (PIPS) dokumentierte im Jahr 2019 insgesamt 170 Gewaltvorfälle in der Provinz. Dies ist ein leichter Rückgang im Vergleich zu 2018 (183). PIPS zählte 125 Terroranschläge im Jahr 2019. Gemäß der Beobachtung von PIPS, setzten Militante im Jahr 2019 Taktiken wie Selbstmordattentate, Schusswaffen, Sprengsätze sowie Handgranaten und Raketen ein. Der Trend, dass Militante Zivilisten, Regierungsbeamte und -institutionen, Stammesälteste und Sicherheitspersonal angreifen, setzte sich im Jahr 2019 fort. Zu den Bezirken in KP, in denen 2019 die meisten Terroranschläge stattfanden, gehören Nord-Waziristan (53 Anschläge), Dera Ismael Khan (14 Anschläge) und Bajaur (11 Anschläge) (PIPS 2020; vgl. EASO 10.2020). In den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 beobachtete PIPS insgesamt 100 Vorfälle, von denen 49 als terroristische Anschläge in der Provinz genannt wurden. In den ersten sieben Monaten des Jahres 2020 fanden in folgenden Bezirken von KP die meisten terroristischen Angriffe statt: Nord-Waziristan, Bajaur und Peshawar (EASO 10.2020).

Paschtunen

Gemäß Volkszählung 2017 stellen paschtunische Muttersprachler mit 15,4 % der Bevölkerung (ca. 32 Millionen Menschen) die zweitgrößte Sprachgruppe Pakistans. Von ihnen leben ca. 22,6 Millionen in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa [inkl. ehem. FATA], wo sie ca. 77,7 % der Bevölkerung ausmachen; sowie ca. 3,7 Millionen in der Provinz Belutschistan, wo sie ca. 29,6 % der Bevölkerung ausmachen. Etwa zwei Millionen Paschtunen leben im Sindh, 1,3 Millionen im Punjab und 0,2 Millionen im Hauptstadtterritorium Islamabad (aggregiert aus PBS 2017a und PBS 2017c).

Viele Pakistanis assoziieren die Aktivitäten von Aufständischen im Land mit Paschtunen, die auf beiden Seiten der pakistanisch-afghanischen Grenze leben (DW 20.3.2017). Weil die pakistanische Taliban-Bewegung vornehmlich eine paschtunische Bewegung ist, sind viele Paschtunen durch eine Art Sippenhaft als „Islamisten“ oder „militante Kämpfer“ gebrandmarkt worden (EASO 10.2018). Zudem hegen Teile der pakistanischen Elite Ressentiments gegen die Paschtunen, weil diese zur Gründungszeit Pakistans separatistischen Bestrebungen anhingen. Dabei hat die Idee einer Vereinigung der paschtunisch besiedelten Gebiete zu einem „Groß-Paschtunistan“ unter den pakistanischen Paschtunen aufgrund der schlechten Wirtschaftslage in Afghanistan kaum noch Anhänger (DW 20.3.2017).

Im Zuge des Kampfes gegen islamistische Aufständische kam es seitens der Sicherheitskräfte zu einem ethnischen Profiling von Paschtunen, insbesondere von Angehörigen einkommensschwacher Gruppen (DW 20.3.2017). Im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ kam es zu Übergriffen an sowie zu Verschleppungen und außergerichtlichen Tötungen von Paschtunen (EASO 10.2018).

Im Jahr 2018 erlebte Pakistan den Aufstieg des Pashtun Tahafuz Movement (Pashtun Protection Movement / PTM). Diese Bürgerrechtsbewegung fordert Schutz und Rechte für die paschtunische Minderheit im Land. Hierzu gehören etwa die Aufklärung von außergerichtlichen Tötungen, ein Ende willkürlicher Angriffe und Misshandlungen, die Rückkehr verschwundener Personen und die Räumung von Landminen in den ehemaligen Stammesgebieten (EASO 10.2019; vgl. HRCP 3.2019).

Die Behörden versuchen, Sympathisanten durch Verhaftungen, Einschüchterungen und Schikanen an der Teilnahme friedlicher Veranstaltungen zu hindern (HRCP 3.2019). Seit Bestehen der PTM wurden hunderte ihrer Aktivisten verhaftet (Euronews 7.2.2019). Ab Frühjahr 2019 haben die pakistanischen Behörden ihr Vorgehen gegen die PTM intensiviert (AI 27.5.2019). Die Behörden setzen ihre Maßnahmen gegen Mitglieder der PTM fort. Es kam mitunter zur Folterung und zur Tötung von Führungsmitgliedern der PTM. In einem Fall, namentlich am 26.5.2019 in Nord-Waziristan, kam es bei einer Demonstration auch zur Tötung von 13 PTM-Demonstranten. Nach diesem Ereignis ging die Regierung hart gegen die PTM vor und verhaftete viele Führungskräfte der Gruppe sowie Unterstützer der Basis. PTM-Aktivisten konnten zwar viele dieser Verhaftungen vor Gericht erfolgreich anfechten; allerdings werden einige der danach Freigelassenen seither vermisst (USDOS 11.3.2020).

Grundsätzlich anerkennt die Regierung, dass einige der von der PTM gemachten Vorwürfe legitim sind. Gleichzeitig behauptet sie aber, dass externe Kräfte die PTM als Instrument zur Schürung ethnischer Spaltungen im Land einsetzen (USDOS 11.3.2020).

Rechtsschutz, Justizwesen

Das Gesetz garantiert die Unabhängigkeit der Justiz (USDOS 11.3.2020). Nach der Verfassung ist die politische Gewalt zwischen Legislative, Exekutive und Judikative aufgeteilt. In der Praxis wird diese Aufteilung in Pakistan jedoch nicht strikt eingehalten (BS 2020). Die pakistanische Verfassung und die gesamte pakistanische Rechtsordnung basieren weitgehend auf dem britischen Rechtssystem. Wenngleich gemäß Art. 227 der Verfassung alle Gesetze grundsätzlich im Einklang mit der Scharia stehen müssen, ist deren Einfluss auf die Gesetzgebung trotz Bestehens des Konsultativorgans Council of Islamic Ideology jedoch eher beschränkt, abgesehen von bestimmten Bereichen wie beispielsweise den Blasphemiegesetzen (ÖB 5.2020).

Der Supreme Court ist das pakistanische Höchstgericht und kann sich in Fällen von öffentlichem Interesse auch der Rechtsdurchsetzung bei Grundrechtsverletzungen, die gemäß Verfassung in die Zuständigkeit der High Courts fällt, annehmen. Die fünf High Courts fungieren u.a. als Berufungsinstanz gegen Beschlüsse und Urteile von Special Courts sowie als Aufsichts- und Kontrollorgane für alle ihnen unterstehenden Gerichte. Ferner bestehen Provinz- und Bezirksgerichte, Zivil- und Strafgerichte sowie spezialisierte Gerichte für Steuern, Banken und Zoll. Des Weiteren existiert gemäß Verfassung ein Federal Shariat Court, der zur Prüfung von Rechtsvorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des Islam angerufen wird und diesbezüglich auch von sich aus tätig werden kann. Er fungiert zusätzlich zum Teil als Rechtsmittelinstanz in Delikten nach den Hudood Ordinances von 1979, die eine v.a. Frauen stark benachteiligende Islamisierung des Strafrechts brachten und durch den Protection of Women (Criminal Law Amendment) Act 2006 in Teilen etwas entschärft wurden. In Azad Jammu und Kaschmir (AJK) sowie in Gilgit-Baltistan gibt es eigene Justizsysteme (ÖB 5.2020).

Die oberen Gerichte und der Supreme Court werden allerdings als glaubwürdig eingestuft (USDOS 11.3.2020).

Im Zivil-, Straf- und Familienrecht gibt es öffentliche Verhandlungen, es gilt die Unschuldsvermutung, und es gibt die Möglichkeit einer Berufung. Angeklagte haben das Recht auf Anhörung und auf Konsultation eines Anwalts. Die Kosten für die rechtliche Vertretung vor den unteren Gerichten muss der Angeklagte übernehmen, in Berufungsgerichten kann auf öffentliche Kosten ein Anwalt zur Verfügung gestellt werden (USDOS 11.3.2020). Das National Accountability Bureau (Antikorruptionsbehörde) kann Verdächtige 15 Tage lang ohne Anklageerhebung festhalten (mit gerichtlicher Zustimmung verlängerbar) und ihnen vor der Anklageerhebung den Zugang zu einem Rechtsbeistand verweigern. Für Straftaten im Rahmen dieser Behörde kann keine Kaution hinterlegt werden, und nur dessen Vorsitzender ist befugt, über die Freilassung von Gefangenen zu entscheiden (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2020).

Die Justiz verteidigt ihre nach Ende der Militärherrschaft zurückgewonnene Unabhängigkeit und bemüht sich, den Rechtsstaat in Pakistan zu stärken. Gleichzeitig steht sie weiterhin unter dem Einfluss der mächtigen pakistanischen Armee. Erhebliche Unzulänglichkeiten im Justizapparat und Schwächen bei der Durchsetzung des geltenden Rechts bestehen fort. Die Gerichte und das pakistanische Rechtssystem sind hochgradig ineffizient (AA 29.9.2020). Zudem ist die Justiz in der Praxis oft von externen Einflüssen beeinträchtigt: Korruption, Einschüchterung und Unsicherheit; einem großen Rückstau an Fällen und niedrigen Verurteilungsquoten bei schweren Straftaten; von Angst vor Repressionen durch extremistische Elemente bei Fällen von Terrorismus, Blasphemie oder öffentlichkeitswirksamen politischen Fällen (USDOS 11.3.2020; vgl. HRCP/FIDH 10.2019; HRW 14.3.2020). Viele Gerichte unterer Instanzen bleiben für Korruption und den Druck von wohlhabenden Personen und einflussreichen religiösen und politischen Akteuren anfällig. Es gibt Beispiele, wo Zeugen, Staatsanwälte oder ermittelnde Polizisten in High Profile Fällen von unbekannten Personen bedroht oder getötet wurden. Verzögerungen in zivilen und Kriminalfällen sind auf ein veraltetes Prozessrecht, unbesetzte Richterstellen, ein schlechtes Fallmanagement und eine schwache rechtliche Ausbildung zurückzuführen. Der Rückstand sowohl in den unteren als auch in den höheren Gerichten beeinträchtigt den Zugang zu Rechtsmitteln oder eine faire und effektive Anhörung (USDOS 11.3.2020). Zivile Streitigkeiten, insbesondere wegen Eigentum und Geld, sind ein häufiger Grund für Mordfälle in Pakistan. Die oftmals Jahrzehnte dauernden Verzögerungen bei Urteilen durch Zivilgerichte können zu außergerichtlicher Gewaltanwendung zwischen den Streitparteien führen (JPP 4.10.2018). De facto spielt in weiten Landesteilen das staatliche Recht für die meisten Pakistaner kaum eine Rolle. Rechtsstreitigkeiten werden nach Scharia-Recht oder nach lokalen Rechtsbräuchen gelöst. Im WJP Rule of Law Index belegt Pakistan Platz 120 von 128 untersuchten Staaten (AA 29.9.2020). Neben dem bisher dargestellten staatlichen Justizwesen bestehen also vor allem in ländlichen Gebieten Pakistans auch informelle Rechtsprechungssysteme und Rechtsordnungen, die auf traditionellem Stammesrecht beruhen. Hier drohen vor allem Frauen menschenunwürdige Bestrafungen (ÖB 5.2020).

Polizei

Die Effizienz der Arbeit der Polizeikräfte variiert von Bezirk zu Bezirk und reicht von gut bis ineffizient (USDOS 11.3.2020). In der Öffentlichkeit genießt die vor allem in den unteren Rängen schlecht ausgebildete, gering bezahlte und oft unzureichend ausgestattete Polizei kein hohes Ansehen. So sind u.a. die Fähigkeiten und der Wille der Polizei im Bereich der Ermittlung und Beweiserhebung gering. Staatsanwaltschaft und Polizei gelingt es häufig nicht, belastende Beweise in gerichtsverwertbarer Form vorzulegen (AA 29.9.2020). Zum geringen Ansehen der Polizei tragen Korruptionsanfälligkeit, unrechtmäßige Übergriffe und Verhaftungen sowie Misshandlungen von in Polizeigewahrsam Genommenen ebenso bei (AA 29.9.2020; vgl. HRCP 4.2020).

Mangelnde Bestrafung von Übergriffen, begangen von Angehörigen der Sicherheitskräfte, trägt zu einem Klima der Straflosigkeit bei. Interne Ermittlungen und Strafen können bei Übergriffen bzw. Misshandlungen vom Generalinspektor, den Bezirkspolizeioffizieren, den District Nazims, Provinzinnenministern oder Provinzministerpräsidenten, dem Innenminister, dem Premierminister und den Gerichten angeordnet werden. Die Exekutive und Polizeibeamte sind ebenfalls dazu befugt, in solchen Fällen eine strafrechtliche Verfolgung zu empfehlen, die gerichtlich angeordnet werden muss. Das Gerichtssystem bleibt das einzige Mittel, um Missbrauch durch Sicherheitskräfte zu untersuchen (USDOS 11.3.2020).

Grundversorgung und Wirtschaft

Derzeit macht der landwirtschaftliche Sektor ca. ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, der industrielle Sektor trägt zu einem Viertel des BIP bei und der größte Sektor für Handel und Dienstleistung trägt bis zu über 50 % des BIP bei. Trotz des geringsten Anteils am BIP ist der landwirtschaftliche Sektor immer noch sehr wichtig, weil mehr als 40 % der Bevölkerung in diesem Sektor direkt beschäftigt sind und die Existenz von mehr als 60 % der ländlichen Bevölkerung direkt oder indirekt von diesem Sektor abhängt. Neben den verheerenden Wettereinflüssen, wie Flut auf der einen und Dürre auf der anderen Seite, führt u.a. der Mangel an modern-technologischem Feldmanagement und Weiterverarbeitungsmöglichkeiten zu einer verhältnismäßig niedrigen Produktivität in diesem Sektor. Gepaart mit anderen soziopolitischen Faktoren führt dies zudem zu einer unsicheren Nahrungsmittelversorgung im Land (GIZ 9.2020).

Die Arbeitslosigkeit lag mit Stand 2017 offiziell bei etwa 7,8 % (CIA 24.9.2020). Kritisch ist vor allem die Situation von jungen erwerbslosen/arbeitslosen Männern zwischen 15 und 30 Jahren. Eine hohe Arbeitslosigkeit gepaart mit einer Verknappung natürlicher Ressourcen - vor allem auf dem Land - führte zur verstärkten Arbeitsmigration in große Städte und traditionell auch in die Golfstaaten. Rücküberweisungen von Arbeitsmigranten und Gastarbeitern nach Pakistan belaufen sich gegenwärtig auf ca. 5 % des BIP (GIZ 9.2020).

Das Tameer-e-Pakistan-Programm ist eine Armutsbekämpfungsmaßnahme, um Einkommensquellen für Arme zu verbessern und Arbeitsplätze im Land zu schaffen (IOM 2019). Das Kamyab Jawan Programm, eine Kooperation des Jugendprogramms des Premierministers und der Small and Medium Enterprises Development Authority (SMEDA), soll durch Bildungsprogramme für junge Menschen im Alter zwischen 15 und 29 die Chancen am Arbeitsmarkt verbessern (Dawn 11.2.2019).

Sozialbeihilfen

Es gibt keine Arbeitslosenunterstützung (ILO 2017). Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern bezahlen das Gehalt der letzten 30 Tage des Dienstverhältnisses multipliziert mit der Dauer des Dienstverhältnisses in Jahren als Abfindung (USSSA 3.2019; vgl. ILO 2017).

Der staatliche Wohlfahrtsverband überprüft anhand spezifischer Kriterien, ob eine Person für den Eintritt in das Sozialversicherungssystem geeignet ist. Die Sozialversicherung ist mit einer Beschäftigung im privaten oder öffentlichen Sektor verknüpft (IOM 2019).

Das Benazir Income Support Program und das Pakistan Bait-ul-Mal vergeben ebenfalls Unterstützungsleistungen (USSSA 3.2019). Pakistan Bait-ul-Mal ist eine autonome Behörde, die finanzielle Unterstützung an Notleidende, Witwen, Waisen, Invalide, Kranke und andere Bedürftige vergibt. Dabei liegt der Fokus auf Rehabilitation, Bildungsunterstützung, Unterkunft und Verpflegung für Bedürftige, medizinische Versorgung für mittellose kranke Menschen, Aufbau kostenloser medizinischer Einrichtungen, berufliche Weiterbildung sowie finanzielle Unterstützung für den Aufbau von selbständigen Unternehmen (PBM o.D).

Das Benazir Income Support Programme zielt auf verarmte Haushalte insbesondere in abgelegenen Regionen ab. Durch Vergabe von zinsfreien Krediten an Frauen zur Unternehmensgründung, freie Berufsausbildung, Versicherungen zur Kompensation des Verdienstausfalles bei Tod oder Krankheit des Haupternährers und Kinderunterstützungsgeld sollen insbesondere Frauen sozial und ökonomisch gestärkt werden (ILO 2017).

Die Edhi Foundation ist - nach eigenen Angaben - die größte Wohlfahrtstiftung Pakistans. Sie gewährt u.a. Unterkunft für Waisen und Behinderte, eine kostenlose Versorgung in Krankenhäusern und Apotheken, sowie Rehabilitation von Drogenabhängigen, kostenlose Heilbehelfe, Dienstleistungen für Behinderte sowie Hilfsmaßnahmen für die Opfer von Naturkatastrophen (Edhi o.D.).

Die pakistanische Entwicklungshilfeorganisation National Rural Support Programme (NRSP) bietet Mikrofinanzierungen und andere soziale Leistungen zur Entwicklung der ländlichen Gebiete an. Sie ist in 70 Bezirken der vier Provinzen – inklusive Azad Jammu und Kaschmir – aktiv. NRSP arbeitet mit mehr als 3,4 Millionen armen Haushalten zusammen, welche ein Netzwerk von ca. 217.000 kommunalen Gemeinschaften bilden (NRSP o.D).

Medizinische Versorgung

Das Gesundheitswesen fällt vorwiegend in die Zuständigkeit der Provinzen. In der Organisation wird zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiärversorgung unterschieden. Die Primärversorgung erfolgt in Basic Health Units (BHU) und Rural Health Centers mit einem Einzugsbereich von 25.000 bis 100.000 Menschen. Die Sekundärversorgung erfolgt in Tehsil Head Quarters und District Head Quarters mit einem Einzugsbereich von 500.000 bis 3 Millionen Menschen. Diese Einrichtungen bieten eine große Zahl ambulanter und stationärer Behandlungen an. Der tertiäre Sektor bietet eine hoch spezialisierte stationäre Versorgung (IJARP 10.2017). Im Verhältnis gibt es einen Arzt für 957 Personen, ein Krankenhausbett für 1.500-1.600 Personen und einen Zahnarzt für 9.730 Personen. Das relative Verhältnis des medizinischen Personals zur Bevölkerungszahl hat sich in den vergangenen Jahren leicht verbessert (HRCP 3.2019; vgl. HRCP 18.4.2018).

In staatlichen Krankenhäusern, die i.d.R. europäische Standards nicht erreichen, kann man sich bei Bedürftigkeit kostenlos behandeln lassen. Da Bedürftigkeit offiziell nicht definiert ist, reicht die Erklärung aus, dass die Behandlung nicht bezahlt werden kann. Allerdings trifft dies auf schwierige Operationen, z.B. Organtransplantationen, nicht zu. Hier können zum Teil gemeinnützige Stiftungen die Kosten übernehmen. Die Grundversorgung mit nahezu allen gängigen Medikamenten ist sichergestellt (AA 29.9.2020). In Punjab erklärte der Gesundheitsminister im Februar 2019, dass die Verteilung von Krankenversicherungskarten in 36 Distrikten der Provinz gestartet wurde und bis Ende des Jahres 2019 abgeschlossen sein wird. Die Krankenversicherung umfasst die Behandlung von acht Krankheiten (z.B Kardiologie, Neurologie usw.) bis zu einem Grenzwert von 720.000 PKR (ca. 3.800 EUR; Anm.). Die Krankenversicherung gilt sowohl für die öffentlichen und privaten Krankenhäuser (HRCP 4.2020).

Es gibt staatliche Sozialleistungen für Angestellte in Betrieben mit mehr als fünf Mitarbeitern und bis zu einem Gehalt von 18.000 PKR (ca. 96 EURO) pro Monat (22.000 PKR in Punjab) sowie für von ihnen abhängige Personen. Ausgenommen von den Sozialleistungen sind Mitarbeiter in Familienbetrieben und Selbständige. Für Mitarbeiter im öffentlichen Dienst und der Eisenbahn sowie Mitglieder der Armee, der Polizei und der örtlichen Verwaltung gibt es eigene Systeme. Begünstigte erhalten allgemeinmedizinische Leistungen, Medikamente, Krankenhausbehandlungen und Krankentransporte. Während der Krankheit wird 75 % des Gehalts weiterbezahlt (100 % bei Tuberkulose und Krebs; in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa generell 50 % Gehaltsfortzahlung). Die Begünstigung setzt sich bei Beendigung des Dienstverhältnisses für sechs Monate oder für die Dauer der Krankheit (je nachdem, welcher Zeitpunkt früher eintritt) fort (USSSA 3.2019). Das staatliche Wohlfahrts-Programm Bait-ul-Mal vergibt Unterstützungsleistungen und fördert die Beschaffung von Heilbehelfen (PBM o.D.). Die nichtstaatliche Entwicklungshilfeorganisation Aga Khan Development Network betreibt landesweit 450 Kliniken, fünf Krankenhäuser sowie ein Universitätskrankenhaus in Karatschi und fördert zahlreiche Projekte auf lokaler Ebene, um den Zugang zur Grundversorgung zu verbessern (AKDN o.D.).

Die Grundversorgung mit nahezu allen gängigen Medikamenten ist sichergestellt, wobei diese für weite Teile der Bevölkerung erschwinglich sind. In den modernen Krankenhäusern in den Großstädten kann - unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit - eine Behandlungsmöglichkeit für die meisten in Rede stehenden Krankheiten festgestellt werden. Auch die meisten Medikamente, wie z.B. Insulin, können in den Apotheken in ausreichender Menge und Qualität erworben werden (AA 29.9.2020).

In Punjab erklärte der Gesundheitsminister im Februar 2019, dass die Verteilung von Krankenversicherungskarten in 36 Distrikten der Provinz gestartet wurde und bis Ende des Jahres 2019 abgeschlossen sein wird. Die Krankenversicherung umfasst die Behandlung von acht Krankheiten (z.B. Kardiologie, Neurologie usw.) bis zu einem Grenzwert von 720.000 PKR. Die Krankenversicherung gilt sowohl für die öffentlichen und privaten Krankenhäuser (HRCP 4.2020).

Mehr als 15 Millionen Menschen in Pakistan leiden an einer psychischen Erkrankung (BBC 29.9.2016; vgl. Dawn 13.5.2019), jedoch gibt es nur etwa 500 qualifizierte Psychiater, vorwiegend in den Großstädten. In konservativen Regionen ist eine psychische Erkrankung mit einem sozialen Stigma verbunden (Dawn 13.5.2019; vgl. BBC 29.9.2016). Der Mangel an Psychiatern in peripheren Regionen sowie die Kosten der Behandlung sind für durchschnittliche M

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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