TE Vwgh Beschluss 2021/9/13 Ra 2021/18/0112

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Veröffentlicht am 13.09.2021
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
BFA-VG 2014 §9
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des R B, vertreten durch Rast & Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 28. Jänner 2021, W182 2219022-1/36E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste im Alter von 15 Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern in das Bundesgebiet ein. Dem Vater des Revisionswerbers wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenats vom 18. Februar 2004 Asyl zuerkannt; der Revisionswerber erhielt aufgrund eines Asylerstreckungsantrags mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9. März 2004 ebenfalls Asyl (durch Erstreckung) gewährt.

2        Mit dem angefochtenen Erkenntnis erkannte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - mit einer Maßgabebestätigung in Bezug auf einen vorangegangenen Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 15. April 2019 - dem Revisionswerber den Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab und stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme. Den Status des subsidiär Schutzberechtigten erkannte das BVwG dem Revisionswerber gleichzeitig nicht zu, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest, und verhängte über den Revisionswerber ein Einreiseverbot in der Dauer von drei Jahren. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

3        Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, die Umstände, aufgrund derer der Vater des Revisionswerbers als Flüchtling anerkannt worden sei, seien mittlerweile dauerhaft weggefallen; eigene Gründe, die Asyl rechtfertigen würden, habe der Revisionswerber nicht glaubhaft machen können. Da der Revisionswerber straffällig geworden sei, sei ihm ungeachtet der seit der Asylzuerkennung verstrichenen Zeit das auf ihn erstreckte Asyl wegen Vorliegens des Endigungsgrundes nach § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschn. C Z 5 Genfer Flüchtlingskonvention abzuerkennen. Unabhängig davon erfülle der Revisionswerber auch den Aberkennungsgrund nach § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 (er sei im Bundesgebiet bereits vier Mal wegen zum Teil schwerer Straftaten [darunter Suchtgifthandel nach § 28a Abs. 1 und 2 SMG sowie schwerer bzw. mehrfacher Raub] zu Haftstrafen im Ausmaß von zusammengerechnet sechs Jahren und elf Monaten Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden). Zur Zeit befinde er sich in Strafhaft; seine Entlassung aus der Haft sei frühestens im Jahr 2022 zu erwarten. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes oder eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 lägen beim Revisionswerber nicht vor.

4        Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG zusammengefasst aus, trotz seines langjährigen Aufenthalts in Österreich bestehe aufgrund der massiven und wiederholten Straffälligkeit des Revisionswerbers ein großes öffentliches Interesse an seiner Außerlandesbringung. Er verfüge über keine Berufsausbildung und habe nur äußerst dürftige Zeiten legaler Erwerbstätigkeit nachweisen können. Von einer guten Integration könne allein schon angesichts der wiederholten strafrechtlichen Verurteilungen wegen besonders schwerer Verbrechen nicht gesprochen werden. Er spreche Russisch, Tschetschenisch und Deutsch; mit den kulturellen Gepflogenheiten im Herkunftsland sei er vertraut. Der Bezug zum Herkunftsstaat sei bei ihm nicht verlorengegangen, er könne dort auf ein familiäres Netz (Onkel und deren Familien) zurückgreifen.

5        In Österreich befänden sich seine Eltern und Geschwister; außerdem habe er sechs minderjährige Kinder (im Alter zwischen drei und zwölf Jahren), die in Österreich geboren wurden und über Aufenthaltstitel verfügten. Die Mutter der Kinder sei im Jahr 2020 bei einem Badeunfall ums Leben gekommen; die Kinder lebten derzeit bei den Großeltern väterlicherseits, die den Platz der Mutter eingenommen hätten und denen pflegschaftsgerichtlich auch das Obsorgerecht zuerkannt worden sei. Das Familienleben des Revisionswerbers zu seinen Kindern habe sich seit Februar 2019 nur noch auf Besuche beschränkt. Ohne die tragische Situation zu verkennen, die durch den Tod der Mutter für die Kinder eingetreten sei, würden diese von den Großeltern versorgt, die den Platz der verstorbenen Mutter eingenommen hätten und zur Betreuung der Kinder gesundheitlich offenbar auch in der Lage seien. Solange diesbezüglich keine Änderung eintrete, komme auch den behaupteten Erkrankungen der Großeltern keine Entscheidungsrelevanz zu. Eine Versorgung durch den Revisionswerber erscheine hingegen aufgrund des von ihm zu verantwortenden Gefängnisaufenthalts zur Zeit ausgeschlossen.

6        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit geltend macht, der Verwaltungsgerichtshof gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sei eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen ihn verhältnismäßig. Das BVwG habe fallbezogen aber nicht festgestellt, dass der Revisionswerber die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Es weiche daher von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ab. Hätte das BVwG das jüngst ergangene Judikat des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Dezember 2019, Ra 2019/21/0243, berücksichtigt, hätte es festgestellt, dass aufgrund der erforderlichen Gesamtbetrachtung aller Abwägungskriterien die Ausweisung des Revisionswerbers zu Unrecht erfolgt ist. Der Revisionswerber spreche Deutsch auf muttersprachlichem Niveau und sei über 18 Jahre durchgehend im Bundesgebiet. Er habe hier sechs Kinder, Eltern und Geschwister. In Bezug auf die Kinder hätte das BVwG auch beachten müssen, dass die Eltern des Revisionswerbers, welche die Obsorge bis dato innehaben, krebskrank seien. Der Revisionswerber sei die einzige Bezugsperson für seine Kinder, weshalb die Rückkehrentscheidung unzulässig sei. Im Übrigen habe das BVwG seine Begründungspflicht verletzt, weil es die aktuelle Situation in der Russischen Föderation nicht ausreichend berücksichtigt habe. Die verwerteten Länderberichte bezögen sich zumeist auf die Situation vor mehreren Jahren und seien nicht aktuell.

7        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8        Mit dem wiedergegebenen Revisionsvorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan:

9        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Hat das Verwaltungsgericht - wie im vorliegenden Fall - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig ist, muss die Revision gemäß § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.

Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß § 34 Abs. 1a VwGG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe zu überprüfen. Liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG danach nicht vor, ist die Revision gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

10       Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten aberkannt und gleichzeitig weder subsidiärer Schutz noch ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 gewährt. Gegen diese Entscheidungen wendet die Revision lediglich ein, das BVwG habe zur Lage in der Russischen Föderation keine aktuellen Länderfeststellungen getroffen, zeigt aber nicht auf, inwieweit das BVwG die Lage im Herkunftsstaat falsch beurteilt hätte bzw. welche konkreten diesbezüglichen Feststellungen das BVwG nach dem Dafürhalten der Revision hätte treffen sollen. Schon deshalb erweist sich dieses Vorbringen als nicht geeignet, die Zulässigkeit der Revision darzutun.

11       Im Übrigen wendet sich die Revision (substantiiert nur) gegen die Rückkehrentscheidung des BVwG und die dazu angestellte Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK, vermag aber auch insofern keine Abweichung des BVwG von den Leitlinien der höchstgerichtlichen Rechtsprechung aufzuzeigen:

12       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. etwa VwGH 7.6.2021, Ra 2021/18/0167, mwN).

13       Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 14.12.2020, Ra 2020/20/0408 bis 0411, mwN).

14       Die Revision spricht zwar zutreffend an, dass die Aufenthaltsverfestigung eines Fremden nach langjährigem Aufenthalt einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen kann. Sie lässt aber vollkommen außer Acht, dass der Revisionswerber massiv und wiederholt straffällig geworden ist (zuletzt wurde er im August 2019 u.a. wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 15 Monaten und im Jänner 2020 u.a. wegen des Verbrechens des schweren Raubes zu einer fünfjährigen unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt), weshalb ein großes öffentliches Interesse an der Beendigung seines Aufenthalts im Bundesgebiet besteht. Schon deshalb unterscheidet sich der gegenständliche Fall von jenem, den die Revision zum Beleg ihres Rechtsstandpunktes heranzieht (VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243), hatte der Revisionswerber im dort entschiedenen Fall doch keine vergleichbaren Straftaten zu verantworten.

15       Das BVwG berücksichtigte - anders als die Revision vermeint - in seiner Interessenabwägung alle fallbezogen entscheidungswesentlichen Umstände. Es übersah auch nicht, dass bei der nach Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. § 9 BFA-VG vorzunehmenden Abwägung auch das Kindeswohl der - in Österreich bleibenden - minderjährigen Kinder des Revisionswerbers in Betracht zu ziehen ist (vgl. zum Kindeswohl allgemein etwa VwGH 7.6.2021, Ra 2021/18/0176, mwN). Es verwies jedoch darauf, dass die Kinder von den Großeltern, die den Platz der verstorbenen Mutter eingenommen hätten und denen die Obsorge zukomme, versorgt würden. Ihre Beziehung zum Vater beschränke sich seit vielen Jahren - nicht zuletzt aufgrund von dessen Straffälligkeit und seiner Gefängnisaufenthalte - nur noch auf Besuche. Auch im Obsorgebeschluss des Pflegschaftsgerichts vom 22. September 2020 heißt es dazu: „Die Kinder werden derzeit von den väterlichen Großeltern betreut und versorgt, ... Die Kinder fühlen sich bei den Großeltern wohl. Die Großeltern hatten die Kindesmutter auch bereits vorher unterstützt und die Kinder vor allem am Wochenende zu sich genommen. Die Kinder haben daher eine vertraute Beziehung zu den Großeltern. Zudem werden die Großeltern bei der Betreuung der Kinder auch von Onkeln und Tanten unterstützt. Der Vater lebte auch vor seiner Inhaftierung nur phasenweise mit der Familie zusammen. Die Wahrnehmung der Obsorge durch die Großeltern ist derzeit im Interesse der Kinder.“

16       Die Behauptung der Revision, der Revisionswerber sei die einzige Bezugsperson für seine Kinder, entfernt sich daher begründungslos von den - durch die Beweislage gedeckten - Feststellungen des BVwG. Der Revision gelingt es daher nicht, in Bezug auf die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK eine relevante Fehlbeurteilung durch das BVwG aufzuzeigen.

17       In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.

Wien, am 13. September 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180112.L01

Im RIS seit

07.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.11.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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