Entscheidungsdatum
25.05.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z4Spruch
W105 2227219-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald BENDA als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA Somalia, vertreten durch RA Mag. German BERTSCH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.11.2019, Zl. XXXX zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4, 8 Abs. 1 Z 2, 57, 10 Abs. 1 Z 4 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), idgF., iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG), idgF., iVm §§ 52 Abs. 2 Z 3 und Abs. 9, 55 Abs. 1 bis 3 und 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG), idgF., als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Vorverfahren
1.1. Der Beschwerdeführer (BF), ein Staatsangehöriger von Somalia und Angehöriger der Volksgruppe der Sheikhal, reiste spätestens am 09.07.2012 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte an demselben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Zuge der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der BF hinsichtlich seiner Fluchtgründe an, dass er wegen Al Shabaab sein Land verlassen habe. Angehörige von Al Shabaab hätten ihn damit bedroht, dass sie ihn umbringen würden, wenn er nicht am Krieg teilnehme.
1.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 06.11.2012, Zl XXXX , wurde dem Antrag des BF auf internationalen Schutz vom gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und diesem der Status des Asylberechtigten zuerkannt und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass der BF glaubhaft habe dartun können, dass er von der radikal-islamischen Miliz Al Shabaab hätte gezwungen werden sollen, sich ihnen anzuschließen und Kriegsdienst zu leisten. Mehrere Angehörige seien bereits aufgrund ihrer Weigerung, sich dem Kriegsdienst anzuschließen, ums Leben gekommen, sodass sich der BF gezwungen gesehen habe, sein Heimatland zu verlassen. Ihm stehe aufgrund der wirtschaftlich schlechten Situation in Somalia keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.
2. Im Strafregister der Republik Österreich scheint folgende Verurteilung des BF auf:
2.1. Mit Urteil des LG Feldkirch vom 16.07.2019, Zl. XXXX , wurde der BF wegen §§ 30 (1) 1. Fall, 30 (1) 2. Fall SMG, §§ 12 2. Fall, 27 (1) 5., 6. Fall SMG, §§ 27 (1) Z. 1 8. Fall, 27 (3) SMG, § 30 (1) 8. Fall, §§ 114 (1), 114 (3) Z. 2, 114 (4) 1. Fall FPG, §§ 12 2. Fall, 27 (1) Z. 1 1. Fall SMG, 270 (1) Z. 1 2. Fall StGB, §§ 30 (1) 5. Fall, 30 (1) 6. Fall SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt.
3. Gegenständliches Verfahren über die Aberkennung des Status des Asylberechtigten
3.1. Mit 09.11.2018 wurde ein Aberkennungsverfahren gemäß § 7 AsylG gegen den Beschwerdeführer eingeleitet, nachdem durch das LKA Burgenland eine Verständigung über den Verdacht der Begehung des Verbrechens nach § 114/3 FPG und der Vergehen nach §§ 27 und 31a SMG eingegangen war.
3.2. Mit Mandatsbescheid des BFA vom 09.08.2019, Zl. XXXX wurde dem BF gemäß § 94 Abs. 5 FPG iVm § 93 Abs. 1 Z. 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG der Konventionspass entzogen und der BF aufgefordert, gemäß § 93 Abs. 2 FPG das Dokument unverzüglich dem Bundesamt vorzulegen.
3.3. Am 19.09.2020 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, niederschriftlich einvernommen. Hinsichtlich seines Gesundheitszustandes gab der Beschwerdeführer an, dass er gesund sei und keine Medikamente nehme. Er gehöre dem Clan der Sheikhal an, die Zugehörigen dieses Clans hätten keine Rechte. In Österreich lebe eine Cousine von ihm, die anerkannter Flüchtling sei. Seine Frau sowie einer seiner Söhne seien in Deutschland in L. aufhältig. Seine Frau würde ihn mit seinem Sohn jede Woche im Gefängnis besuchen. Seine Cousine komme ihn auch öfter besuchen. Ein weiterer Sohn von ihm lebe in Nairobi, für diesen sei ein Einreiseantrag gestellt worden. Er habe mit diesem Sohn keinen Kontakt, da es teuer sei, nach Nairobi zu telefonieren. Er habe österreichische Freunde. Befragt nach seinen Befürchtungen im Falle seiner Rückkehr nach Mogadischu gab er an, dass Al Shabaab andere Leute immer noch umbringen würde. Seine Fluchtgründe seien immer noch aufrecht. In Somalia explodiere viel und würden jede Nacht viele Leute getötet.
Nach Vorhalt seiner Verurteilung wegen des Verbrechens der Schlepperei nach § 114 Abs. 1, Abs. 3 Z. 2, Abs. 4 FPG zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe gab der BF an, dass er Schlepper wegen seiner Frau geworden sei. Er habe nur wie ein Mensch leben und seine Frau hierher bringen wollen. Er habe in Somalia auf einer Baustelle gearbeitet und in Österreich bei verschiedenen Firmen, u. a. im LKH Feldkirch, bei DPD und in einem Hotel. In Mogadischu habe er einen Onkel und seine Mutter, zu denen er jedoch seit seinem Gefängnisaufenthalt keinen Kontakt habe. Er habe Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2.
3.4. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundeamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.11.2019 wurde der dem Beschwerdeführer mit Bescheid vom 06.11.2012 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und diesem ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG 2005 ein auf die Dauer von 10 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass der BF mit Urteil des LG Feldkirch vom 16.07.2019, Zl. XXXX , wegen § 114 Abs. 1, Abs. 3 Z. 2, Abs. 4 1. Fall FPG, §§ 27 Abs. 1 Z. 1 8. Fall und Abs. 3, 30 Abs. 1 8. Fall SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt worden sei. Dies bedeute, dass er nicht ausschließlich aufgrund einer Straftat, sondern aufgrund des Zusammentreffens mehrerer Straftaten verurteilt worden wäre. Dieses Zusammentreffen werde als „besonders schwerwiegend“ bezeichnet, zumal aufgrund des Zusammentreffens der Delikte der Schlepperei und des Drogenhandels sowie der erfolgten Verurteilung zu einer dreijährigen unbedingten Freiheitsstrafe gesehen werden müsse, dass er eine Gefahr für die Gemeinschaft der Republik Österreich darstelle. Im Rahmen des begangenen Verbrechens der Schlepperei habe er die Not anderer Personen zu seinem eigenen persönlichen Vorteil skrupellos ausgenützt, weiters habe er diese Straftat in Bezug auf mindestens drei Fremde als Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu verantworten. Um die Schleppung seiner eigenen Ehefrau zu finanzieren, hätte er sich neben der Schlepperei auch im Suchtgifthandel engagiert und im Zeitraum von Juli bis September 2018 9 Kg Khatpflanzen gewinnbringend verkauft. Bei Drogenhandel handle es sich typischerweise abstrakt um ein besonders schweres Verbrechen. Dies rechtfertige es, den BF als „gemeingefährlich“ und als Gefahr für die Allgemeinheit in der Republik Österreich einzustufen, sodass eine negative Zukunftsprognose erstellt werden müsse. Die seinerzeit erfolgte Statuszuerkennung sei aufgrund eines möglichen Zwangsrekrutierungsszenarios erfolgt. Zur Zeit der Entscheidung am 06.11.2012 seien ältere landeskundliche Feststellungen die Grundlage dieser Entscheidung gewesen. Die Stadt Mogadischu stehe mittlerweile mehrheitlich unter der Kontrolle der somatischen Regierung, auch sei die Stadtverwaltung verhältnismäßig präsent und aktiv, weshalb von einer nachhaltigen Verbesserung der Sicherheitslage gesprochen werden könne. Es könne für seine Person speziell keine von den 1,65 Millionen Einwohnern Mogadischus abweichende Bedrohung erkannt werden, was bedeute, dass ihm eine Rückkehr nach Mogadischu objektiv zumutbar sei. Aufgrund der negativen Zukunftsprognose für den BF und aufgrund seiner schädlichen Neigung sei es gerechtfertigt, ein zehnjähriges Einreiseverbot zu erlassen. Da in Österreich lediglich eine Cousine lebe, zu welcher kein Abhängigkeitsverhältnis bestehe und seine Ehefrau sowie sein Sohn in Österreich leben würden, stelle eine Rückehrentscheidung keinen Eingriff in sein Familienleben in Österreich dar.
3.5. Mit Verfahrensanordnung vom 14.11.2019 wurden dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
3.6. Gegen den Bescheid des BFA wurde – beim BFA einlangend mit 03.12.2019 – binnen offener Frist Beschwerde in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung, sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften erhoben. Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass die Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe. So habe es die belangte Behörde etwa unterlassen, Ermittlungen zum Vorbringen des BF bezüglich seiner Zugehörigkeit zum Clan der Sheikhal zu tätigen. Es sei notorisch, dass Angehörige der Sheikhal verfolgt und diskriminiert würden. Der BF habe auch vorgebracht, dass er in Österreich Freunde habe und einer geregelten Arbeit nachgehe. Er spreche auch Deutsch auf dem Niveau A2 und arbeite er in der Haft. Dies zeige, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgehe. Bezüglich seiner langen Aufenthaltsdauer hätte die Behörde Ermittlungen bezüglich seines Privatlebens durchführen müssen. Er bereue die begangenen Taten sehr und wolle künftig ein straffreies Leben führen. Er habe die Straftat lediglich begangen, weil er seine Frau und sein Kind nach Österreich holen habe wollen. Auch seien die im angefochtenen Bescheid enthaltenen Länderfeststellungen unvollständig und zum Teil veraltet. Al Shabaab sei weiterhin aktiv, sodass die Verfolgungsgefahr weiterhin aufrecht sei. Das BFA hätte prüfen müssen, ob der BF gemeingefährlich sei und ob die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung den Interessen des BF am Weiterbestehen des Schutzes überwiegen würden. Auch diese Prüfung habe im bekämpften Bescheid nur in unzureichendem Ausmaß und überdies einseitig stattgefunden. Die vom BF begangenen Taten würden subjektiv kein schweres Verbrechen darstellen. Aufgrund der Zugehörigkeit des BF zum Minderheitenclan der Sheikhal hätte ihm weiterhin der Status des Asylberechtigten zukommen müssen, zumal Angehörigen eines Minderheitenclans keine innerstaatliche Fluchtalternative zumutbar sei. Bei der Erlassung des Einreiseverbotes habe es die Behörde unterlassen, eine ordnungsgemäße und richtige Gefährlichkeitsprognose zu erstellen. Der BF wolle auf keinen Fall jemals wieder straffällig werden. Er wolle ein Vorbild für sein Kind sein. Somit gehe keine Gefährdung mehr von ihm aus und sei daher von einer positiven Zukunftsprognose auszugehen. Auch seien bei der Erlassung eines Einreiseverbotes seine familiären Anknüpfungspunkte in Deutschland zu berücksichtigen. Seine Abschiebung nach Somalia würde den BF in seinen Rechten gemäß Art. 3 und 8 EMRK verletzen.
3.7. Die Beschwerdevorlage vom 17.12.2019 und die Verwaltungsakte langten beim Bundesverwaltungsgericht am 07.01.2020 ein.
3.8. Mit Schriftsatz vom 30.07.2020 legte der BF durch seinen nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertreter den Reisepass der Ehegattin und des minderjährigen Sohnes des BF vor.
3.9. Mit Verfügung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.01.2021 wurden dem BF die aktuellen Länderinformationen zu Somalia übermittelt und ihm Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme binnen 2 Wochen eingeräumt.
3.10. Mit Stellungnahme vom 28.01.2021 brachte der BF durch seinen rechtsfreundlichen Vertreter vor, dass in dem seitens des BVwG vorgehaltenen Länderinformationsblatt zu Somalia (Gesamtaktualisierung 17.09.2019, letzte KI vom 20.11.2019) die ebenfalls in Somalia vorherrschende Covid-19-Krise gänzlich unberücksichtigt wäre. Zwar gebe es in Somalia wenig Covid-19 Fälle, jedoch sei dies darauf zurückzuführen, dass in Somalia kaum getestet werde und die Bevölkerung die Gefahr nicht ernst nehme. Schutzmaßnahmen würden seitens der Bevölkerung nicht eingehalten oder gar nicht erst erlassen. Es sei daher von einer Verbreitung des Coronavirus in Somalia auszugehen. Gleichzeitig gebe es in Somalia weniger als 20 Krankenhausbetten zur Versorgung von Intensivpatienten. Ungeachtet dessen sei es in Somalia im Jahr 2020 zu weiteren Katastrophen insofern gekommen, als aufgrund von Konflikten und Überschwemmungen im Zeitraum von Jänner bis August 2020 mehr als 885.000 Menschen im Inland vertrieben worden seien. Alleine aufgrund der Fluten hätten 627.872 Menschen ihr Zuhause verlassen müssen. Auch die Sicherheitslage habe sich in der Zwischenzeit keineswegs verbessert. Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle sei konstant hoch. Komplett außer Acht gelassen werde im LIB die Situation betreffend den Konsum von Drogen, so sei der Khat-Konsum in Somalia allgegenwärtig hoch. Eine Gesamtschau der jüngsten Entwicklungen zeige, dass sich die Situation im Land keineswegs zum Besseren entwickelt habe. Es werde weiters mitgeteilt, dass der BF und seine Ehegattin ein weiteres Kind erwarten würden, dessen errechneter Geburtstermin der 15.07.2021 sei. Ungeachtet dessen sei der BF nach seiner Haftentlassung weiter gefestigt. Er arbeite derzeit in einer Verpackungsfirma und beziehe ein Nettogehalt von € 1.600,00. Er sei sehr bemüht, durch seine nunmehrige Erwerbstätigkeit eine nachhaltige Existenz aufzubauen und hoffe in näherer Zukunft an einem gemeinsamen Wohnsitz mit seiner Familie zu leben.
3.11. Mit Verfügung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.04.2021 wurden dem BF die aktuellen Länderinformationen zu Somalia, Stand 31.03.2021, übermittelt und ihm Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme binnen 2 Wochen eingeräumt. Eine bezughabende Stellungnahme wurde nicht erstattet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Der Ablauf des Verfahrensganges zum bisherigen Verfahren wird – wie unter Punkt I. dargelegt – festgestellt.
1.2. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige BF ist Staatsangehöriger von Somalia, stammt aus Mogadischu, ist Angehöriger des Clans der Sheikhal und bekennt sich zum muslimischen Glauben. Der BF ist mit XXXX geb. XXXX , StA. Somalia, verheiratet und Vater des mj. XXXX , geb. XXXX . Die Ehegattin des BF und dessen Sohn sind aktuell in Deutschland aufhältig und besitzen keine Aufenthaltsberechtigung in Bezug auf Österreich. Der BF und die Ehegattin des BF erwarten ein weiteres gemeinsames Kind, welches nach dem errechneten Geburtstermin im Juli 2021 zur Welt kommen wird. Es besteht aktuell kein gemeinsamer Wohnsitz zwischen dem BF und seiner Ehegattin bzw. dem gemeinsamen Kind.
Der BF behauptet, Vater des mj. XXXX , StA. Somalia, zu sein. Für XXXX wurde über die österreichische Botschaft Nairobi ein Einreiseantrag gestellt und wurde am 06.04.2017 seitens des BFA gemäß § 35 Abs. 4 AsylG 2005 mitgeteilt, dass die Gewährung des Status des Asylberechtigten nicht wahrscheinlich sei. Begründend wurde in der Stellungnahme des BFA vom 06.04.2017, Zl. XXXX , ausgeführt, dass sich der BF zum Zeitpunkt der Geburt des XXXX bereits 3 Jahre in Österreich aufgehalten habe, sodass der BF nicht der Vater des genannten Kindes sein könne und die Vaterschaft angezweifelt werde. Die Vaterschaft des BF zu XXXX wird daher nicht positiv festgestellt.
Der BF reiste spätestens am 09.07.2012 in das österreichische Bundesgebiet unrechtmäßig ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 06.11.2012 wurde dem Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 09.07.2012 gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und diesem der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Es wurde gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass dem BF kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass das Bundesasylamt aufgrund des amtswegigen Ermittlungsverfahrens im Zusammenhalt mit seinen Angaben bei einer niederschriftlichen Befragung zur Ansicht gelange, dass der BF begründete Furcht vor Verfolgung iSd GFK in Somalia zu gewärtigen hätte.
Der BF wurde im Bundesgebiet mit Urteil des LG Feldkirch vom 16.07.2019, Zl. XXXX , wurde der BF wegen §§ 30 (1) 1. Fall, 30 (1) 2. Fall SMG, §§ 12 2. Fall, 27 (1) 5., 6. Fall SMG, §§ 27 (1) Z. 1 8. Fall, 27 (3) SMG, § 30 (1) 8. Fall, §§ 114 (1), 114 (3) Z. 2, 114 (4) 1. Fall FPG, §§ 12 2. Fall, 27 (1) Z. 1 1. Fall SMG, 270 (1) Z. 1 2. Fall StGB, §§ 30 (1) 5. Fall, 30 (1) 6. Fall SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt.
Der BF wurde hinsichtlich der begangenen Straftaten am 06.11.2018 in Österreich verhaftet und befand sich zunächst von 15.11.2018 bis zum 06.06.2019 in Untersuchungshaft und nach seiner Überstellung in die Vollzugsjustizanstalt bis 06.11.2019 in Strafhaft.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Umstände auf Grund derer der BF als Flüchtling anerkannt worden ist, weiterbestehen. Auch nicht festgestellt werden kann, dass der BF zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt in Somalia aus Gründen der Rasse, Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten bedroht wäre und somit nach einer Rückkehr ins Herkunftsland asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt sein wird. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass der BF bei Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Der BF leidet an keinen schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder lebensbedrohlichen Erkrankung (im Endstadium). Der BF ist arbeitsfähig. Er verfügt im Herkunftsstaat über eine sechsjährige Grundschulausbildung und mehrjährige Berufserfahrung durch Arbeit an einer Baustelle. Der BF verbrachte die ersten 20 Jahre seines Lebens in Somalia. Die Muttersprache des BF ist Somali. Der BF verfügt im Herkunftsstaat über familiäre Anknüpfungspunkte in den Personen seiner Mutter und seines Onkels, zu welchen er nach seiner Haftentlassung wieder Kontakt aufgenommen hat.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr nach Somalia in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notwendige Lebensgrundlage entzogen wäre.
Der BF gibt im Verfahren selbst an, Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 zu besitzen. In Österreich besuchte der BF Deutschkurse legte aber keine Bestätigungen über absolvierte Prüfungen vor. Der BF gibt an, im Bundesgebiet fallweise beruflich tätig gewesen zu sein, legte jedoch zum Belege seiner Tätigkeiten keine Nachweise vor. Er hat weder eine Aus-, Fort- oder Weiterbildung im Bundesgebiet betrieben, noch war er im Bundesgebiet bisher nachweislich selbsterhaltungsfähig. Der BF gibt an, seit November 2020 in einer Verpackungsfirma zu arbeiten und hierbei ein Nettogehalt von € 1.600,00 zu beziehen, legte zum Beleg dieser Tätigkeit jedoch bis dato keinerlei Nachweise wie etwa einen Lohnzettel vor.
In Österreich hält sich eine Cousine des BF auf, die anerkannter Flüchtling ist. Ein finanzielles oder persönliches Abhängigkeitsverhältnis besteht zu der in Österreich aufhältigen Familienangehörigen nicht.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Somalia:
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 31.03.2021 (Quellen ausgeblendet):
COVID-19
Letzte Änderung: 29.03.2021
Zwischen 19.3.2020 und 2.1.2021 wurden über 81.000 Menschen getestet, knapp 4.700 waren infiziert (HIPS 2021, S.24). Im August 2020 wurde der internationale Flugverkehr wieder aufgenommen (PGN 10.2020, S.9).
Regeln zum social distancing oder auch Präventionsmaßnahmen wurden kaum berücksichtigt (HIPS 2021, S.24). Trotz Warnungen wurden Moscheen durchgehend – ohne Besucherbeschränkung – offengehalten (DEVEX 13.8.2020). Mitte Feber 2021 warnte die Gesundheitsministerin vor einer Rückkehr der Pandemie. Die Zahl an Neuinfektionen und Toten stieg an (Sahan 16.2.2021b). Ende Feber 2021 wurden alle Demonstrationen in Mogadischu verboten, da eine neue Welle von Covid-19 eingetreten war. Zwischen 1. und 24. Feber verzeichnete Somalia mehr als ein Drittel aller Covid-19-Todesopfer der gesamten Pandemie (PGN 2.2021, S.16). Testungen sind so gut wie inexistent. Die offiziellen Todeszahlen sind niedrig, das wahre Ausmaß wird aber wohl nie wirklich bekannt werden (STC 4.2.2021). Die Zahl an Infektionen dürfte höher liegen, als offiziell bekannt. Viele potenziell Infizierte melden sich nicht, da sie eine gesellschaftliche Stigmatisierung fürchten (UNFPA 12.2020, S.1). Auch, dass es in Spitälern kaum Kapazitäten für Covid-19-Patienten gibt, ist ein Grund dafür, warum viele sich gar nicht erst testen lassen wollen – ein Test birgt für die Menschen keinen Vorteil (DEVEX 13.8.2020). Mit Stand 9.3.2021 waren in Somalia 4.544 aktive Fälle registriert, insgesamt 319 Personen waren verstorben. Seit Beginn der Pandemie waren nur 84.278 Tests durchgeführt worden (ACDC 9.3.2021).
Die informellen Zahlen zur Verbreitung von Covid-19 in Somalia und Somaliland sind also um ein Vielfaches höher als die offiziellen. Einerseits sind die Regierungen nicht in der Lage, breitflächig Tests (es gibt insgesamt nur 14 Labore) oder gar Contact-Tracing durchzuführen. Gleichzeitig behindern Stigma und Desinformation die Bekämpfung von Covid-19 in Somalia und Somaliland. Mit dem Virus geht eine Stigmatisierung jener einher, die infiziert sind, als infiziert gelten oder aber infiziert waren. Mancherorts werden selbst Menschen, die Masken tragen, als infiziert gebrandmarkt. Die Angst vor einer Stigmatisierung und die damit verbundene Angst vor ökonomischen Folgen sind der Hauptgrund, warum so wenige Menschen getestet werden. Es wird berichtet, dass z.B. Menschen bei (vormals) Infizierten nicht mehr einkaufen würden. IDPs werden vielerorts von der Gastgemeinde gemieden – aus Angst vor Ansteckung. Dies hat auch zum Verlust von Arbeitsplätzen – z. B. als Haushaltshilfen – geführt. Dabei fällt es gerade auch IDPs schwer, Präventionsmaßnahmen umzusetzen. Sie leben oft in Armut und in dicht bevölkerten Lagern, und es mangelt an Wasser (DEVEX 13.8.2020).
Somalia ist eines jener Länder, dass hinsichtlich des Umgangs mit der Pandemie die geringsten Kapazitäten aufweist (UNFPA 12.2020, S.1). Humanitäre Partner haben schon im April 2020 für einen Plan zur Eindämmung von Covid-19 insgesamt 256 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt (UNSC 13.11.2020, Abs.51). UNSOS unterstützt medizinische Einrichtungen, stellt Ausrüstung zur Bekämpfung der Pandemie zur Verfügung. Bis Anfang Juni konnten die UN und AMISOM eine substanzielle Zahl an Behandlungsplätzen schaffen (darunter auch Betten zur Intensivpflege) (UNSC 13.8.2020, Abs.69). Trotzdem gibt es nur ein speziell für Covid-19-Patienten zugewiesenes Spital, das Martini Hospital in Mogadischu. Dieses ist unterbesetzt und schlecht ausgerüstet; von 150 Betten verfügen nur 11 über ein Beatmungsgerät und Sauerstoffversorgung (Sahan 25.2.2021c). In ganz Somalia und Somaliland gab es im August 2020 für Covid-Patienten nur 24 Intensivbetten (DEVEX 13.8.2020). Es gibt so gut wie keine präventiven Maßnahmen und Einrichtungen. Menschen, die an Covid-19 erkranken, bleibt der Ausweg in ein Privatspital – wenn sie sich das leisten können (Sahan 25.2.2021c). Der türkische Rote Halbmond hat Somalia im Feber 2021 weitere zehn Beatmungsgeräte zukommen lassen (AAG 26.2.2021). Im März 2021 spendete die Dahabshil Group dem Staat Sauerstoffverdichter, mit denen insgesamt 250 Patienten versorgt werden können. Die Firma übernimmt auch die technische Instandhaltung (Sahan 11.3.2021). Insgesamt bleiben Test- und Behandlungsmöglichkeiten für Covid-19-Infizierte aber beschränkt (UNFPA 12.2020, S.1).
Nachdem die Bildungsinstitutionen ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten, sind nicht alle Kinder zurück in die Schule gekommen. Dies liegt an finanziellen Hürden, an der Angst vor einer Infektion, aber auch daran, dass Kinder zur Arbeit eingesetzt werden. Außerdem zeigt eine Studie aus Puntland, dass die Zahl an Frühehen zugenommen hat. Gleichzeitig wurden Immunisierungskampagnen und auch Ernährungsprogramme unterbrochen. Manche Gesundheitseinrichtungen sind teilweise nur eingeschränkt aktiv – nicht zuletzt, weil viele Menschen diese aufgrund von Ängsten nicht in Anspruch nehmen; der Patientenzustrom hat sich in der Pandemie verringert (UNFPA 12.2020, V-VI).
Remissen sind im Zuge der Covid-19-Pandemie zurückgegangen (IPC 3.2021, S.2; vgl. UNFPA 12.2020). Eine Erhebung im November und Dezember 2020 hat gezeigt, dass 22% der städtischen, 12% der ländlichen und 6% der IDP-Haushalte Remissen beziehen. Die Mehrheit der Empfänger berichtete von Rückgängen von über 10% (IPC 3.2021, S.2). Auch der Export von Vieh – der wichtigste Wirtschaftszweig – ist wegen der Pandemie zurückgegangen (UNFPA 12.2020, S.1).
Internationale und nationale Flüge operieren uneingeschränkt. Ankommende müssen am Aden Adde International Airport in Mogadischu und auch am Egal International Airport in Hargeysa einen negativen Covid-19-Test vorweisen, der nicht älter als vier Tage ist. Wie in Mogadischu mit Personen umgegangen wird, welche diese Vorgabe nicht erfüllen, ist unbekannt. Möglicherweise werden diese zusätzlich getestet und in Quarantäne geschickt. In Hargeysa werden Personen ohne Test auf eigene Kosten in eine von der Regierung benannte Unterkunft zur zweiwöchigen Selbstisolation geschickt. Die Landverbindungen zwischen Dschibuti und Somaliland wurden wieder geöffnet, der Hafen in Berbera ist in Betrieb (GW 12.2.2021).
Restaurants, Hotels, Bars und Geschäfte sind offen, es gelten Hygienemaßnahmen und solche zum Social Distancing. Die Maßnahmen außerhalb Mogadischus können variieren. Es kann jederzeit geschehen, dass Behörden Covid-Maßnahmen kurzfristig verschärfen (GW 12.2.2021).
Politische Lage
Letzte Änderung: 29.03.2021
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Letzte Änderung: 29.03.2021
Hinsichtlich der meisten Tatsachen ist das Gebiet von Somalia faktisch zweigeteilt, nämlich in: a) die somalischen Bundesstaaten; und b) Somaliland, einen 1991 selbst ausgerufenen unabhängigen Staat, der international nicht anerkannt wird (AA 2.4.2020, S.5). Während Süd-/Zentralsomalia seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 immer wieder von gewaltsamen Konflikten betroffen war und ist, hat sich der Norden des Landes unterschiedlich entwickelt (BS 2020, S.4).
Staatlichkeit: Somalia hat bei der Bildung eines funktionierenden Bundesstaates Fortschritte erzielt (UNSC 15.5.2019, Abs.78), staatliche und regionale Regierungsstrukturen wurden etabliert (ISS 28.2.2019). Somalia hat in den vergangenen Jahren auf vielen Gebieten große Fortschritte erzielt. Der Staat ist etwa bei Steuereinnahmen effektiver geworden. Junge Somalis und Angehörige der Diaspora sind in der Zivilgesellschaft aktiv, und Mogadischu selbst hat sich stark verändert (BBC 18.1.2021). Somalia ist damit zwar kein failed state mehr, bleibt aber ein fragiler Staat. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr schwach, es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt (AA 2.4.2020, S.4f). Die Regierung verfügt kaum über eine Möglichkeit, ihre Politik und von ihr beschlossene Gesetze im Land durch- bzw. umzusetzen (FH 4.3.2020a, C1). Das Land befindet sich immer noch mitten im Staatsbildungsprozess (BS 2020, S.33). Die Regierung ist bei der Umsetzung von Aktivitäten grundsätzlich stark von internationalen Institutionen und Geberländern abhängig (FH 4.3.2020a, C1). Eigentlich sollte die Bundesregierung auch die Übergangsverfassung noch einmal überarbeiten, novellieren und darüber ein Referendum abhalten. Dieser Prozess ist weiterhin nicht abgeschlossen (USDOS 11.3.2020, S.24). Generell sind drei entscheidende Punkte abzuarbeiten: die Überarbeitung der Verfassung; der Aufbau der föderalen Architektur; und die Entwicklung eines angemessenen Wahlsystems. Der Stillstand zu Anfang des Jahres 2021 ist das Ergebnis des Versagens der Regierung Farmaajo, auch nur einen dieser Punkte zu lösen (ECFR 16.2.2021).
Regierung: Die Präsidentschaftswahl fand im Feber 2017 statt. Die beiden Parlamentskammern wählten den früheren Premierminister Mohamed Abdullahi Mohamed „Farmaajo“ zum Präsidenten (AA 2.4.2020, S.6; vgl. ÖB 3.2020, S.2; USDOS 11.3.2020, S.1). Seine Wahl wurde als fair und transparent erachtet (USDOS 11.3.2020, S.1). Premierminister Hassan Ali Kheyre wurde mit einem Misstrauensvotum des Parlaments am 25.7.2020 seines Amtes enthoben (UNSC 13.8.2020, Abs.5). Im September 2020 wurde Mohamed Hussein Roble als neuer Premierminister angelobt (UNSC 13.11.2020, Abs.6). Insgesamt verfügt die Regierung in der eigenen Bevölkerung und bei internationalen Partnern nur über wenig Glaubwürdigkeit. Das Vertrauen in den Staat ist gering (BS 2020, S.34/40).
Parlament: Die beiden Kammern des Parlaments wurden mittels indirekter Wahlen durch ausgewählte Älteste Anfang 2017 besetzt (USDOS 11.3.2020, S.24). Über 14.000 Wahlmänner und -frauen waren an der Wahl der 275 Abgeordneten beteiligt (AA 2.4.2020, S.6; vgl. USDOS 11.3.2020, S.24). Beide Häuser wurden also in indirekten Wahlen besetzt, das Unterhaus nach Clanzugehörigkeit. Die Wahlen zu beiden Häusern wurden generell als von Korruption durchsetzt und geschoben erachtet (USDOS 11.3.2020, S.1). Sie wurden von Schmiergeldzahlungen, Einschüchterungen, Stimmenkauf und Manipulation begleitet (BS 2020, S.11). Dieses Wahlsystem ist zwar noch weit von einer Demokratie entfernt und unterstreicht die Bedeutung der politischen Elite (BS 2020, S.20). Trotz allem waren die Parlamentswahlen ein bemerkenswerter demokratischer Fortschritt (AA 2.4.2020, S.4; vgl. BS 2020, S.20). Insgesamt erfolgte die Zusammensetzung des Unterhauses entlang der 4.5-Formel, wonach den vier Hauptclans jeweils ein Teil der Sitze zusteht, den kleineren Clans und Minderheiten zusammen ein halber Teil (USDOS 11.3.2020, S.26; vgl. ÖB 3.2020, S.3; BS 2020, S.11). Auch die Regierung ist entlang dieser Formel organisiert (ÖB 3.2020, S.3). Insgesamt wird das Parlament durch Stimmenkauf entwertet, und es hat auf die Tätigkeiten von Präsident und Premierminister wenig Einfluss (BS 2020, S.20).
Demokratie: Seit 1969 wurde in Somalia keine Regierung mehr direkt gewählt (FP 10.2.2021). Somalia ist keine Wahldemokratie und hat auch keine strikte Gewaltenteilung, auch wenn die Übergangsverfassung eine Mehrparteiendemokratie und Gewaltenteilung vorsieht (BS 2020, S.11/15). Es gibt keine freien und fairen Wahlen auf Bundes- (USDOS 11.3.2020, S.23f) und auch keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler oder regionaler Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clanstrukturen) vergeben (AA 2.4.2020, S.5f). Für 2021 vorgesehene Wahlen wurden zuerst verschoben (UNSC 13.8.2020, Abs.7). Und es kam im September 2020 hinsichtlich des Prozederes zu einer Einigung mit den Bundesstaaten. Das vereinbarte Modell entspricht in etwa jenem von 2016. Dabei werden von Ältesten, Bundesstaaten und Vertretern der Zivilgesellschaft Wahldelegierte ausgesucht, welche wiederum die einzelnen Parlamentsabgeordneten wählen. Pro Abgeordnetem sollen 101 Wahlmänner und -Frauen ausgewählt werden (2016: 51). Statt der National Independent Electoral Commission soll die Wahl von sogenannten Electoral Implementation Committees (EIC) umgesetzt werden. Die Abgeordneten zum Oberhaus werden von den Parlamenten der Bundesstaaten ausgewählt (UNSC 13.11.2020, Abs.2f; vgl. FP 10.2.2021). Neben einem 25köpfigen EIC des Bundes sollte zusätzlich in jedem Bundesstaat ein eigenes elfköpfiges EIC eingesetzt werden (UNSC 13.11.2020, Abs.21). Dieses Modell war von allen relevanten politischen Stakeholdern, von Parteien und Vertretern der Zivilgesellschaft vereinbart und vom Bundesparlament ratifiziert worden (UNSC 13.11.2020, Abs.88).
Politische Lage: Allerdings hat sich um die Bestellung der Mitglieder dieser EICs ein neuer Konflikt entsponnen (FP 10.2.2021). Präsident Farmaajo war schließlich nicht in der Lage, sich mit Ahmed „Madobe“, Präsident von Jubaland, und Said Deni, Präsident von Puntland, auf die Umsetzung des im September 2020 vereinbarten Fahrplans für Neuwahlen zu einigen (IP 12.2.2021; vgl. FP 10.2.2021). Und so ist das Mandat des Parlaments im Dezember 2020 ausgelaufen (SG 8.2.2021), jenes von Präsident Farmaajo formell am 8.2.2021 (IP 12.2.2021; vgl. ECFR 16.2.2021). Damit verfügt Somalia über keine legitime Regierung mehr. Allerdings weigert sich Farmaajo sein Amt abzugeben (ECFR 16.2.2021). Er hofft offenbar darauf, dass das Parlament Artikel 53 des Wahlgesetzes in Kraft setzt, wonach Wahlen ausgesetzt und die Amtszeit der Regierung im Katastrophenfall um sechs Monate verlängert würde. Die Covid-19-Pandemie bietet hier einen Vorwand (BMLV 25.2.2021).
Die Führer von Puntland und Jubaland (FP 10.2.2021; vgl. Sahan 22.2.2021) sowie eine Allianz aus 14 Präsidentschaftskandidaten, darunter die ehemaligen Präsidenten Hassan Sheikh Mohamed und Sharif Sheikh Ahmed, erkennen Farmaajo nicht mehr als Präsidenten an (Sahan 9.2.2021b; vgl. IP 12.2.2021, FP 10.2.2021). Die Allianz aus Oppositionsparteien sprach sich für die Bildung einer Übergangsregierung aus (FP 10.2.2021). Somalia befindet sich somit in einer schweren Verfassungs- und politischen Krise (Sahan 9.2.2021a). Das Versagen, einen Kompromiss zu finden, hat nicht nur den demokratischen Prozess unterminiert, es hat die Sicherheit Somalias vulnerabel gemacht (FP 10.2.2021). Denn al Shabaab hat sich die politische Krise zu Nutzen gemacht und die Angriffe seit Anfang 2021 verstärkt (IP 12.2.2021). Es besteht die Angst, dass Präsident Farmaajo durch das Festklammern an der Macht einen neuen Bürgerkrieg auslösen könnte (SG 8.2.2021). Ende Feber und Anfang März 2021 wurden neuerliche Verhandlungen über eine Umsetzung des beschlossenen Wahlsystems angesetzt – auf Druck der internationalen Gemeinschaft (AMISOM 3.3.2021; vgl. UNSOM 2.3.2021).
Föderalisierung: Auch wenn diese Entscheidung zur Föderalisierung umstritten war, und die Umsetzung von Gewalt begleitet wurde, konnten neue Bezirks- und Regionalverwaltungen etabliert werden. Neben Puntland wurden in den letzten Jahren vier neue Bundesstaaten geschaffen: Galmudug, Jubaland, South-West State (SWS) und HirShabelle. Somaliland wird als sechster Bundesstaat erachtet (BS 2020, S.10; vgl. AI 13.2.2020, S.13). Offen sind noch der finale Status und die Grenzen der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (Banadir Regional Administration/BRA) (AI 13.2.2020, S.13). Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clanbalance: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir. Allerdings finden sich in jedem Bundesstaat Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden (BFA 8.2017, S.55f).
Die Fortschritte der Jahre 2012-2016 wurden von der Regierung Farmaajo weitgehend rückgängig gemacht (ECFR 16.2.2021). Dass in vier der fünf Bundesstaaten im Zeitraum 2018-2019 eine neue Führung gewählt werden solle, sah die Bundesregierung als Chance, sich durch die Platzierung loyaler Präsidenten Einfluss zu verschaffen. Dementsprechend mischte sich die Bundesregierung in die Wahlen ein (HIPS 2020, S.1/4ff; vgl. ECFR 16.2.2021). Zudem hat sie Truppen entsendet, um die politische Kontrolle zu erlangen (ECFR 16.2.2021). Die Präsidenten von HirShabelle, dem SWS und von Galmudug gelten nunmehr als der somalischen Bundesregierung freundlich gesinnt (Sahan 11.2.2021b).
Grundsätzlich gibt es politische Uneinigkeit über die Frage, ob Bundesstaaten semi-autonom sein sollen oder ob mehr Macht bei der Bundesregierung zentralisiert sein soll (ISS 15.12.2020). Die entstandene Pattsituation zwischen Bund und Ländern hat anfangs zum Stillstand bei wichtigen Fragen geführt – etwa hinsichtlich der Wahlen, der Verfassung und der Sicherheit (UNSC 13.2.2020, Abs.6). Schließlich hat Farmaajo Somalia aber an den Rand eines institutionellen Kollaps’ geführt (ECFR 16.2.2021).
Bei der Auseinandersetzung zwischen Bundesregierung und Bundesstaaten kommt u. a. die Krise am Golf zu tragen: Der Konflikt zwischen den Vereinten Arabischen Emiraten (VAE) – unterstützt von Saudi-Arabien – und Katar – unterstützt von der Türkei – wurde auch nach Somalia exportiert und trägt dort erheblich zur Vertiefung der Spaltung bei (BS 2020, S.41). Zudem leidet AMISOM an den Spannungen zwischen der Bundesregierung und dem Nachbarland Kenia sowie am Konflikt in Äthiopien – beide Staaten sind Truppensteller (ISS 15.12.2020).
Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten
Letzte Änderung: 29.03.2021
Zwischen Nord- und Süd-/Zentralsomalia sind gravierende Unterschiede bei den Zahlen zu Gewalttaten zu verzeichnen (ACLED 2021). Auch das Maß an Kontrolle über bzw. Einfluss auf einzelne Gebiete variiert. Während Somaliland die meisten der von ihm beanspruchten Teile kontrolliert, ist die Situation in Puntland und – in noch stärkerem Ausmaß – in Süd-/Zentralsomalia komplexer. In Mogadischu und den meisten anderen großen Städten hat al Shabaab keine Kontrolle, jedoch eine Präsenz. Dahingegen übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes Kontrolle aus. Zusätzlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia große Gebiete, wo unterschiedliche Parteien Einfluss ausüben; oder die von niemandem kontrolliert werden; oder deren Situation unklar ist (LIFOS 9.4.2019, S.6).
Süd-/Zentralsomalia, Puntland
Letzte Änderung: 29.03.2021
Die Sicherheitslage bleibt instabil (BS 2020, S.38) bzw. volatil, mit durchschnittlich 285 sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Monat. Die meisten Vorfälle waren Angriffe der al Shabaab, darunter auch Sprengstoffanschläge (UNSC 17.2.2021, Abs.13). Die österreichische Botschaft spricht in diesem Zusammenhang von einem bewaffneten Konflikt (ÖB 3.2020, S.2), während das deutsche Auswärtige Amt von Bürgerkrieg und bürgerkriegsähnlichen Zuständen berichtet (AA 2.4.2020, S.4/7).
AMISOM hält in Kooperation mit der somalischen Armee, regionalen Sicherheitskräften sowie mit regionalen und lokalen Milizen die Kontrolle über die seit 2012 eroberten Gebiete. Während die somalische Regierung und ihre Alliierten zwar im Großen und Ganzen territoriale Gewinne verzeichnen und die Kontrolle über die meisten Städte halten können, ist es ihnen nicht gelungen, die Kontrolle in ländliche Gebiete auszudehnen (BS 2020, S.6). Die somalische Regierung und AMISOM können keinen Schutz vor allgemeiner oder terroristischer Kriminalität im Land garantieren (AA 3.12.2020). Generell ist die Regierung nicht in der Lage, für Sicherheit zu sorgen. Dafür ist sie in erster Linie auf AMISOM, aber auch auf Unterstützung durch die USA – angewiesen. Dies wird sich in den nächsten Jahren nicht ändern (IP 1.11.2019; vgl. BS 2020, S.11). Weiterhin führt der Konflikt unter Beteiligung der genannten Parteien zu zivilen Todesopfern, Verletzten und Vertriebenen (USDOS 11.3.2020, S.1; vgl. ÖB 3.2020, S.2).
Trend: Im Zeitraum von Anfang 2018 bis zum Ende 2020 gab es hunderte terroristische Vorfälle. In den Jahren 2018 und 2019 war die Zahl an Vorfällen zunächst rückläufig – v.a. wegen der intensivierten Operationen gegen al Shabaab. Die Gruppe konnte dabei aus einigen strategisch wichtigen Punkten vertrieben werden – etwa von den fünf Shabelle-Brücken zwischen Sabid Anoole und Janaale (Sahan 11.2.2021a). Dadurch und durch verstärkte Sicherheitsmaßnahmen in Mogadischu konnte al Shabaab auch nur mehr selten Sprengstoffanschläge mit Fahrzeugen durchführen. Die Zahl an zivilen Opfern durch Sprengstoffanschläge ging demnach 2020 gegenüber 2019 um 50% zurück (UNSC 17.2.2021, Abs.13). Im Jahr 2020 haben sich aber zuletzt die Angriffe auf somalische Kräfte und AMISOM wieder gemehrt (Sahan 11.2.2021a; vgl. JF 28.7.2020). Dies kann direkt mit den politischen Streitigkeiten zwischen Bund und Bundesstaaten in Zusammenhang gebracht werden, da dadurch für den Kampf gegen al Shabaab notwendige Ressourcen umgeleitet wurden (Sahan 11.2.2021a). Aufgrund des politischen Streits rund um das Ende der Präsidentschaft Farmajos ist die Sicherheitslage in einer Abwärtsspirale. Sicherheitskräfte haben teilweise seit Monaten keinen Sold erhalten und halten sich in Mogadischu und anderen Landesteilen an der Bevölkerung schadlos (SG 8.2.2021). Auch der politische Streit selbst hat das Potenzial, zu einem bewaffneten Konflikt zu eskalieren. Viele Sicherheitskräfte sind v. a. ihrem Kommandanten oder ihrem Clan gegenüber loyal. So kann nicht nur die Regierung, sondern auch die Opposition Bewaffnete ins Feld stellen (Reuters 19.2.2021).
Laut Einschätzung eines Experten kann ein weiteres Zurückdrängen von al Shabaab durch AMISOM auf der aktuellen Grundlage nicht erwartet werden (BMLV 25.2.2021). In Lower Juba und Lower Shabelle kommt es nur noch sporadisch zu Störoperationen gegen al Shabaab (UNSC 13.11.2020, Abs.60). In der Vergangenheit hat die Bundesarmee wiederholt dabei versagt, von AMISOM geräumte Gebiete auch tatsächlich abzusichern (UNSC 1.11.2019, S.24). Trotzdem berät AMISOM die Übergabe weiterer Forward Operating Bases (FOBs) an die somalische Armee bzw. die Aufgabe einzelner FOBs (UNSC 13.11.2020, Abs.61).
Ein Vordringen größerer Kampfverbände der al Shabaab in unter Kontrolle der Regierung stehende Städte kommt nur in seltenen Fällen vor. Bisher wurden solche Penetrationen innert Stunden durch AMISOM und somalische Verbündete beendet. Eine Infiltration der Städte durch verdeckte Akteure von al Shabaab kommt in manchen Städten vor. Städte mit konsolidierter Sicherheit – i.d.R. mit Stützpunkten von Armee und AMISOM – können von al Shabaab zwar angegriffen, aber nicht eingenommen werden (BMLV 25.2.2021).
Al Shabaab führt nach wie vor eine effektive Rebellion (USDOS 10.6.2020, S.5). Al Shabaab bleibt die signifikanteste Bedrohung für Frieden und Sicherheit. Die Gruppe führt ihren Kampf mit zunehmender Intensität und Häufigkeit. Die Angriffe auf sogenannten high-profile-Ziele in Mogadischu und anderswo wurden verstärkt (HIPS 2021, S.20). Angegriffen werden Regierungseinrichtungen, Behördenmitarbeiter, Sicherheitskräfte, internationale Partner und öffentliche Plätze – z.B. Restaurants und Hotels (FIS 7.8.2020, S.25; vgl. AA 3.12.2020). Al Shabaab führt weiterhin regelmäßige Angriffe auf Regierungsstellungen durch. Vor allem der Korridor Mogadischu–Merka ist für Angriffe anfällig (PGN 10.2020, S.2). Die Kriegsführung der al Shabaab erfolgt weitgehend asymmetrisch mit sog. hit-and-run-attacks, Attentaten, Sprengstoffanschlägen und Granatangriffen. Das Gros der Angriffe wird mit niedriger Intensität bewertet – jedoch sind die Angriffe zahlreich, zerstörerisch und kühn (JF 28.7.2020). Al Shabaab bleibt zudem weiterhin in der Lage, z.B. in Mogadischu koordinierte Angriffe durchzuführen. Die Zahl an Mörserangriffen ist zurückgegangen. Derartige Angriffe richten sich in erster Linie gegen AMISOM und regionale Sicherheitskräfte in Lower Juba, Lower Shabelle und Middle Shabelle (UNSC 13.11.2020, Abs.12), aber auch in Hiiraan und Benadir (UNSC 13.8.2020, Abs.19). Hingegen hat die Zahl an Selbstmordattentaten zugenommen. Es kommt auch weiterhin zu sogenannten komplexen Angriffen, etwa am 16.8.2020 auf das Elite Hotel in Mogadischu mit zwanzig Todesopfern oder am 17.8.2020 auf einen Stützpunkt der somalischen Armee in Goof Gaduud Burey (Bay) (UNSC 13.11.2020, Abs.14).
Kampfhandlungen: Al Shabaab greift die Bundesarmee und AMISOM weiterhin an, bei durchschnittlich 140 Angriffen pro Monat. Dabei handelt es sich meist um sogenannte hit-and-run-Angriffe. Im Zeitraum November 2020 bis Feber 2021 waren davon die Regionen Lower und Middle Shabelle, Benadir, Bay, Hiiraan, Bakool, Lower Juba, Gedo, Galgaduud und Mudug betroffen (UNSC 17.2.2021, Abs.15). Bei Kampfhandlungen gegen al Shabaab, aber auch zwischen Clans oder Sicherheitskräften kommt es zur Vertreibung, Verletzung oder Tötung von Zivilisten (HRW 14.1.2020). In Teilen Süd-/Zentralsomalias (südlich von Puntland) kommt es zu örtlich begrenzten Kampfhandlungen zwischen somalischen Sicherheitskräften/Milizen bzw. AMISOM (African Union Mission in Somalia) und al Shabaab (AA 2.4.2020, S.18; vgl. AA 3.12.2020). Dies betrifft insbesondere die Regionen Lower Juba, Gedo, Bay, Bakool sowie Lower und Middle Shabelle (AA 2.4.2020, S.18). Der durch AMISOM und die somalische Armee in der Region Lower Shabelle auf al Shabaab ausgeübte militärische Druck hat dazu beigetragen, dass die Gruppe ihre Aktivitäten in HirShabelle und Galmudug verstärkt hat (UNSC 13.11.2020, Abs.15). Zivilisten sind insbesondere in Frontbereichen, wo Gebietswechsel vollzogen werden, einem Risiko von Racheaktionen durch al Shabaab oder aber von Regierungskräften ausgesetzt (LIFOS 3.7.2019, S.22). Die Bezirke Merka, Qoryooley und Afgooye sind nach wie vor stark von Gewalt betroffen, das Gebiet zwischen diesen Städten liegt im Fokus von al Shabaab (BMLV 25.2.2021).
Immer wieder überrennt al Shabaab kurzfristig kleinere Orte oder Stützpunkte - etwa Daynuunay oder Goof Gaduud im Bereich Baidoa - um sich nach wenigen Stunden oder Tagen wieder zurückzuziehen (PGN 10.2020, S.9f). Andernorts greift al Shabaab Stützpunkte erfolglos an – etwa die FOB äthiopischer AMISOM-Truppen in Halgan im Feber 2021 (Halbeeg 22.2.2021).
Gebietskontrolle: Al Shabaab wurde im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich aus den großen Städten gedrängt (ÖB 3.2020, S.2). Seit der weitgehenden Einstellung offensiver Operationen durch AMISOM seit Juli 2015 hat sich die Aufteilung der Gebiete nicht wesentlich geändert. Während AMISOM und die Armee die Mehrheit der Städte halten, übt al Shabaab über weite Teile des ländlichen Raumes die Kontrolle aus oder kann dort zumindest Einfluss geltend machen (UNSC 1.11.2019, S.10; vgl. ÖB 3.2020, S.2). Dabei kontrollierte al Shabaab im Jahr 2019 soviel Land, wie schon seit dem Jahr 2010 nicht mehr. Man rechnet mit 20% des gesamten Staatsterritoriums (USDOS 10.6.2020, S.5). Die Gebiete Süd-/Zentralsomalias sind teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der al Shabaab oder anderer Milizen. Allerdings ist die Kontrolle der somalischen Bundesregierung im Wesentlichen auf Mogadischu beschränkt; die Kontrolle anderer urbaner und ländlicher Gebiete liegt bei den Regierungen der Bundesstaaten, welche der Bundesregierung de facto nur formal unterstehen (AA 2.4.2020, S.5).
Die Regierung und ihre Verbündeten kontrollieren zwar viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und AMISOM sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben (BMLV 25.2.2021). Gegen einige dieser Städte unter Regierungskontrolle hält al Shabaab Blockaden aufrecht (HRW 14.1.2020). Al Shabaab ist in der Lage, Hauptversorgungsrouten abzuschneiden und Städte dadurch zu isolieren (UNSC 1.11.2019, S.10; vgl. BMLV 25.2.2021).
Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia befinden sich unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss von al Shabaab (BMLV 25.2.2021). Die wesentlichen, von al Shabaab verwalteten und kontrollierten Gebiete sind
1. das Juba-Tal mit den Städten Buale, Saakow und Jilib; sowie Qunya Baarow in Lower Juba;
2. Teile von Lower Shabelle um Sablaale;
3. der südliche Teil von Bay mit Ausnahme der Stadt Diinsoor;
4. weites Gebiet recht und links der Grenze von Bay und Hiiraan, inklusive der Stadt Tayeeglow;
5. sowie die südliche Hälfte von Galgaduud mit den Städten Ceel Dheere und Ceel Buur; und angrenzende Gebiete von Mudug und Middle Shabelle, namentlich die Städte Xaradheere (Mudug) und Adan Yabaal (Middle Shabelle) (PGN 2.2021).
Dahingegen können nur wenige Gebiete in Süd-/Zentralsomalia als frei von al Shabaab bezeichnet werden – etwa Dhusamareb oder Guri Ceel. In Puntland gilt dies für größere Gebiete, darunter Garoowe (BMLV 25.2.2021).
Andere Akteure: Auch der Konflikt um Ressourcen (Land, Wasser etc.) führt regelmäßig zu Gewalt (BS 2020, S.31). Es kommt immer wieder auch zu Auseinandersetzungen somalischer Milizen untereinander (AA 3.12.2020). Auch somalische und regionale Sicherheitskräfte töteten Zivilisten und begingen sexuelle Gewalttaten – v.a. in und um die Region Lower Shabelle (USDOS 11.3.2020, S.30). Zusätzlich wird die Sicherheitslage durch die große Anzahl lokaler und sogar föderaler Milizen verkompliziert (BS 2020, S.7). Es gibt immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Milizen einzelner Subclans bzw. religiöser Gruppierungen wie Ahlu Sunna Wal Jama’a (AA 2.4.2020, S.17f).
Seit dem Jahr 1991 gibt es in weiten Landesteilen kaum wirksamen Schutz gegen Übergriffe durch Clan- und andere Milizen sowie bewaffnete kriminelle Banden (AA 2.4.2020, S.17f). Bei durch das Clansystem hervorgerufener (teils politischer) Gewalt kommt es zu Rachemorden und Angriffen auf Zivilisten. Im Jahr 2019 kam es bei Zusammenstößen zwischen Clanmilizen sowie zwischen diesen und al Shabaab in Puntland, Galmudug, Lower und Middle Shabelle, Lower Juba, Hiiraan und Bay zu Todesopfern. Zusätzlich kommt es zu Kämpfen zwischen Clans und Subclans, v.a. im Streit um Wasser und Land. Im Jahr 2019 waren davon v.a. die Regionen Hiiraan, Galmudug, Lower und Middle Shabelle sowie Sool betroffen (USDOS 11.3.2020, S.3/11; vgl. ÖB 3.2020, S.10). Derartige Kämpfe sind üblicherweise lokal begrenzt und dauern nur kurze Zeit, können aber mit großer – generell gegen feindliche Kämpfer gerichteter – Gewalt verbunden sein (LI 28.6.2019, S.8).
Der sogenannte Islamische Staat bleibt in Somalia in Puntland konzentriert, in Mogadischu gibt es nur eine minimale Präsenz. Größere Aktivitäten des IS gab es in Puntland in den Jahren 2016 und 2017. In Mogadischu richtet sich der IS mit gezielten Tötungen v.a. gegen Sicherheitskräfte (JF 14.1.2020). Für den Zeitraum Mai-August 2020 werden dem IS allerdings nur zwei Attacken – beide in Mogadischu – zugeschrieben (UNSC 13.8.2020, Abs.24). Im Zeitraum August-Oktober 2020 (UNSC 13.11.2020, Abs.16) sowie November 2020-Feber 2021 gab es keine Aktivitäten (UNSC 17.2.2021, Abs.17).
Zivile Opfer: Al Shabaab ist für einen Großteil der zivilen Opfer verantwortlich (siehe Tabelle weiter unten). Allerdings greift al Shabaab Zivilisten nicht spezifisch an. Doch auch wenn die Gruppe eigentlich andere Ziele angreift, enden oft Zivilisten als Opfer, da sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort befunden haben (NLMBZ 3.2020, S.17/37).
Insgesamt werden die Zahlen ziviler Opfer (Tote und Verletzte) wie folgt angegeben:
Bei einer geschätzten Bevölkerung von rund 15,4 Millionen Einwohnern (WHO 12.1.2021) lag die Quote getöteter oder verletzter Zivilisten in Relation zur Gesamtbevölkerung für Gesamtsomalia zuletzt bei 1:12035.
Luftangriffe: Im Jahr 2017 führten die USA 35 Luftschläge in Somalia durch, 2018 waren es 47 und 2019 63. Im Jahr 2020 ist die Zahl auf 51 gesunken. Die Luftangriffe auf al Shabaab und den IS, bei denen seit 2017 ca. 1.000 Kämpfer getötet worden sind (HIPS 2021, S.21) konzentrierten sich vor allem auf die Regionen Lower Shabelle, Lower Juba, Middle Juba, Gedo und Bari (UNSC 13.8.2020, Abs.24). Die Luftangriffe werden in der Regel mit bewaffneten Drohnen geflogen (PGN 10.2020, S.8). Neben den offiziell bekannt gegebenen Luftschlägen kommen noch verdeckte hinzu. Zusätzlich führt auch die kenianische Luftwaffe Angriffe durch, vorwiegend in Gedo und Lower Juba (PGN 10.2020, S.15ff). Insgesamt gab es demnach 2020 72 Luftangriffe, bei welchen die USA als Angreifer bestätigt sind oder vermutet werden (PGN 2.2021, S.11).
Al Shabaab
Letzte Änderung: 29.03.2021
Al Shabaab ist eine radikal-islamistische, mit der al Qaida affiliierte Miliz (AA 2.4.2020, S.5; vgl. USDOS 24.6.2020). Die Gruppe ist weiterhin eine gut organisierte und einheitliche Organisation mit einer strategischen Vision: der Eroberung Somalias (BBC 18.1.2021; vgl. BMLV 25.2.2021). Allerdings wandelt sich al Shabaab langsam zu einer mafiösen Entität, bei der das Eintreiben von „Steuern“ über den bewaffneten Kampf gestellt wird (HIPS 2021, S.3).
Der Anführer von al Shabaab ist Ahmed Diriye alias Ahmed Umar alias Abu Ubaidah (USDOS 24.6.2020). Es wird darüber berichtet, dass dieser aus gesundheitlichen Gründen von seinem Stellvertreter Sheikh Abukar Ali Aden abgelöst worden ist (JF 23.10.2020; vgl. PGN 10.2020, S.12), und dass die Spannungen innerhalb al Shabaabs größer geworden sind (JF 23.10.2020). Gemäß Angaben einer Quelle handelt es sich hier um wenig fundierte Gerüchte. Al Shabaab bleibt auch weiterhin eine geschlossene, monolithische Organisation, es sind keinerlei Anzeichen für eine Spaltung erkennbar (BMLV 25.2.2021).
Manche Menschen unterstützen al Shabaab aus ideologischen Gründen; manche deshalb, weil die Gruppe Rechtsschutz bietet; die meisten Menschen befolgen Anweisungen der Gruppe aber aus Angst (FIS 7.8.2020, S.15f). Die Menschen auf dem Gebiet von al Shabaab sind einer höchst autoritären und repressiven Herrschaft unterworfen. Die Gruppe versucht, alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens der Menschen zu kontrollieren (BS 2020, S.12). Auch Namen von Nachbarn und sogar die Namen der Verwandten der Nachbarn werden in Datenbanken geführt (Maruf 14.11.2018). Die mit der Nichtbefolgung strenger Vorschriften verbundenen harten Bestrafungen haben ein generelles Klima der Angst geschaffen (BS 2020, S.12). Dadurch kann al Shabaab die Bevölkerung kontrollieren, rekrutieren, Gebiete kontrollieren, Steuern eintreiben und ihre Gesetze durchsetzen (Mohamed 17.8.2019).
Verwaltung und Clans: Al Shabaab hat in den von ihr kontrollierten Gebieten Verwaltungsstrukturen geschaffen (BS 2020, S.6) und erfüllt alle Rahmenbedingungen eines Staates. Gleichzeitig erlangt al Shabaab aufgrund ihres funktionierenden Justizwesens auch ein Maß an Unterstützung durch die Bevölkerung (Mohamed 17.8.2019). Völkerrechtlich kommen al Shabaab als de facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihr kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 2.4.2020, S.5/17). Al Shabaab sorgt dort auch einigermaßen für Ordnung (ICG 27.6.2019, S.1). Die Gruppe verfügt über eine eigene Verwaltung und eigene Gerichte (LIFOS 9.4.2019, S.6). Die Gebiete von al Shabaab werden als relativ sicher und stabil beschrieben, bei einer Absenz von Clankonflikten (BMLV 25.2.2021). Al Shabaab duldet nicht, dass irgendeine andere Institution außer ihr selbst auf ihren Gebieten Gewalt anwendet. Jene, die dieses Gesetz brechen, werden bestraft (HI 31.5.2018, S.5). In den von ihr kontrollierten Gebieten verfügt al Shabaab über effektive Verwaltungsstrukturen, eine Art von Rechtsstaatlichkeit und eine effektive Polizei. Die Verwaltung von al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BMLV 25.2.2021). Die Zivilverwaltung von al Shabaab bietet u.a. Rechtsprechung durch Schariagerichte, organisiert Treffen mit Clanältesten, unterstützt Bedürftige, führt Religionsschulen und bietet Fortbildungsmöglichkeiten – auch für Frauen (NLMBZ 3.2019, S.11). Al Shabaab versucht, zu enge Bindungen an Clans zu vermeiden, unterstützt schwächere Gruppen gegen stärkere Rivalen oder vermittelt bei Streitigkeiten (ICG 27.6.2019, S.2). Gleichzeitig wird al Shabaab als Friedensbewahrer erachtet, da sie Clankonflikte derart handhabt, dass diese auf den Gebieten unter ihrer Kontrolle nur selten in Gewalt münden (HI 31.5.2018, S.5).
Stärke: Die Hälfte der Mitglieder von al Shabaab stellt den militärischen Arm (jabhat), welcher an der Front gegen die somalische Regierung und AMISOM kämpft. Die andere Hälfte sind entweder Polizisten, welche Gesetze und Gerichtsurteile durchsetzen und Verhaftungen vornehmen; sowie Richter. Außerdem verfügt al Shabaab in der Regierung, in der Armee und in fast jedem Sektor der Gesellschaft über ein fortschrittliches Spionagenetzwerk. Die Größe der Miliz von al Shabaab wird von einer Quelle auf 13.000 geschätzt (Maruf 14.11.2018). Neuere Quellen berichten von 7.000-9.000 (USDOS 24.6.2020) oder auch von 5.000-10.000 Angehörigen der al Shabaab (HIPS 2021, S.21). Die tatsächliche Größe ist schwer festzulegen, da viele Angehörige der al Shabaab zwischen Kampf und Zivilleben hin- und herwechseln (WP 31.8.2019). Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt al Shabaab mit dem Amniyad [Nachrichtendienst der al Shabaab] über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BMLV 25.2.2021). Der Amniyad ist die wichtigste Stütze der al Shabaab (Mohamed 17.8.2019).
Kapazitäten: Al Shabaab hat zwar insgesamt nicht an Stärke verloren (ÖB 3.2020, S.2) und ist nach wie vor in der Lage, Friedens- und Staatsbildung zu hemmen (HIPS 2021, S.3). Trotz ihrer Fähigkeit zu stören und zu zerstören, stellt al Shabaab aber nicht länger eine existentielle Bedrohung für die somalische Regierung dar (HIPS 2021, S.21). An Kapazitäten zur konventionellen Kriegsführung hat al Shabaab deutlich eingebüßt. Schuld daran sind die Luftschläge der USA und die Bodenoperationen von somalischer Armee und AMISOM (HIPS 2021, S.3). Allein bei Luftschlägen hat al Shabaab seit 2017 ca. 1.000 Mann verloren (HIPS 2021, S.21). So wurden Kommandostrukturen unterbrochen und zudem Sprengstoffvorräte vernichtet (FIS 7.8.2020, S.10f). Gemäß einer anderen Quelle bleiben die Kapazitäten von al Shabaab konstant. Zwar kann die Gruppe aufgrund intensiver Aufklärungstätigkeiten keine großen Kampfverbände mehr verlegen; allerdings sind die personellen und materiellen Kapazitäten unverändert geblieben (BMLV 25.2.2021). Allerdings nutzt die Gruppe die bestehenden politischen Konflikte um Neuwahlen. Die politische Elite ist durch sich selbst abgelenkt und hat den Kampf gegen al Shabaab vernachlässigt (HIPS 2021, S.21).
Gebiete: Al Shabaab wurde zwar aus den meisten Städten vertrieben, bleibt aber auf dem Land in herausragender Position (BBC 18.1.2021). Zudem schränkt sie regionale sowie Kräfte des Bundes auf städtischen Raum ein, ohne dass diese die Möglichkeit hätten, sich zwischen den Städten frei zu bewegen (HIPS 2021, S.3). Al Shabaab kontrolliert Gebiete in den Regionen Lower Juba und Gedo (Jubaland); Bakool, Bay und Lower Shabelle (SWS); Hiiraan und Middle Shabelle (HirShabelle); Galgaduud und Mudug (Galmudug). Die Region Middle Juba wird zur Gänze von al Shabaab kontrolliert (PGN 2.2021, S.1).
Gemäß einer Quelle hält al Shabaab in ihrem Gebiet vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen und zielt damit in erster Linie auf das Einheben von Steuern ab und übt Einfluss aus (LI 21.5.2019a, S.3). Eine andere Quelle erklärt, dass, auch wenn es dort keine permanenten Stationen gibt, die Po