Entscheidungsdatum
14.06.2021Norm
AsylG 2005 §55Spruch
W195 2017123-4/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Vizepräsidenten Dr. Michael SACHS als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX StA. Bangladesch, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.12.2020, XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 08.06.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. vorhergehende Verfahren:
I.1. Der BF ist Staatsangehöriger von Bangladesch, am XXXX geboren, sunnitischer Muslim und Angehöriger der bengalischen Volksgruppe.
I.2. Der BF stellte erstmalig einen Asylantrag am 25.10.2011. Dieser wurde vom Bundesasylamt bescheidmäßig abgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof am 24.05.2013 ab.
I.3. Am 22.09.2015 stellte der BF einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK. Dieser Antrag wurde am 29.01.2016 zurückgewiesen, da der BF am 21.01.2016 neuerlich einen Asylantrag gestellt hatte.
I.4. Ein Antrag auf Erteilung einer Duldungskarte wurde vom BFA am 27.10.2017 zurückgewiesen.
I.5. Anlässlich des neuerlichen Asylantrages wurde der BF am 23.01.2016 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich einvernommen. Der BF gab an, seit seiner letzten Einreise nach Österreich immer im Bundesgebiet aufhältig gewesen zu sein. Er habe am 09.01.2016 einen Anruf seiner Familie erhalten, dass er am 07.01.2016 von seinen politischen Gegnern angezeigt worden sei. Ihm werde unter anderem versuchter Mord vorgeworfen. Da seine politischen Gegner an der Macht seien, habe er kein faires Verfahren zu erwarten. Er habe Angst, in Bangladesch verhaftet und in Haft misshandelt zu werden. Dem BF seien die neuen Umstände seit 09.01.2016 bekannt, die Gerichtsunterlagen seien ihm von seiner Familie am 11.01.2016 übermittelt worden.
I.6. Am 15.09.2016 wurde der BF niederschriftlich vor dem BFA einvernommen. Der BF erklärte, dass er ein Gerichtsschreiben vorgelegt habe, in dem ihm das Verbrennen der Flagge, ein Überfall mit einem Messer und Mordversuch vorgeworfen werde (AS 209). Er sei mittlerweile drei Mal vom Gericht aufgefordert worden zu kommen. Am 15.12.2016 würde wegen seines Nichterscheinens ein Haftbefehlt erlassen werden. Angezeigt habe den BF sein Cousin, XXXX was er später auf XXXX korrigierte, sein Cousin sei nur der Übermittler gewesen.
Der BF gab an, seit 2003 Mitglied der BNP und als Organisationssekretär tätig gewesen zu sein. Er sei im Wahlsprengel XXXX tätig gewesen zu sein, erklärte, dass die BNP 19 Parteiziele (Dofa) habe, sang das Parteilied, zeichnete die BNP-Flagge und ordnete mehrere Funktionäre namensmäßg zu. In Österreich lebe der BF vom Verkauf und der Zustellung von Zeitungen, in seiner Freizeit gehe er spazieren, spiele Fußball, koche und sehe fern. An Beweismitteln legte der BF ein B1-Deutschzertifikat, eine Bescheinigung über einen Erste-Hilfe-Kurs, eine XXXX Mitgliedsbestätigung, eine Bestätigung des XXXX Unterstützungsschreiben, Mitgliedskarten von XXXX einen Auszug aus dem ZMR, einen Mietvertrag und einen Arbeitsvorvertrag vor.
I.7. Die vom BF vorgelegte Anzeige wurde vom BFA der Staatendokumentation vorgelegt, die diese vor Ort durch einen Vertrauensanwalt prüfen ließ. Diese kam zu dem Schluss, dass das vorgelegte Dokument nicht authentisch sei. Hinsichtlich einer politischen Betätigung des BF gebe es widersprüchliche Angaben: Die Eltern des BF gaben an, er werde wegen seiner Verbindung zur BNP polizeilich gesucht, andere Ortsansässige gaben an, der BF habe mit keiner politischen Partei zu tun gehabt, andere Personen und seine Eltern gaben an, er habe als Student an politischen Treffen und Märschen teilgenommen.
I.8. Mit Bescheid vom 17.07.2018 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Bangladesch (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Darüber hinaus wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Bangladesch gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.) und ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
I.9. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht wurde mit Erkenntnis vom 10.07.2019, XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.07.2019 abgewiesen.
Das Bundesverwaltungsgericht stellte in dieser Entscheidung fest:
„II.1.1. Zur Person des BF, seinen Familienverhältnissen und seinen Lebensumständen in Österreich:
Der volljährige BF ist Staatsangehöriger von Bangladesch und der Volksgruppe der Bengalen sowie der sunnitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Seine Muttersprache ist Bengali.
Der BF ist in XXXX geboren (AS 240). Er hat in seinem Heimatland die Matura abgelegt und danach vier Jahre Wirtschaftswissenschaften studiert, aber nicht abgeschlossen (AS 241). Gearbeitet hat er in Bangladesch nicht (AS 241 f).
Der BF ist ledig, seine Familie (Eltern, Brüder und Schwestern, mittlerweile ein Bruder in Saudi Arabien) (AS 249ff, BVwG VS) wohnt in Bangladesch. Er ist mit seiner Familie in Kontakt (BVwG VS).
In Österreich lebt der BF allein (AS 241) und hat keine Verwandten oder Familienangehörigen. Der BF ist in mehreren Organisationen tätig und hat ein Gewerbe (Hausbetreuung, einfach Reinigungs- und Wartungstätigkeiten) angemeldet, das er auch ausübt. (AS 283, BVwG VS)
Der BF hatte zwischenzeitlich gesundheitliche Probleme, er litt an Gastritis und hohem Blutdruck (AS 205), diese Beschwerden haben sich jedoch gebessert (AS 240). Zu seinem aktuellen Gesundheitszustand wird festgestellt, dass der BF trotz Gastritis bei guter Gesundheit ist, manchmal wegen Kopfschmerzen Tabletten nimmt (BVwG VS).
In Österreich lebt der BF allein und hat keine Verwandten oder Familienangehörigen (AS 241, BVwG VS). Er ist Mitglied in einer politischen Partei, mehreren Organisationen, hat den Führerschein Klasse B und besucht ein Fitnessstudio. Er beherrscht Deutsch auf dem Niveau B1. (AS 119ff, 271 ff; BVwG VS)
II.1.2. Zum Fluchtvorbringen des BF:
Festgestellt wird, dass der BF erstmals im Jahr 2011 um Asyl in Österreich ansuchte, dieser Antrag wurde am 24.05.2013 vom Asylgerichtshof rechtskräftig abgewiesen.
Am 22.09.2015 stellte der BF einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK. Dieser Antrag wurde am 29.01.2016 zurückgewiesen, da der BF am 21.01.2016 neuerlich einen Asylantrag gestellt hatte.
Festgestellt wird, dass der BF behauptet, als Organisationssekretär der BNP tätig gewesen zu sein.
Festgestellt wird, dass der BF über Kenntnisse des politischen Systems von Bangladesch und über die BNP verfügt, dieses Wissen jedoch durchaus mangelhaft (zB hinsichtlich Parteifarbe) ist, so dass sich Zweifel an einer politischen Tätigkeit als Organisationssekretär ergeben. Deshalb wird nicht festgestellt, dass der BF tatsächlich als Organisationssekretär der BNP tätig war.
Festgestellt wird, dass der BF eine gegen ihn gerichtete Anzeige vorgelegt hat. Diese Anzeige ist jedoch nicht authentisch, weswegen ebenfalls festgestellt wird, dass der BF in seinem Herkunftsstaat keine gegen seine Person gerichtete Verfolgung aus politischen Gründen zu befürchten hat.
Festgestellt wird, dass durch das Ergebnis der Nachforschungen des Vertrauensanwaltes die Glaubwürdigkeit des BF massiv erschüttert wurde.
Festgestellt wird, dass die Glaubwürdigkeit auch massiv erschüttert wurde hinsichtlich der behaupteten Schutzgelderpressungen der Polizei gegenüber seiner Schwester wegen der Person des BF und der – unglaubwürdigen – Nichtkommunikation mit dem Schwager, der dafür die monatlichen finanziellen Mittel aufbringen würde.
Es wird festgestellt, dass im Falle einer Rückkehr der BF keiner unmittelbaren staatlichen Bedrohung ausgesetzt ist.
Es wird festgestellt, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erlangt wurde.
Es wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung rechtens ist und eine Abschiebung des BF zulässig ist.“
Zusammengefasst führte das BVwG aus, dass das Fluchtvorbringen nicht schlüssig war, weil der BF keinerlei Kenntnisse des politischen Systems in Bangladesch hatte und auch eine Vor-Ort-Recherche durch den Vertrauensanwalt der Republik keinerlei Hinweise auf eine staatliche oder sonstige Verfolgung des BF erbracht habe. Die Glaubwürdigkeit des BF wurde im Zuge des Verfahrens massiv erschüttert.
I.10. Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit der Entscheidung vom 08.06.2020, XXXX die Behandlung der Beschwerde gegen die Entscheidung des BVwG ab.
I.11. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte die Gewährung der Verfahrenshilfe zur Erhebung einer ao. Revision gegen die Entscheidung des BVwG mit Beschluss vom 28.08.2019, XXXX , wegen Aussichtslosigkeit ab.
I.12. Am 28.10.2019 wurde der BF von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes festgenommen und in Schubhaft genommen.
I.13. Noch am gleichen Tag stellte der BF einen Asylfolgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) und gab in der durchgeführten Erstbefragung an, dass seine politischen Fluchtgründe nach wie vor dieselben seien. Es sei jedoch dazugekommen, dass er seit einem Jahr homosexuell sei. Aus diesem Grund könne er nicht in sein Heimatland zurückkehren. Er könne dort sein Leben nicht leben, würden nicht aus dem Haus gehen können und er würde verhaftet, strafrechtlich verfolgt und umgebracht werden. Auch seine Familie würde verfolgt werden.
Dem BF wurde daraufhin am 30.10.2019 eine Verfahrensanordnung übergeben, mit welcher ihm mitgeteilt wurde, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache zurückzuweisen und den faktischen Abschiebeschutz durch mündlichen Bescheid aufzuheben. Er wurde außerdem unter Auferlegung einer Meldepflicht gemäß § 15a AsylG 2005 aus der Schubhaft „in das gelindere Mittel“ entlassen.
I.14. Am 08.11.2019 wurde der BF zu seinem Folgeantrag asylbehördlich einvernommen. Dabei legte er eine Mitgliedskarte und ein Begleitschreiben der XXXX vor. Zu behaupteten Homosexualität gab er an, er sei am 11.08.2018 in der XXXX gewesen und die Männer hätten zu schmusen begonnen. Ein Mann hätte ihn an der Schulter gestreichelt. Er hätte sich anfänglich nicht wohl dabei gefühlt und der Mann sei weggegangen. Der BF habe weiter Alkohol getrunken und er habe dann einen Mann kennengelernt (von dem er den Vornamen nannte), mit dem er noch in der gleichen Nacht Geschlechtsverkehr gehabt habe. In der Folge habe er entdeckt, dass er homosexuell sei. Er unterhalte jetzt mit einem Freund eine homosexuelle Beziehung.
Er habe seine Homosexualität im Vorverfahren nicht bekannt gegeben, weil er sich geschämt hätte. Es gäbe hier auch viele Bangladeschi, die das nicht gut finden. Ursprünglich habe er auch nicht gewusst, dass dies ein Asylgrund ist. Das habe er erst jetzt erfahren.
Im Zuge dieser Einvernahme wurde vom BFA die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs 2 iVm § 22 BFA-VG ausgesprochen.
I.15. Mit Beschluss vom 20.11.2019, XXXX befand das Bundesverwaltungsgericht die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes gemäß § 12a Abs 2 iVm § 22 BFA-VG für rechtmäßig.
Begründend stellte das BVwG dazu fest, dass das Vorbringen des BF, seit ca. 1 Jahr homosexuell zu sein, nicht den Tatsachen entspricht.
Auch sein früheres Vorbringen, das sich auf politische Sachverhalte bezog, wurde – nach Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung in zweiter Instanz rechtskräftig festgestellt – nicht für glaubhaft befunden. Die aktuelle asyl- und abschiebungsrelevante Lage hat sich in Bangladesch seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung im Juli 2019 nicht geändert. Es sind keinerlei Hinweise hervorgekommen, die eine Gefährdung des BF am Leben oder seiner körperlichen Unversehrtheit im Fall der Rückkehr nach Bangladesch annehmen ließen. Da es sich um einen Folgeantrag handelt, wird der neuerliche Antrag voraussichtlich wegen entschiedener Sache zurückzuweisen sein.
Begründend führte das BVwG aus, dass zuletzt am 05.07.2019 eine mündliche Beschwerdeverhandlung im vorhergehenden Asylverfahren stattgefunden habe, in der der BF nichts von seiner Homosexualität erwähnt hatte. Wenn man dem BF Glauben schenken möchte, hätte seine homosexuelle Neigung zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegen müssen und bezieht sich seine diesbezügliche Erzählung zeitgleich auf das zum vorhergehenden Antrag laufende Beschwerdeverfahren. Insofern sei es nur mehr als befremdlich, dass der BF nicht einmal in der Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 05.07.2019 seine Homosexualität angesprochen habe. Es ergibt sich aus der Verhandlungsschrift nicht, dass ihm dazu keine Gelegenheit geboten worden wäre. Selbst wenn man ihm zugestehen möchte, dass ein derartiges „Outing“ mit einer gewissen inneren Überwindung und Hemmschwellen verbunden ist, muss sich der BF entgegenhalten lassen, dass er inzwischen seit 8 Jahren hier in Österreich lebt, über gewisse gesellschaftliche Umstände und Gepflogenheiten Erfahrungen sammeln konnte und nicht behaupten kann, nicht einmal Teile der Sach- und Rechtslage von LGBTI-Personen hier in Österreich kennen gelernt oder zumindest grobe Informationen darüber erfahren zu haben. Insbesondere in seiner Lage (unterstellt, dass er selbst solche Neigungen hat, wie er behauptet) als Asylwerber, dessen Aufenthaltsstatus stets unsicher war, zumal seine bisherigen Anträge auf internationalen Schutz bzw. auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bisher ab- oder zurückgewiesen wurden, wäre es nur allzu naheliegend, dass er sich zu einem solchen „Outing“ bekennt, um möglichst bald einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erlangen. Dass er hier nicht die nötige Unterstützung und Hilfestellung dafür bekommen würde, kann er nicht mit Fug und Recht behaupten, hat er sich doch zuletzt auch an einen für die Interessen von LGTBI-Personen eintretenden Verein gewandt hat und diese Vereine und Institutionen zum Großteil sehr kompetent die Interessen dieser Personengruppen vertreten. Er hat sich allerdings erst an den Verein gewandt, als er zur Kenntnis nehmen musste, dass seine bisher vorgebrachten, politischen Gründe nicht den Tatsachen entsprechen und seine Abschiebung wegen illegalen Aufenthaltes unmittelbar bevorsteht. Das BVwG konnte somit sein Vorbringen ebenfalls nur als nicht glaubhaft bewerten und stellte sich angesichts des bisher vom BF gezeigten Vorgehens seine Person als nicht glaubwürdig dar.
I.16. Diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erwuchs in Rechtskraft.
II. Gegenständliches Verfahren:
II.1. Mit Schriftsatz vom 01.07.2020 stellte der rechtsanwaltlich vertretene BF einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG iVm Art 8 EMRK.
Nach verkürzter Darstellung der bisherigen Verfahrensgänge behauptete der BF, dass er „in überdurschnittlichem Maße“ in Österreich integriert und seit über 8 Jahren aufhältig sei. Der BF sei strafrechtlich unbescholten. Der BF sei freundlich, hilfsbereit, habe österreichische Freunde und spende an Organisationen. Der BF führe selbständig ein Reinigungsunternehmen und sei in einem Cafe „angestellt“. Er habe einen lukrativen Arbeitsvertrag in Aussicht.
Seine Deutschkenntnisse würden sich auf dem Niveau B1 befinden.
Der BF habe nur mehr geringen Kontakt zu seiner Familie in Bangladesch. Der BF habe „so intensive“ private Bindungen, sodass eine Ausweisung auf Dauer unzulässig sei.
II.2. Im Zuge der Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme ersuchte das BFA am 11.09.2020 um schriftliche Stellungnahme dazu.
II.3. Im Zuge der Stellungnahme führte der BF wiederum seine bisher vorgebrachten Fluchtgründe aus, welche politischer als auch homosexueller Natur seien, wobei er letzteren Punkt nicht ausführte, sondern lediglich auf die seinerzeitige Einvernahme vom Juli 2019 verwies.
Der Antragsteller habe, so der BF, zwar in Österreich keine verwandtschaftlichen Anknüpfungspunkte, jedoch habe er seine Integration in wirtschaftlicher, sprachlicher und sozialer Hinsicht vollzogen, indem er sowohl ein eigenes Reinigungsunternehmen betreibe als auch im Cafe XXXX angestellt sei und die entsprechenden Sprachprüfungen erfolgreich absolvierte.
II.4. Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 07.12.2020 wurde der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art 8 EMRK gemäß § 58 Abs 10 ASylG zurückgewiesen.
Begründend führte das BFA aus, dass der BF keinerlei familiäre Bindungen oder Beziehungen in Österreich habe. Die Familienangehörigen leben in Bangladesch. Es seien drei Asylanträge gestellt worden, zwei davon ab-, einer zurückgewiesen.
Es wurde einmal eine Ausweisung und zweimal eine Rückkehrentscheidung erlassen.
Der BF würde keiner Beschäftigung nachgehen, er sei aber kranken- und sozialversichert.
Eine maßgebliche Sachverhaltsänderung sei seit den letzten Entscheidungen nicht eingetreten.
II.5. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde führte der rechtsanwaltlich vertretene BF aus, dass lediglich ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren stattgefunden habe. Der BF sei unbescholten, habe die B1 Deutschprüfung abgelegt und habe sich nachhaltig in Österreich integriert. Mit ausführlichem Hinweis auf die Länderberichte und der Rechtsprechung hinsichtlich mangelhaften Feststellungen und Beweiswürdigungen versucht der BF unter Zitierung des Erkenntnisses vom 11.07.2019, XXXX , darzustellen, dass der BF sich in Österreich eine Existenzgrundlage geschaffen habe. Es habe keine Erhebungen dahingehend gegeben, ob der BF verfestigte zwischenmenschliche Beziehungen zu Freunden und Kollegen habe. Die Behörde habe auch nicht ermittelt, welchen Gefährdungen der BF im Heimatland ausgesetzt sei.
Hinsichtlich der inhaltlichen Rechtswidrigkeit habe die belangte Behörde nicht ausreichend die Abwägung zwischen persönlichem Interesse des BF und dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung vorgenommen.
Darüber hinaus sei der Hinweis des BFA auf die bestehenden Rückkehrentscheidungen aus dem Bescheid des BFA vom 04.03.2020 verfehlt.
In weiterer Folge beantragte der BF sowohl die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als auch der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
II.6. Am 07.04.2021 legte das BFA die Beschwerde samt Administrativakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
II.7. Am 21.04.2021 erfolgte die Anberaumung einer Verhandlung für den 12.05.2021. Der Rechtsanwalt des BF erstattete mit Schriftsatz vom 10.05.2021 einen Vertagungsantrag und begründete diesen mit der – „gefühlten“ - Erkrankung des mittlerweile wieder selbständig tätigen BF.
Im Bezug habenden Email des BF führte dieser aus:
„ich kann leider nicht zum vereinbarten Termin erscheinen, da leider mein Verwandter an COVI-19 gestorben ist, ebenfalls ist mein älterer Bruder an COVID-19 erkrankt. Seit einiger Zeit fühle ich mich ebenso krank (Fieber, Kopfschmerzen und Halsschmerzen) deswegen möchte ich kein Risiko eingehen und wenn möglich den Termin verschieben. Ich habe mich natürlich auch bei meinem Hausarzt gemeldet aber leider kann er mir kein Krankenstand geben weil ich selbständige Firmen E-Card besitze. Und leider fühle ich mit durch den Tot meiner Verwandten und die Erkrankung meines Bruders mental nicht vorbereitet und deshalb bitte ich sie um Verständnis einer Termin Verschiebung“.
II.8. Die Beschwerdeverhandlung wurde somit um vier Wochen auf den 08.06.2021, 08°Uhr°15, verschoben.
II.9. Am 08.06.2021, 08 Uhr 15 erfolgte die Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit des Rechtsanwaltes des BF sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Bangla.
Der BF erschien trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur Verhandlung.
Der Rechtsanwalt des BF gab dazu an, dass der BF am 04.06.2021 um 01 Uhr 16, ein weiteres Email, welches am 07.06.2021 beim Anwalt registriert wurde, übermittelte. Der Anwalt schickte dieses dem BVwG am Tag der Verhandlung, dem 08.06.2021, weiter.
In diesem Email führte der BF aus:
„Sehr geehrte Damen und Herren, ich wurde am 8. Juni 2021 aufgrund einer Beschwerde den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 7. Dezember 2020, XXXX zu einer Mündlichen Verhandlung eingeladen.
Ich kann leider nicht zum vereinbarten Termin erscheinen. Da ich körperlich, seelisch sehr krank bin, vor allen Psychisch verrüchkt, weil eine gute Freund von mir in Covid-19 seit 4/5 Tagen mit Corona infiziert ist, mit ich früher immer spazieren gegangen bin, wegen seiner Corona bin ich aus Angst in meine häusliche Quarantäne gegangen, und eine von Meine Familie ist an Corona gestorben. Und Zwei haben sich infiziert, also bin ich Psychisch krank. Daher kann ich leider nicht zum vereinbarten Termin erscheinen am 8,Juni.ich werde mein Bestes geben, um Termin besuchen kann. Bitte lassen Sie den Richter mich mit einem verzeihenden Auge betrachten, und meine ernsthafte, Bitte an Richter, er soll meiner nachkommen.“
Eine ärztliche Bestätigung wurde vom BF nicht vorgelegt, auch nicht gegenüber dem dazu befragten Rechtsanwalt des BF.
Dieser verwies, unter Vorlage von Unterlagen aus dem Jahr 2017 hinsichtlich GISA, in einer kurzen Stellungnahme inhaltlich nochmals auf die seinerzeitige Beschwerde, sowie insbesondere die Entscheidung des BVwG vom 11.07.2019. Das BFA habe keine umfassenden Feststellungen zur Integration dargelegt, die Erhebungen seien nicht ausreichend erfolgt. Unter Verweis auf § 9 Abs 5 BFA-VG betonte der Rechtsanwalt des BF die lange Aufenthaltsdauer des BF im Bundesgebiet.
Ein weiteres Vorbringen wurde nicht erstattet.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Über den Antrag des BF auf internationalen Schutz wurde 2013 und 2019 rechtskräftig negativ entschieden. Die rechtskräftige Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes erfolgte 2019. Auf die im Sachverhalt zitierten Feststellungen in den Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom 24.05.2013, des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.07.2019 und 20.11.2019 wird ebenso wie auf die Entscheidungen des VfGH vom 08.06.2020, XXXX sowie des VwGH vom 28.08.2019, XXXX , verwiesen.
Der BF verblieb trotz bestehender Rückkehrentscheidungen jahrelang unrechtmäßig im Bundesgebiet.
Der nunmehrige Antrag zur Erlangung eines Aufenthaltstitels wurde vom BF im Juli 2020 gestellt. Der BF begründet diesen im Wesentlichen mit seiner „in überdurchschnittlichem Maße“ erfolgten Integration, seinen Sprachkenntnissen, seiner selbständigen Tätigkeit, seinen Freundeskreis sowie seiner Entfremdung vom Herkunftsland.
Festgestellt wird, dass der BF sich für die ursprünglich anberaumte Verhandlung vor dem BVwG am 12.05.2021 kurzfristig – ohne ärztliche Bestätigung – aus angeblichen gesundheitlichen Gründen entschuldigte und der auf den 08.06.2021 anberaumten Verhandlung – ohne ärztliche Bestätigung – aus angeblichen gesundheitlichen Gründen fernblieb.
Der BF ist im Verfahren seiner Mitwirkungsverpflichtung nicht ausreichend nachgekommen.
Der BF ist der Verhandlung vor dem BVwG ohne ausreichende Entschuldigung ferngeblieben.
Festgestellt wird, dass der BF Familienangehörige in Bangladesch hat, zu denen er Kontakt hält. Festgestellt wird, dass eine Entfremdung des BF zum Heimatland nicht erkennbar ist und seine Familie sowie die Großfamilie in Bangladesch leben.
Der BF lebt von selbständiger Tätigkeit. Der BF hat – gesehen auf die Dauer seines Aufenthaltes - keine außergewöhnliche Integration dargelegt. Insbesondere hat der BF seit den letzten rechtskräftigen Erkenntnissen des BVwG keine „außergewöhnlichen“ Schritte zur Integration dargetan hat, insbesondere keine Tätigkeiten, welche die Integration in die österreichische Gesellschaft im besonderen Maße belegen würde.
Der BF ist unbescholten. Jedoch ist der BF seiner Verpflichtung zur Ausreise über Jahre hinweg nicht nachgekommen und hat somit keinerlei Respekt gegenüber der österreichischen Rechtsordnung sowie den Entscheidungen des VfGH und VwGH erkennen lassen.
Der BF fühlt sich im Falle seiner Rückkehr einer Gefahr ausgesetzt. Festgestellt wird, dass eine Verfolgung des BF im früheren Verfahren rechtskräftig ausgeschlossen wurde, die Befürchtung des BF hinsichtlich einer Verfolgung im Falle der Rückkehr in sein Heimatland somit nicht gegeben sind.
II.1.3. Zur maßgeblichen Lage in Bangladesch:
COVID-19:
Letzte Änderung: 11.11.2020
Die COVID-Krise trifft Bangladesch sehr hart, nachdem am 8.3.2020 die ersten Fälle nachgewiesen wurden. Die Regierung verhängte ab dem 22.3.2020 einen umfassenden Lockdown, der jedoch de facto immer brüchig war und einmal mehr und einmal weniger eingehalten wurde. Am 30.5.2020 wurde der Lockdown wieder aufgehoben, da eine weiter Fortsetzung wirtschaftlich nicht mehr vertretbar war (ÖB 9.2020). Die bangladeschische Regierung hat im April 2020 Hilfspakete mit einem Volumen in Höhe von 12 Milliarden USD beschlossen. Die Konjunkturmaßnahmen zielen unter anderem auf eine Stützung von für die Wirtschaft bedeutende Industriezweige wie die Textil- und Bekleidungsherstellung sowie den Agrar- und Nahrungsmittelsektor ab (GTAI 21.9.2020a). Im Zuge der COVID-Krise 2020 verloren nach Schätzungen der Bangladesh Economic Association etwa 36 Mio. Menschen während des Lockdowns ihre Arbeit, 25 Mio. rutschen zurück in die absolute Armut (ÖB 9.2020).
Das ohnehin schwache Gesundheitssystem Bangladeschs ist mit der Pandemie völlig überlastet (ÖB 9.2020). Durch die Coronakrise gerät das seit Jahrzehnten unterfinanzierte staatliche Gesundheitswesen in Bangladesch enorm unter Druck und die Versorgung von Covid-19-Patienten stößt an ihre Grenzen (GTAI 21.9.2020b). So sind landesweit nur etwas mehr als knapp 1.000 Intensivbetten verfügbar (GTAI 21.9.2020; vgl. WKO 4.2020). Davon sind 400 für die Behandlung von Patienten mit schweren Atemwegserkrankungen ausgerüstet. Während es in der Hauptstadt Dhaka 400 Intensivbetten gibt, stehen in 47 der insgesamt 64 Verwaltungsbezirke überhaupt keine zur Verfügung (GTAI 21.9.2020).
Eine weitere Problemstellung für das Land stellen die zahlreichen Rückkehrer aus den Ländern des Nahen Ostens dar. Auf Grund der beengten Arbeits- und Lebensverhältnissen in den Gastländern sind diese Arbeiter besonders von Ansteckungen mit dem Virus betroffen. Darum, aber auch wegen des mit COVID verbundenen weltweiten Wirtschaftsabschwungs, schicken vor allem die Staaten des Nahen Osten tausende Arbeiter wieder zurück nach Bangladesch. Viele bringen so das Virus auf ihrem Heimweg mit ins Land. Da viele Migranten aus Bangladesch im Nahen Osten im Zuge der COVID-Krise ihre Arbeit verloren haben und ausgewiesen wurden, ist in den kommenden Jahren mit einem vermehrten Aufkommen von AsylwerberInnen aus Bangladesch in (West-)Europa zu rechnen (ÖB 9.2020).
Quellen:
? GTAI - Germany Trade and Invest (21.9.2020a): Covid-19: Maßnahmen der Regierung, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/specials/special/bangladesch/covid-19-massnahmen-der-regierung-260866, Zugriff 5.11.2020
? GTAI - Germany Trade and Invest (21.9.2020b): Covid-19: Gesundheitswesen in Bangladesch: https://www.gtai.de/gtai-de/trade/specials/special/bangladesch/bangladeschs-wirtschaft-behauptet-sich-trotz-coronakrise-260868, Zugriff 5.11.2020
? ÖB – Österreichische Botschaft Neu Delhi (9.2020): Asylländerbericht Bangladesch
? WKO – Wirtschaftskammer Österreich (25.4.2020): Coronavirus: Situation in Bangladesch, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-info-bangladesch.html, Zugriff 8.5.2020
Politische Lage:
Letzte Änderung: 16.11.2020
Bangladesch ist seit 1991 eine parlamentarische Demokratie (GIZ 11.2019a). Die Hauptstadt ist Dhaka (ca. 20 Millionen Einwohner). Auf einer Fläche von ca. 148.000 km² leben etwa 163 Millionen Einwohner (CIA 4.11.2020; vgl. GIZ 5.2020, AA 6.11.2020).
Der Verwaltungsaufbau von Bangladesch ist zentralistisch: Das Land ist in acht Regionen (Divisions), 64 Bezirke (Districts), 492 Polizeidistrikte (Thana/Upazila), mehr als 4.500 Gemeindeverbände (Unions) und circa 87.000 Dorfgemeinden gegliedert (ÖB 9.2020). Im Gebiet der Chittagong Hill Tracts gilt eine besondere Verwaltung, die der lokalen (indigenen), nicht-bengalischen Bevölkerung verstärkte Mitwirkungsmöglichkeiten einräumen soll (ÖB 9.2020). Das Staatsoberhaupt ist der Präsident, der vom Parlament alle fünf Jahre gewählt wird. Eine einmalige Wiederwahl ist möglich. Er übt größtenteils zeremonielle Funktionen aus, während die Macht in den Händen des Premierministers als Regierungschef liegt. Dieser wird von der stärksten im Parlament vertretenen Partei nominiert und vom Präsidenten formell ernannt. Zusätzlich obliegt dem Premierminister die Kontrolle der Geheimdienste, der Streitkräfte und der paramilitärischen Einheiten (GIZ 11.2019a).
Das Parlament (National Parliament oder Jatiya Sangsad) besteht aus einer Kammer mit 300 direkt gewählten Abgeordneten (ÖB 9.2020) sowie zusätzlichen 50 Sitzen, die nur für Frauen reserviert sind (USDOS 11.3.2020; vgl. GIZ 11.2019a). Das Mehrheitswahlrecht führt zu stabilen Mehrheiten im Parlament und hat die Herausbildung der Bangladesh Nationalist Party (BNP) und der Awami League (AL) als dominierende und konkurrierende Parteien begünstigt. Die erste Verfassung trat 1972 in Kraft und setzte neben der demokratischen Staatsform auch Säkularismus, Sozialismus und Nationalismus als Ziele fest. Nach zahlreichen Verfassungsänderungen wurde 1988 der Islam als Staatsreligion eingeführt bei gleichzeitiger verfassungsrechtlicher Verankerung des Rechts auf friedliche Ausübung anderer Religionen (ÖB 9.2020).
Das politische Leben wird durch die beiden dominierenden und konkurrierenden größten Parteien AL und BNP bestimmt (ÖB 9.2020; vgl. AA 21.6.2020, BS 29.4.2020). Klientelismus und Korruption sowie mafiöse Strukturen sind weit verbreitet. Gewerkschaften, Studentenorganisationen, Polizei und Verwaltung sind parteipolitisch durchdrungen (AA 21.6.2020; vgl. DGVN 2016). Beide Parteien haben keine demokratische interne Struktur und werden von Familien geführt, die Bangladesch seit der Unabhängigkeit geprägt haben (FH 2020). Wie in der Region üblich, geht es bei politischen Parteien weniger um Ideologie, als um einzelne Persönlichkeiten und deren Netzwerke, die im Falle eines Wahlsieges auch finanziell profitieren, in dem sie mit wichtigen Staatsposten versorgt werden (ÖB 9.2020).
Bei den elften bangladeschischen Parlamentswahlen vom 30.12.2018 erzielte die „Große Allianz“ um die regierende AL einen überragenden Sieg (ÖB 9.2020) mit 96 Prozent der Stimmen und 289 der 300 zur Wahl stehenden Parlamentssitze (Guardian 30.12.2018; vgl. DT 27.1.2019, DW 14.2.2019).
Die Wahlen vom 30. Dezember 2018 waren durch Übergriffe auf Oppositionelle, willkürliche Verhaftungen und Einschüchterungen der Stimmberechtigten gekennzeichnet (HRW 14.1.2020). Bereits im Vorfeld der Wahl kam es zu Gewalt zwischen rivalisierenden Anhängern und einem harten Vorgehen der Regierung (BBC 31.12.2018; vgl. Hindu 1.1.2019). Am Wahltag waren rund 600.000 Sicherheitskräfte, darunter Armee und paramilitärische Truppen, im Einsatz, um die Gewalt einzudämmen (Guardian 31.12.2018). Frühzeitig wurde die Wahl durch die Wahlkommission als frei und fair bezeichnet. Unregelmäßigkeiten wurden nicht untersucht. Stattdessen wurden Journalisten wegen ihrer Berichterstattung verhaftet (HRW 14.1.2020). Es wurden rund 20 Menschen bei Zusammenstößen zwischen Anhängern der regierenden Partei und der Opposition getötet und Tausende verletzt (ÖB 9.2020; vgl. Reuters 1.1.2019). Die Opposition verurteilte die Wahl als „Farce“ und fordert die Annullierung des Ergebnisses und Neuwahlen (ÖB 9.2020).
Infolge der Dominanz der AL und der fehlenden innerparteilichen Demokratie hat de facto die exekutive Spitze das ausschließliche Sagen bei Gesetzesentwürfen. Wie schon die Vorgängerregierungen baut auch die gegenwärtige AL-Regierung ihre Netzwerke in Verwaltung, Rechtswesen und Militär aus. Verschärfend kommt hinzu, dass die BNP als vormals größte Oppositionspartei das Wahlergebnis angefochten hatte und nun nicht mehr im Parlament vertreten ist. Die oppositionelle BNP hat aufgrund ihrer starken gesellschaftlichen Verankerung das Potenzial, durch Generalstreiks großen außerparlamentarischen Druck zu erzeugen (GIZ 11.2019a).
Da die Politik in Bangladesch generell extrem korrupt ist, sind die Grenzen zwischen begründeter Strafverfolgung und politisch motivierter Verfolgung fließend. Sicherheitskräfte sind in jüngster Vergangenheit sowohl bei Demonstrationen von Anhängern der beiden Großparteien, als auch bei islamistischen oder gewerkschaftlichen Protesten mit Brutalität vorgegangen. Im Zuge des Wahlkampfes Ende 2018 wurden gegen Anhänger und KandidatInnen der oppositionellen BNP durch die Sicherheitsbehörden falsche Anzeigen verfasst (ÖB 9.2020).
Im Vorfeld der elften Parlamentswahl in Bangladesch wurden nach Angaben der Opposition seit Anfang November 2018 bis zu 21.000 ihrer Mitglieder und Aktivisten verhaftet. Mehrere Menschenrechtsgruppen haben seit Anfang 2018 einen dramatischen Anstieg von fingierten Klagen gegen Gegner der Regierungspartei festgestellt. Unter den Verhafteten befinden sich prominente Führer des Oppositionsbündnisses, wie Mainul Hosain wegen krimineller Diffamierung und Dr. Zaffrullah Chowdhury wegen Verrats, Erpressung und Fischdiebstahls (FIDH 9.1.2019). Die BNP-Vorsitzende, Khaleda Zia, war von März 2018 bis März 2020 aufgrund von Korruptionsvorwürfen im Gefängnis (AA 21.6.2020; vgl. NAU 25.3.2020). Seit Zia auf freiem Fuß ist, sind praktisch keine Aktivitäten der BNP mehr wahrnehmbar (ÖB 9.2020).
Nachdem die oppositionelle BNP nunmehr nicht existent ist und im politischen Prozess kaum bis gar keine Rolle mehr spielt, ist eine Verfolgung, bzw. Unterdrückung ihrer AnhängerInnen aus Sicht der Regierung offenbar nicht mehr nötig. Anzumerken ist, dass seit März 2020 das politische Geschehen vollständig von der COVID-Krise überlagert wird. Von einer staatlichen Überwachung der politischen Opposition ist auszugehen (ÖB 9.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (6.11.2020): Bangladesch – Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/bangladesch-node/-/206322, Zugriff 10.11.2020
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (21.6.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik Bangladesch (Stand: Mai 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033573/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Volksrepublik_Bangladesch_%28Stand_Mai_2020%29%2C_21.06.2020.pdf, Zugriff 9.11.2020
? BBC – British Broadcasting Corporation (31.12.2018): Bangladesh election: PM Sheikh Hasina wins landslide in disputed vote, https://www.bbc.com/news/world-asia-46718393, Zugriff 11.11.2020
? BS - Bertelsmann Stiftung (29.4.2020): BTI 2020 Country Report Bangladesh, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029402/country_report_2020_BGD.pdf, Zugriff 10.11.2020
? CIA – Central Intelligence Agency (4.11.2020): The World Factbook – Bangladesh, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/bg.html, Zugriff 10.11.2020
? DT – Dhaka Tribune (27.1.2019): Ruling party's Dr Younus Ali Sarker wins Gaibandha 3 by-polls, https://www.dhakatribune.com/bangladesh/election/2019/01/27/voting-in-gaibandha-3-by-polls-underway, Zugriff 10.11.2020
? DW – Deutsche Welle (14.2.2019): Bangladesh PM Sheikh Hasina hints at last term as prime minister, https://www.dw.com/en/bangladesh-pm-sheikh-hasina-hints-at-last-term-as-prime-minister/a-47513555, Zugriff 10.11.2020
? DGVN – Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (2016): EWP – Eine Welt Presse . Menschenwürdige Arbeitsbedingungen, https://nachhaltig-entwickeln.dgvn.de/fileadmin/publications/PDFs/Eine_Welt_Presse/20170119_EWP_Arbeitsbedingungen_Nachdruck-web.pdf, Zugriff 9.11.2020
? FH – Freedom House (2020): Freedom in the World 2020 – Bangladesh, https://freedomhouse.org/country/bangladesh/freedom-world/2020, Zugriff 1.11.2020
? FIDH - International Federation for Human Rights (Hg.) (9.1.2019): Joint statement [by AHRC - Asian Human Rights Commission; ANFREL - Asian Network for Free Elections; GNDEM - Global Network of Domestic Election Monitors; FIDH - International Federation for Human Rights; CMEV - Centre for Monitoring Election Violence, Sri Lanka] on the undemocratic electoral environment in Bangladesh, https://www.fidh.org/en/region/asia/bangladesh/joint-statement-on-the-undemocratic-electoral-environment-in, Zugriff 10.11.2020
? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (11.2019a): Bangladesch – Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/bangladesch/geschichte-staat/, Zugriff 10.11.2020
? GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (5.2020): Bangladesch – Überblick, https://www.liportal.de/bangladesch/ueberblick/, Zugriff 10.11.2020
? Guardian, The (31.12.2018): Bangladesh PM Hasina wins thumping victory in elections opposition reject as 'farcical', https://www.theguardian.com/world/2018/dec/30/bangladesh-election-polls-open-after-campaign-marred-by-violence, Zugriff 10.11.2020
? Hindu, The (1.1.2019): Hasina’s triumph: on Bangladesh election results, https://www.thehindu.com/opinion/editorial/hasinas-triumph/article25874907.ece, Zugriff 10.11.2020
? HRW – Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Bangladesh, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022700.html, Zugriff 11.11.2020
? NAU – Schweizer Nachrichtenportal (25.3.2020): Bangladeschs Oppositionsführerin Zia aus Haft entlassen, https://www.nau.ch/politik/international/bangladeschs-oppositionsfuhrerin-zia-aus-haft-entlassen-65684195, Zugriff 10.11.2020
? ÖB – Österreichische Botschaft Neu Delhi (9.2020): Asylländerbericht Bangladesch, per E-Mail
? Reuters (1.1.2019): Western powers call for probe into Bangladesh election irregularities, violence, https://www.reuters.com/article/us-bangladesh-election/western-powers-call-for-probe-into-bangladesh-election-irregularities-violence-idUSKCN1OV1PK, Zugriff 10.11.2020
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Bangladesh, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026382.html, Zugriff 10.11.2020
Sicherheitslage:
Letzte Änderung: 16.11.2020
Der Hass zwischen den politischen Parteien, insbesondere der Awami League (AL) und der Bangladesh Nationalist Party (BNP), ist für den größten Teil an Gewalt im Land verantwortlich (ACLED 9.11.2018). Die regierende AL hat ihre politische Macht durch anhaltende Schikanen gegenüber der Opposition und den als mit ihr verbündet wahrgenommenen Personen sowie gegenüber kritischen Medien und Stimmen in der Zivilgesellschaft gefestigt (FH 2020). Beide Parteien sind – gemeinsam mit unidentifizierten bewaffneten Gruppen – in Vandalismus und gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt und greifen auch friedliche Zivilisten an (ACLED 9.11.2018).
Von nichtstaatlichen Akteuren (insbesondere der Opposition, Islamisten, Studenten) geht in vielen Fällen nach wie vor Gewalt aus. Die öffentliche Sicherheit ist fragil. Das staatliche Gewaltmonopol wird durchbrochen. Es kommt häufig zu Morden und gewalttätigen Auseinandersetzungen aufgrund politischer (auch innerparteilicher) oder krimineller Rivalitäten. Eine Aufklärung erfolgt selten. Die großen Parteien verfügen über eigene „Studentenorganisationen“. Mit dem stillschweigenden Einverständnis der Mutterparteien fungieren diese bewaffneten Organisationen als deren Schild und Schwert. Ihr Mitwirken im politischen Prozess ist eine der wichtigsten Ursachen für die politische Gewalt in Bangladesch (AA 21.6.2020).
Spontane Streiks und Kundgebungen können jederzeit stattfinden (BMEIA 6.8.2020; vgl. AA 28.7.2020), dabei können Kämpfe zwischen Sicherheitsbehörden und Demonstranten, Brandstiftung, Gewalt und Vandalismus unvorhergesehen auftreten (UKFCO 12.11.2020a).
Gewalt gegen Zivilisten oder staatliche Kräfte durch Rebellen macht einen relativ kleinen Anteil an allen Gewaltereignissen aus. Es gibt radikale islamistische Gruppen wie die Mujahideen Bangladesh (JMB) und Ansarullah Bangla Team (ABT). Sowohl der Islamische Staat (IS) und Al Qaeda in the Indian Subcontinent (AQIS) geben an, in Bangladesch aktiv zu sein, was von der Regierung jedoch dementiert wird (ACLED 9.11.2018). Spontane Streiks und Kundgebungen können jederzeit stattfinden (BMEIA 6.8.2020). 2019 gab es mehrere Angriffe gegen Polizei und Sicherheitskräfte in Dhaka und in der Stadt Khulna (UKFCO 12.11.2020b). In vielen Fällen ist nicht eindeutig differenzierbar, ob religiöse Motive oder säkulare Interessen, wie z.B. Racheakte oder Landraub, Grund für solche Vorfälle sind (AA 21.6.2020).
In der Division Chittagong, insbesondere im Gebiet der Chittagong Hill Tracts (Bezirke Rangamati, Khagrachari und Bandarban) kommt es zu bewaffneten Unruhen und kriminellen Übergriffen (AA 28.7.2020; vgl. UKFCO 29.3.2020a, AI 30.1.2020). Der inter-ethnische Konflikt in Myanmar wirkt sich auf Bangladesch aus. Er hat politische und soziale Spannungen insbesondere aufgrund der Ankunft von rund einer Million Rohingya-Flüchtlingen seit August 2017 verstärkt. Im südöstlichen Verwaltungsbezirk Cox’s Bazar der Gebietsverwaltung Chittagong hat es zuletzt unter anderem in der Nähe von Flüchtlingslagern vereinzelt gewalttätige Zwischenfälle gegeben (HRW 18.9.2019; vgl. AnAg 5.11.2019, TDS 24.8.2019). Die Schutzfähigkeit staatlicher Behörden ist grundsätzlich gering. Die Behörden sind in der Regel keine neutralen Akteure, sondern unterstützen die politischen Ziele der jeweiligen Machthaber (ÖB 9.2020).
An der Grenze zu Indien kommt es gelegentlich zu Schusswechseln zwischen indischen und bangladeschischen Grenzsicherungsorganen. Regelmäßig werden Menschen getötet, die versuchen, illegal die Grenze zu überqueren (UKFCO 12.11.2020a). Auch wenn sich die dortige Lage zeitweise etwas entspannt, bleibt sie grundsätzlich labil (EDA 14.8.2020).
Das South Asia Terrorism Portal (SATP) verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2018 insgesamt 135 Vorfälle terrorismusrelevanter Gewalt im Land. Im Jahr 2019 wurden 104 solcher Vorfälle, bis zum 8.11.2020 wurden im Jahr 2020 insgesamt 82 Vorfälle terroristischer Gewaltanwendungen registriert (SATP 8.11.2020).
Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) verzeichnet im Berichtzeitraum 2019 insgesamt 1.713 Konfliktvorfälle (angeführt werden beispielsweise Demonstrationen, Ausschreitungen, Kampfhandlungen, Gewalthandlungen gegen Zivilpersonen u.a.) bei denen 337 Personen getötet wurden (ACCORD 29.6.2020). 2020 wurden bis Ende Oktober in insgesamt 1.189 Konfliktvorfällen 244 Personen getötet (ACLED 4.11.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (28.7.2020): Bangladesch: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/bangladesch-node/bangladeschsicherheit/206292, Zugriff 9.11.2020
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (21.6.2020): Auswärtiges Amt_Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik Bangladesch (Stand: Mai 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033573/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Volksrepublik_Bangladesch_%28Stand_Mai_2020%29%2C_21.06.2020.pdf, Zugriff 9.11.2020
? ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation (29.6.2020): Bangladesh, year 2019: Update on incidents according to the Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2032553/2019yBangladesh_en.pdf, Zugriff 5.11.2020
? ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (4.11.2020): South Asia Regional Overview: Bangladesh, https://acleddata.com/2020/11/04/regional-overview-south-asia25-31-october-2020/, Zugriff 5.11.2020
? ACLED – Armed Conflict Location & Event Data Project (9.11.2018): The Anatomy of Violence in Bangladesh, https://www.acleddata.com/2018/11/09/the-anatomy-of-violence-in-bangladesh/, Zugriff 5.11.2020
? AnAg – Anadolu Agency (5.11.2019): Bangladesh rejects Amnesty report on Rohingya killings, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/bangladesh-rejects-amnesty-report-on-rohingya-killings/1636457, Zugriff 13.11.2020
? AI – Amnesty International (30.1.2020): Human Rights in Asia-Pacific; Review of 2019 - Bangladesh, https://www.ecoi.net/de/dokument/2023864.html, Zugriff 13.11.2020
? BMEIA – Bundesministerium Europa, Integration und Äußeres (6.8.2020): Bangladesch – Reiseinformation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/bangladesch/, Zugriff 16.11.2020
? EDA - Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (14.8.2020): Bangladesch, Spezifische regionale Risiken, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/bangladesch/reisehinweise-fuerbangladesch.html#par_textimage, Zugriff 10.11.2020
? FH – Freedom House (2020): Freedom in the World 2020 – Bangladesh, https://freedomhouse.org/country/bangladesh/freedom-world/2020, Zugriff 16.11.2020
? HRW – Human Rights Watch (18.9.2019): Spate of Bangladesh ‘Crossfire’ Killings of Rohingya, https://www.hrw.org/news/2019/09/18/spate-bangladesh-crossfire-killings-rohingya, Zugriff 16.11.2020
? ÖB – Österreichische Botschaft Neu Delhi (9.2020): Asylländerbericht Bangladesch
? SATP – South Asia Terrorism Portal (8.11.2020): Data Sheet – Bangladesh, Yearly Sucide Attacks, Advance Search 2000 - 2020, https://www.satp.org/datasheet-terrorist-attack/incidents-data/bangladesh, Zugriff 10.11.2020
? TDS – The Daily Star (24.8.2019): Jubo League leader killed by ‘Rohingyas’, https://www.thedailystar.net/frontpage/news/jubo-league-leader-killed-rohingyas-1789726, Zugriff 16.11.2020
? UKFCO – UK Foreign and Commonwealth Office (12.11.2020a): Foreign travel advice Bangladesh - Safety and security, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/bangladesh/safety-and-security, Zugriff 16.11.2020
? UKFCO – UK Foreign and Commonwealth Office (12.11.2020b): Foreign travel advice Bangladesh – Terrorism, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/bangladesh/terrorism, Zugriff 16.11.2020
Rechtsschutz / Justizwesen:
Letzte Änderung: 11.11.2020
Die Justiz ist überlastet. Überlange Verfahrensdauern, Korruption und politische Einflussnahme behindern die Unabhängigkeit. Presseberichten zufolge kommt es in ländlichen Gebieten zu Verurteilungen durch unbefugte Dorfälteste oder Geistliche nach traditionellem, islamischem „Scharia Recht“. Die islamische Scharia ist zwar nicht formell als Gesetz eingeführt, spielt aber insbesondere in den Bereichen des Zivilrechts (Erbschaft, Grunderwerb, Heirat und Scheidung etc.) eine große Rolle (ÖB 8.2019). Nicht immer greifen die Behörden ein (AA 21.6.2020).
Das Gerichtssystem besteht aus zwei Instanzen, den untergeordneten Gerichten (Magistrates, Session- und District Judges) und dem Obersten Gerichtshof (Supreme Court). Beide verhandeln Zivil- und Strafrechtssachen. Das Rechtssystem beruht weitgehend auf dem englischen Common Law. Die erstinstanzlichen Gerichte bestehen aus „Magistrates“, die der Exekutive zuzurechnen sind, sowie Session und District Judges, die der Judikative angehören. Der Oberste Gerichtshof besteht aus zwei Abteilungen, dem High Court, der Verfassungsfragen verhandelt und als Berufungsinstanz zu den erstinstanzlichen Gerichten fungiert, sowie dem Appellate Court, dessen
Entscheidungen alle übrigen Gerichte, einschließlich des High Court, binden. Die Richter beider Abteilungen werden gemäß der Verfassung vom Präsidenten ernannt (ÖB 9.2020).
Die Unabhängigkeit der Richter wird von der Verfassung garantiert. In der Praxis unterstellt allerdings eine schon lange geltende temporäre Bestimmung der Verfassung die erstinstanzlichen Richter der Exekutive. Auch ihre Ernennung und Remuneration ist Sache der Exekutive. Demgegenüber haben die Richter des Obersten Gerichtshofs des Öfteren ihre Unabhängigkeit demonstriert und gegen die Regierung entschieden (ÖB 9.2020). Die Einflussnahme der Regierungspartei auf Parlament und Justiz haben deren Unabhängigkeit inzwischen weitgehend beseitigt (AA 21.6.2020).
Auf Grundlage des „Public Safety Act“, des „Law and Order Disruption Crimes Speedy Trial Act”, „Women and Children Repression Prevention Act” sowie des „Special Powers Act“ wurden Sondertribunale errichtet, die Fälle innerhalb eines festgesetzten Zeitrahmens erledigen müssen – es fehlen allerdings Vorschriften für den Fall, dass sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen. Speedy Trial Tribunals haben Medienberichten zufolge in den vergangenen Jahren mehrere Hundert Personen zu Tode verurteilt (ÖB 9.2020).
Wie die meisten Beobachter von Bangladesch übereinstimmend angeben, stellen Korruption, Ineffizienz der Justiz, gezielte Gewalt gegen Richter und ein gewaltiger Rückstau an offenen Fällen große Probleme dar (ÖB 8.2019; vgl. FH 2020). Strafanzeigen gegen Mitglieder der regierenden Partei werden regelmäßig zurückgezogen (FH 2020). Die schiere Zahl der gegen die politische Opposition eingeleiteten Klagen im Vorfeld zur 11. Parlamentswahl vom Dezember 2018, deutet auf ein ungehindertes Spielfeld und die Kontrolle der Regierungspartei über die Justiz- und Sicherheitsinstitutionen hin (FIDH 29.12.2018).
Zwei Drittel aller Streitfälle erreichen nicht das formelle Justizsystem, sondern werden von informellen Dorfgerichten oder bedeutenden Persönlichkeiten der lokalen Gemeinschaften entschieden. Diese behandeln meist Fälle betreffend Familienrecht, Unterhalt, Zweitehen, Mitgiftstreitigkeiten und Landeigentum. Obwohl diese „Gerichte“ eine durch Tradition legitimierte, schnellere und günstigere Alternative zu ordentlichen Gerichten darstellen, sind sie hinsichtlich der Einflussnahmemöglichkeiten durch lokal bedeutsame Persönlichkeiten sowie der gesellschaftlichen Stellung von Frauen nicht unproblematisch (ÖB 9.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (21.6.2020): Auswärtiges Amt_Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Volksrepublik Bangladesch (Stand: Mai 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2033573/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Volksrepublik_Bangladesch_%28Stand_Mai_2020%29%2C_21.06.2020.pdf, Zugriff 5.8.2020
? FH – Freedom House (2020): Freedom in the World 2020 – Bangladesh, https://freedomhouse.org/country/bangladesh/freedom-world/2020, Zugriff 1.4.2020
? FIDH - International Federation for Human Rights (Hg.) (29.12.2018): Joint statement on the undemocratic electoral environment in Bangladesh, https://www.fidh.org/en/region/asia/bangladesh/joint-statement-on-the-undemocratic-electoral-environment-in, Zugriff 3.4.2020
? ÖB – Österreichische Botschaft Neu Delhi (9.2020): Asylländerbericht Bangladesch
Sicherheitsbehörden:
Letzte Änderung: 16.11.2020
Die Polizei ist beim Ministerium für Inneres angesiedelt und hat das Mandat, die innere Sicherheit sowie Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Armee, die dem Büro des Ministerpräsidenten untersteht, ist für die äußere Sicherheit zuständig, kann aber auch für innerstaatliche Sicherheitsaufgaben herangezogen werden. Zivile Stellen hatten weiterhin effektive Kontrolle über die Streitkräfte und andere Sicherheitsbehörden. Die Regierung verfügt über Mechanismen, Missbrauch und Korruption zu untersuchen und zu bestrafen; sie werden aber nicht immer angewandt (USDOS 11.3.2020).
Das Wirken der Polizei ist gekennzeichnet durch einen Mangel an Ressourcen inklusive mangelhafter Infrastruktur, Mangel an Personal, Ausbildung und Arbeitsmaterialien, Ineffizienz und Korruption (AA 21.6.2020). Die Regierung unternahm Schritte, um in der Polizei Professionalität, Disziplin, Ausbildung und Reaktionsfähigkeit zu verbessern und die Korruption zu verringern (USDOS 11.3.2020; vgl. ÖB 9.2020). Trotz dieser Bemühungen kommt es weiterhin zu Machtmissbrauch und unangebrachter Gewaltanwendung von Sicherheitskräften, insbesondere durch die Rapid Action Batallions (RAPs), die in weiterer Folge ungestraft bleiben (ÖB 9.2020).
Es gibt Hinweise auf willkürliche Festnahmen durch die Polizeikräfte, obwohl dies gesetzlich verboten ist, sowie auf willkürliche Nutzung der gesetzlich erlaubten präventiven Festnahmen. Die Festnahme ohne Angabe von Gründen ist für bis zu 30 Tagen zur Verhinderung von Taten, die die nationale Sicherheit, Verteidigung, Souveränität, öffentliche Ordnung oder auch wirtschaftliche Interessen des Landes gefährden, erlaubt. Die Arretierten haben kein Recht auf einen Verteidiger. Die hauptsächlich Betroffenen sind Aktivisten der politischen Parteien und NGO-Vertreter, die Kritik an der Regierung üben. Nach wie vor problematisch ist auch die in vielen Fällen unverhältnismäßig lange Untersuchungshaft. Als Gründe hierfür werden bürokratische Ineffizienz, limitierte Ressourcen und Korruption genannt. Gegenwärtig geht man von über 2 Millionen ausständigen Zivil- und Strafverfahren aus (ÖB 9.2020).
Die Sicherheitskräfte lassen Personen weiterhin routinemäßig „verschwinden“ (AI 30.1.2020; siehe auch Abschnitt 5). Betroffene sehen aus Angst vor Vergeltung in der Regel davon ab, Mitglieder der Sicherheitsbehörden wegen Menschenrechtsvergehen anzuzeigen, sodass diese straflos bleiben. Auch im Falle einer Beschwerde herrscht weitestgehend Straffreiheit. Wenn allerdings die Medien Polizeiversagen öffentlich anprangern, werden durch die politische Ebene die zuständigen Polizisten oft bestraft (AA 21.6.2020).
Die Sicherheitsbehörden bestehen zum Hauptteil aus der dem Innenministerium unterstellten „Bangladesch Police“, die ca. 116.000 Mann zählt. Zur Unterstützung der Polizei stehen weitere Einheiten zur Verfügung (ÖB 9.2020).
Rapid Action Batallions (RABs): Es gibt etwa 15 RABs mit insgesamt ca. 9.000 Mann, die ebenfalls dem Innenministerium unterstellt sind. Ihre Aufgabe ist der Kampf gegen bewaffnete kriminelle Organisationen. Die RABs sind hauptsächlich in urbanen Zentren stationiert, rekrutieren sich hauptsächlich aus Polizei und Armee, sind gut ausgebildet und mit moderner Ausrüstung versehen (ÖB 9.2020). Ihnen werden schwere Menschenrechtsverstöße wie z.B. extralegale Tötungen zugeschrieben (AA 21.6.2020). Die RABs verfolgen eine aggressive Strategie gegen bewaffnete „Gang“-Mitglieder, was zu zahlreichen Toten durch Schießereien führt. Sie werden auch bei Demonstrationen eingesetzt, wobei exzessive Gewalt, Gummigeschosse aber auch scharfe Munition gegen Demonstranten zum Einsatz kam, welche wiederholt Todesopfer forderten. Es kam trotz zahlreicher Verhaftungen noch zu keiner Verurteilung wegen außergerichtlicher Tötungen, Folter oder willkürlicher Verhaftungen gegen Mitglieder der RABs (ÖB 9.2020). Die Regierung streitet weiterhin das Verschwindenlassen von Personen, Folter und andere Verstöße durch Sicherheitskräfte, sowie außergerichtliche Tötungen, etwa durch Angehörige des RAB ab. Die Sicherheitskräfte versuchen seit langem, unrechtmäßige Tötungen zu vertuschen, indem sie behaupteten, dass es bei einem Schusswechsel oder im Kreuzfeuer zu Todesfällen gekommen ist. Hunderte Menschen wurden angeblich in solchen „Kreuzfeuer“ getötet (HRW 14.1.2020; vgl. ÖB 9.2020).
Bangladesh Ansar: Gegründet im Jahr 1948 und ebenfalls dem Innenministerium unterstellt, gibt es aktuell ca. 23.000 leicht bewaffnete Ansars, die zur Unterstützung der Polizei im ländlichen Raum eingesetzt werden und auch Zivilschutz-Aufgaben übernehmen (ÖB 9.2020).
Border Guard Bangladesh (BGB) – ehem. Bangladesh RiflesRifles (BDRs): Diese ca. 40.000 Mann starke paramilitärisch