TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/16 W111 1266333-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.06.2021
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Entscheidungsdatum

16.06.2021

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §53 Abs1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W111 1266330-3/14E

W111 1266333-3/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. DAJANI, LL.M., als Einzelrichter über die Beschwerden von 1) XXXX , geb. XXXX , 2) XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 25.06.2018, 1) Zl. 821874410/2209054 und 2) Zl. 821874301/2209038, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A) I. Die Beschwerden gegen die Spruchpunkte I. bis IV. werden gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005, § 9 Abs. 1 und Abs. 4 sowie § 57 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird in Erledigung der Beschwerden gegen die Spruchpunkte V. bis VII. jeweils ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG 2005 iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

III. Gemäß §§ 54 und 55 AsylG 2005 wird 1) XXXX und 2) XXXX jeweils der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführer, Staatsangehörige der Russischen Föderation, sind Geschwister.

2. Die Beschwerdeführer reisten erstmals im September 2005 mit ihrer Mutter und weiteren Geschwistern ( XXXX und XXXX ) in das Bundesgebiet ein und stellten am 30.09.2005 Anträge auf internationalen Schutz.

3. Die Anträge der Beschwerdeführer wurden mit Bescheiden vom 14.12.2007 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde ihnen jeweils der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und wurde ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, die in weiterer Folge dreimal bis zum 13.12.2011 verlängert wurde.

4. Am 29.03.2011 sind die Beschwerdeführer freiwillig in den Herkunftsstaat zurückgekehrt.

5. Die Beschwerdeführer stellten am 27.12.2012 infolge illegaler Einreise in das Bundesgebiet die vorliegenden Anträge auf internationalen Schutz, zu welchen sie am selben Tag niederschriftlich erstbefragt wurden.

Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) gab zum Fluchtgrund an, dass sie mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Schwester „mitgegangen“ sei. Die meiste Zeit (im Herkunftsstaat) habe sie bei ihrer kranken Großmutter verbracht; sie sei nicht in die Schule aufgenommen worden.

Der Zweitbeschwerdeführer (BF2) gab zusammengefasst im Wesentlichen an, dass sie im März 2011 wegen ihrer kranken Großmutter wieder nach Tschetschenien zurückgefahren seien. Sie hätten vorgehabt, dort zu bleiben. Da der BF2 keine Schulausbildung machen habe können und auch keine Arbeit gefunden habe, habe er sich Mitgliedern einer Gruppe angeschlossen, die im Wald verschiedene paramilitärische Übungen mit Waffen gemacht hätten. Von einem Bekannten Namens XXXX habe er eine Sporttasche mit verschiedenen Waffen (Pistolen und vermutlich Sprengstoff) bekommen. Er hätte diese Tasche für ein paar Tage bei sich verstecken sollen. Seine Mutter habe die Waffen gefunden und „große Angst“ bekommen. Sie habe seinen Cousin angerufen, der beim tschetschenischen Sicherheitsdienst tätig sei. Er sei sofort gekommen und habe sich „die Sachen“ angesehen. Er habe zu ihnen gesagt, sie sollten lieber das Land verlassen, sonst würden sie „große Probleme“ bekommen. Die Tasche mit den Waffen habe er mitgenommen. Aus diesem Grund hätten sie das Land verlassen.

6. Am 13.09.2017 wurde die BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen. In dieser Einvernahme gab sie befragt zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen und sinngemäß an, dass ihre Mutter sie an der Schule anmelden habe wollen, das sei aber nicht gegangen, weil die BF1 weder Russisch noch Tschetschenisch schreiben habe können. Sämtliche Schulleiter hätten abgesagt. Zudem hätte ihre Mutter Angst wegen ihres Bruders gehabt. Ihre Mutter habe gesehen, „wie die Jugendlichen dort“ gewesen seien und habe Angst gehabt, dass er „etwas Falsches“ machen könnte. Diesbezüglich habe die BF1 aber selber nichts mitbekommen, weil sie die meiste Zeit bei ihrer Großmutter gelebt habe.

Am selben Tag wurde der BF2 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich einvernommen. Der BF2 brachte anlässlich jener Einvernahme zusammengefasst und sinngemäß vor, er und seine Schwester hätten versucht, an mehreren Schulen aufgenommen zu werden. Sie seien aber nicht aufgenommen worden. Zum Fluchtgrund gab er an, dass ein Bekannter ihn gebeten habe, eine Tasche bei sich zu Hause aufzubewahren. Auf seine Frage, was drinnen sei, habe der Bekannte angegeben, dass sich Sportsachen in der Tasche befinden würden. Später als seine Mutter nach Hause gekommen sei, hätten sie hineingeschaut und hätten mehrere Pistolen und „ein Sackerl mit einem viereckigen Gegenstand“ gesehen. Seine Mutter hätte Angst bekommen und habe den Cousin des BF2 angerufen, dass er schnell zu ihnen kommen solle. Nachdem sein Cousin gekommen sei, habe der Cousin gesagt, dass sie so schnell wie möglich Tschetschenien verlassen sollten, da sie sonst „größere Probleme“ bekommen könnten.

7. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 25.06.2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge auf internationalen Schutz der Beschwerdeführer bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkte I.) ab. In den Spruchpunkten II. wurde der ihnen mit Bescheid vom 14.12.2007 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt. Die mit Bescheid vom 14.12.2007 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter wurde ihnen gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen (Spruchpunkte III.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkte IV.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkte V.) und wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG unter einem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer nach „Russland“ gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte VI.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte VII.).

Der Begründung ist im Wesentlichen und sinngemäß zu entnehmen, dass die Beschwerdeführer keinen gegen sie oder ihre Familie gerichteten Fluchtgrund angeben oder glaubhaft machen hätten können. Die Mutter der Beschwerdeführer habe auf Nachfrage der Behörde ausgeführt, dass „die Geschichte mit der Tasche“ nicht der Wahrheit entsprechen würde; es hätte nie so einen Vorfall gegeben. Im Übrigen wurde im Bescheid hinsichtlich beider Beschwerdeführer ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nicht mehr vorliegen würden. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten sei daher (jeweils) abzuerkennen gewesen. Zudem seien die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG zulässig.

8. Dagegen wurden fristgerecht Beschwerden eingebracht, in welchen begründend zusammengefasst und im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren vorgelegen habe. Zudem wurde moniert, dass zwischen der Asylantragstellung und der Einvernahme der Beschwerdeführer mehr als 5 Jahre und zwischen Einvernahme und Bescheiderlassung abermals 9 Monate vergangen seien. Diese lange Verfahrenszeit sei nicht auf ein Verschulden der Beschwerdeführer zurückzuführen. Zudem hätte der legale Aufenthalt der Beschwerdeführer in Österreich stärker berücksichtigt werden müssen. Auch seien die Länderberichte unvollständig und nicht mehr aktuell. Im Übrigen würden im angefochtenen Bescheid (unter anderem) insbesondere ausführliche Berichte zur Lage von Personen, die nach einem jahrelangen Aufenthalt in Europa nach Tschetschenien abgeschoben werden würden, fehlen. Zudem wurden unrichtige Feststellungen aufgrund mangelhafter Beweiswürdigung gerügt. Darüber hinaus wurde ausgeführt, dass ein schützenswertes Privat- und Familienleben in Österreich bestehe. Auch liege eine unrichtige rechtliche Beurteilung vor.

9. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl langte am 25.07.2018 mitsamt den bezughabenden Verwaltungsakten beim Bundesverwaltungsgericht ein.

10. Die gegenständliche Rechtssache wurde auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 16.10.2018 der ursprünglich zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der Gerichtsabteilung W111 am 22.10.2018 neu zugewiesen.

11. Am 16.09.2020 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit der Beschwerdeführer, einer Dolmetscherin für die russische Sprache und des Rechtsvertreters der Beschwerdeführer eine mündliche Verhandlung durch. Zudem wurde eine Zeugin einvernommen.

Die gegenständlich relevanten Teile der Verhandlung gestalteten sich, wie folgt:

„R befragt die Partei, ob diese psychisch und physisch in der Lage ist, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen bzw. ob irgendwelche Hindernisgründe vorliegen. Ferner wird die Partei befragt, ob bei ihr (chronische) Krankheiten und/oder Leiden vorliegen. Diese Fragen werden von der Partei dahingehend beantwortet, dass keine Hindernisgründe sowie (chronische) Krankheiten und Leiden bei ihr nicht vorliegen.

Eröffnung des Beweisverfahrens

R weist BF auf die Bedeutung dieser Verhandlung hin und ersucht, die Wahrheit anzugeben. Der BF wird aufgefordert nur wahrheitsgemäße Angaben zu machen und belehrt, dass unrichtige Angaben bei der Entscheidungsfindung im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen sind. Ebenso wird auf die Verpflichtung zur Mitwirkung an der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes hingewiesen und dass auch mangelnde Mitwirkung bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen ist.

Auf eine Verlesung des Akteninhaltes wird unter Zustimmung des BF und des BFV verzichtet. Der Verfahrensakt wird zum Bestandteil des Verfahrens erklärt.

R erteilt eine Belehrung über den Verfahrensstand bzw. über die rechtliche Lage.

Der RV gibt an, dass die BF1 und der BF2 keine Gründe vorbringen, die zur Gewährung von Asyl bzw. subsidiären Schutz führen würden. Bislang vorgebrachte Gründe werden zurückgezogen.

Der R erteilt ausführliche rechtliche Belehrung. BF1 und BF2 geben an, dass sie diese verstanden hätten. Sie bestätigen, dass es weder ein asylrelevantes Vorbringen gibt (sie in ihrer Heimat keiner Verfolgung ausgesetzt wären), noch ein Vorbingen gibt, das zur Gewährung von subsidiären Schutz führen würde (weder Schwere noch chronische Krankheiten noch sonstige gründe die zu einer Fallgegenständlich relevanten Gefährdung im Falle einer Heimkehr führen würden)

Beginn der Befragung BF1:

R: Bitte schildern Sie mir Ihr Privat- und Familienleben in Österreich.

BF1: Bevor wir zurück gegangen sind nach Tschetschenien habe ich eine Mittelschule besucht, ich habe die Schule damals nicht abgeschlossen. Deswegen musste ich die Schule in den vergangenen Jahren wiederholen. Zwischenzeitig habe ich einen Abschluss der neuen Mittelschule. Ich habe auch einen positiven Abschluss in der deutschen Sprache. Ich habe mich dann eine kurze Zeit am Abendgymnasium angemeldet, das es ein paar Monate besucht und dann abgebrochen. Ich fange bald eine freiwillige Arbeit im Tiergarten an. Ich möchte den Tieren gerne helfen. Bisher habe ich keine Arbeitsbewilligung, würde aber gerne einer geregelten Beschäftigung nachgehen. Ich war bereits zwischen 2005 und 2011 in Österreich. 2011 bin ich mit meiner Mutter nach Tschetschenien zurückgekehrt. Seit 2012 bin ich ununterbrochen in Österreich. Ich habe daher seit meinem 8 Lebensjahr mit kurzer Unterbrechung fast ununterbrochen in Österreich gelebt. Ich würde gerne eine Lehre machen als Kosmetikerin und in einem Salon arbeiten. Fast sämtliche meiner Bekannten und Freunde sind in Österreich. Ich habe noch Kontakt mit 2 Cousinen in Tschetschenien sonst habe ich kaum mehr Kontakte in die Russische Föderation. Ich lebe gemeinsam mit meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Schwester in einem Integrationshaus. Ich helfe meiner Mutter bei der Betreuung meiner Schwester, weswegen die Bindung zu meiner Mutter besonders eng ist. Ich bin nicht vorbestraft. Ich betrachte Österreich zwischenzeitlich als meine neue Heimat und möchte gerne hierbleiben.

Beginn der Befragung BF2

R: Bitte schildern Sie mir Ihr Privat- und Familienleben in Österreich.

BF2: Wir ich schon gesagt habe, habe ich einen positiven Schulabschluss in Österreich. Ein paar Monate danach habe ich eine Lehrstelle als Kommunikationstechniker bekommen. Aber die musste ich leider abbrechen, weil wir zurück gekehrt sind nach Tschetschenien. Als ich zurückgekehrt bin, erhielt ich nur die weiße Karte mit der kann man zwar leben aber man ist sehr eingeschränkt. Ich habe zwar verschiedene Kurse gemacht aber die waren sehr schwer zu finden. Ich habe einen Englischkurs gemacht, einen Berufsorientierungskurs und vor ca. 2 Jahren habe ich einen Deutschkurs besucht, weil ich sonst nichts finden konnte. Ich habe auch versucht beim Abendgymnasium anzufangen, aber mir wurde gesagt mit der weißen Karte geht das leider nicht. Ich hatte eigentlich vor ehrenamtlich bei der Rettung anzufangen, ich besuchte sogar ein Seminar aber da es eine sehr schwere Zeit war mit der Schwester und dem Vater, hatte ich kaum Zeit das umzusetzen. Mein Vater ist gerade im Krankenhaus, er wurde operiert. Er lebt mit uns im gleichen Haus. Als er sich sehr schlecht gefühlt hat, mussten wir sehr viel aufpassen. Er ist gesundheitlich sehr angeschlagen. Er hat beidseits einen gutartigen Kopftumor. Er wird, wenn er aus dem Spital kommt eine eigene Wohnung beziehen. Ich habe ehrlichgesagt, wenn man von Kontakten her redet, gar keinen Kontakt nach Tschetschenien. Mein gesamtes Leben findet in Österreich statt. Ich habe den Deutschkurs B2 gemacht aber keine Prüfung. Ich bin nicht vorbestraft und würde gerne in Österreich bleiben. Nach meinen Berufswünschen gefragt gebe ich an, dass ich eine Schnelllehre machen möchte und anschließend bei den XXXX Beschäftigung finden möchte.

Vorgelegt wird ein Zeitungsartikel wo hervorgeht, dass der BF2 eine ältere Dame vor dem Tod gerettet hat.

R an BF1 und BF2: Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

BF1: Nein.

BF2: Nein.

Beginn der Befragung der Zeugin.

Es erfolgt eine Zeugenbelehrung.

R: Bitte schildern Sie mir Ihre Lebensumstände in Österreich.

Z: Ich wohne zusammen mit meinen Kindern und mit meinem geschiedenen Mann, aber er ist immer noch der Vater meiner Kinder und um den sich niemand kümmert. Nach seiner Operation wird er eine eigene Wohnung beziehen. Meine beiden Kinder helfen mir bei der Betreuung meiner behinderten Tochter und auch bei der Betreuung ihres Vaters.

R: Gehen Sie einer Beschäftigung nach? Wovon leben Sie?

Z: Ich bekomme Sozialhilfe. Ich arbeite nicht und wenn ich die Möglichkeit habe, besuche ich einen Deutschkurs. Ich habe ein Visum bekommen, es ist noch nicht einmal ein Monat her.

R: Langfristig möchten Sie aber arbeiten?

Z: Ja natürlich.

R an RV: Möchten Sie noch Fragen stellen oder etwas vorbringen?

RV: Keine Fragen und kein Vorbringen.

Festgehalten wird von Seiten des R, dass die Befragung der BF1 und BF2 ausschließlich in deutscher Sprache erfolgte. Verständigung mit BF1 und BF2 war sehr gut. Die Befragung der Zeugin musste mithilfe der Dolmetscherin erfolgen.

Vorgelegt werden das LIB betreffend die Russische Föderation. Stand 27.03.2020 aktualisiert am 21.07.2020. Der RV verzichtet auf die Übergabe eines Exemplars und verzichtet ebenso auf eine Stellungnahme.

Der BF2 gibt an, dass er nicht gewusst hätte, dass sein Jahres- und Abschlusszeugnis der 8ten Schulstufe nicht ausreichen wäre zur Erlangung einer Aufenthaltsberechtigung + und er ersucht um Gewährung einer 2-monatigen Frist um eine entsprechende Integrations- und Sprachprüfung vorlegen zu können.“

12. Mit Schriftsatz vom 10.11.2020 wurde ein Zeugnis zur Integrationsprüfung Sprachniveau A2 hinsichtlich des BF2 vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Sie gehören der tschetschenischen Volksgruppe an und bekennen sich zum moslemischen Glauben. Ihre Identität steht fest. Die Beschwerdeführer sind Geschwister.

Die Beschwerdeführer reisten erstmals im September 2005 mit ihrer Mutter sowie zwei weiteren Geschwistern illegal in das Bundesgebiet ein, stellten am 30.09.2005 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 14.12.2007 wurde den Beschwerdeführern gemäß § 8 Abs 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und diesen eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt, die in der Folge dreimal bis zum 13.12.2011 verlängert wurde. Diese Entscheidungen vom 14.12.2007 wurden zusammengefasst damit begründet, dass im gegenständlichen Verfahren im Wesentlichen die Aussagen des gesetzlichen Vertreters der Beschwerdeführer die zentrale Erkenntnisquelle darstellen würde. Zudem wurde ausgeführt, dass aus einer Gesamtschau der Ausführungen der gesetzlichen Vertreterin der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung individueller, die Beschwerdeführer betreffende, Faktoren und der derzeitigen Lage in Tschetschenien die Behörde zum Ergebnis gekommen sei, dass die Kriterien des § 50 Abs 1 FPG erfüllt seien.

Der Begründung des Zuerkennungsbescheides der Mutter (ebenfalls vom 14.12.2007) ist im Wesentlichen zu entnehmen, dass XXXX eine alleinerziehende Mutter mit zwei minderjährigen und zwei erwachsenen Kindern sei, wobei eines unter ihrer Sachwalterschaft stehe. Aus einer Gesamtschau der Ausführungen unter Berücksichtigung der individuellen Faktoren und der derzeitigen Lage in Tschetschenien sei die Behörde zum Ergebnis gekommen, dass die Kriterien des § 50 Abs 1 FPG erfüllt seien.

Der Vater der Beschwerdeführer, XXXX , reiste erstmals im Oktober 2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 15.10.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz. Diesem wurde in der Folge ebenfalls der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Mit Schreiben vom 08.06.2009 gab dieser eine schriftliche Erklärung ab, wonach er beabsichtige, freiwillig in sein Herkunftsland zurückzukehren. Mit Schreiben vom 30.6.2009 teilte IOM mit, dass der Vater der Beschwerdeführer am 29.06.2009 unter Gewährung von Rückkehrhilfe aus dem Bundesgebiet ausgereist ist.

Am 29.03.2011 reisten die Beschwerdeführer gemeinsam mit ihrer Mutter und einer Schwester in das Heimatland zurück. Im Herkunftsstaat hat die Mutter in dieser Zeit gearbeitet und dadurch den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder bestritten.

Die Beschwerdeführer (sowie die Mutter der Beschwerdeführer und XXXX ) stellten am 27.12.2012, nachdem sie neuerlich nach Österreich eingereist waren, den nunmehr verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet und halten sich seit diesem Zeitpunkt im Bundesgebiet auf.

Der Vater stellte am 26.02.2018 einen Antrag auf internationalen Schutz.

In Österreich befindet sich die Mutter der Beschwerdeführer. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 10.03.2020, W125 1266329-4, wurde die Beschwerde hinsichtlich der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten betreffend die Mutter abgewiesen und ihr ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt. Zudem haltet sich der Vater der Beschwerdeführer im Bundesgebiet auf. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.05.2018 wurde der Antrag des Vaters auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Der dem Vater mit Bescheid vom 26.05.2009 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde ihm gemäß § 9 Abs. 1 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt II.). Im Spruchpunkt III. wurde ihm die mit Bescheid vom 26.05.2009 erteilte befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen. Dem Vater wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Vater eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 4 FPG erlassen (Spruchpunkt V.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Vaters gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt VI.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VII.). Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Entscheidung vom heutigen Tag die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides des Vaters als unbegründet abgewiesen. Im Übrigen wurde der Beschwerde des Vaters hinsichtlich Spruchpunkt II. bis VII. des angefochtenen Bescheides stattgeben und die genannten Spruchpunkte des Bescheides behoben (W129 2197358-1). Zur Schwester XXXX , ist auszuführen, dass mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tag die Beschwerde gegen den „Bescheid“ des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.06.2018 mangels Vorliegens eines Bescheides als unzulässig zurückgewiesen wurde (W111 1266331-3). Der Antrag auf internationalen Schutz der Schwester ist daher weiterhin offen. Die Beschwerdeführer leben mit ihrer Mutter, XXXX , und der Schwester, XXXX , im gemeinsamen Haushalt. Zwei weitere Geschwister der Beschwerdeführer ( XXXX und XXXX ) wohnen mit deren Familien ebenfalls im Bundesgebiet, jedoch nicht im gemeinsamen Haushalt mit den Beschwerdeführern. Der Vater leidet an gesundheitlichen Problemen. Die volljährige Schwester, XXXX , leidet (insbesondere) an rezidivierenden Sturzattacken mit Bewusstseinsstörung und bedarf einer Betreuung im Alltag.

Im Herkunftsstaat halten sich Verwandte auf.

1.2. Weder waren die Beschwerdeführer in der Russischen Föderation einer Verfolgung ausgesetzt noch droht eine solche aktuell. Die Beschwerdeführer sind im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

Die Beschwerdeführer wären im Fall ihrer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation weder in ihrem Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen noch von der Todesstrafe bedroht. Die Beschwerdeführer liefen dort nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Die Beschwerdeführer sprechen die Landessprache und sind mit den Verhältnissen in ihrem Herkunftsstaat vertraut. Wie bereits ausgeführt, verfügen die Beschwerdeführer über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation. Die Beschwerdeführer sind grundsätzlich dazu in der Lage, ihren Lebensunterhalt im Herkunftsstaat durch die Teilnahme am Erwerbsleben eigenständig zu bestreiten. Zudem steht ihnen als russische Staatsbürger ein Rückgriff auf Leistungen des dortigen Sozialhilfesystems offen, weiters wäre es den Beschwerdeführern möglich, auf (anfängliche) Unterstützung durch Angehörige zurückzugreifen und stünde ihnen eine Hilfe bei der Wiedereingliederung im Herkunftsstaat nach mehrjähriger Ortsabwesenheit offen.

Die Beschwerdeführer leiden jeweils an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, die einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat entgegenstehen würden. In der Russischen Föderation respektive Tschetschenien besteht eine ausreichende medizinische Grundversorgung, weswegen die Beschwerdeführer hinsichtlich allfälliger psychischer und physischer Leiden ausreichend behandelt werden könnten.

1.3. Die BF1 ist in Tschetschenien geboren. Sie hat die Schule in Kasachstan bzw. XXXX , in Polen und in XXXX besucht. Sie hat am 14.06.2018 die Pflichtschulabschluss-Prüfung bestanden und verfügt über eine positive Beurteilung im Fach „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“. Die BF1 war für kurze Zeit am Abendgymnasium angemeldet, das sie ein paar Monate besuchte und dann abbrach. Die BF1 brachte im Zuge der mündlichen Verhandlung glaubhaft vor, bald eine freiwillige Arbeit im Tiergarten anzufangen. Zudem betonte sie glaubwürdig den Wunsch, einer geregelten Beschäftigung nachgehen zu wollen. Sie hat sich in Österreich einen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut. Demgegenüber hat sie nur mit zwei Cousinen, die in Tschetschenien leben, Kontakt.

Der BF2 ist in Kasachstan geboren. Er hat die Schule in Kasachstan bzw. XXXX , in Polen und in Österreich besucht. Er verfügt über ein positives Jahres- und Abschlusszeugnis für die vierte Klasse (8. Schulstufe) der XXXX , inklusive positiven Beurteilung im Unterrichtsfach „Deutsch“, vom 02.07.2010. Ein paar Monate nach dem Schulabschluss hat er eine Lehrstelle als Kommunikationstechniker bekommen, die er aber aufgrund der Rückkehr nach Tschetschenien abbrechen musste. Der BF2 hat keinen Kontakt mehr zu Personen, die in Tschetschenien leben. Er gab im Zuge der mündlichen Verhandlung glaubwürdig an, eine „Schnelllehre“ machen und anschließend eine Beschäftigung finden zu wollen. Er hat Kurse im Bundesgebiet besucht, so hat er in der Zeit vom 02.08.2010 bis 23.09.2010 am Seminar Berufsorientierung und Coaching im Ausmaß von 120 LE teilgenommen. Im Übrigen hat er die A2-Prüfung bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz auf dem Sprachniveau A2 und zu Werte- und Orientierungswissen am 09.10.2020 bestanden (Zeugnis des ÖIF). Er hat bei der Rettung einer älteren Frau im Zuge eines Brandes mitgeholfen.

Die Beschwerdeführer unterstützen ihre Mutter bei der Betreuung der Schwester, XXXX . Zudem halfen sie ihrer Mutter bei der Betreuung des kranken Vaters. Festgehalten wird, dass die Einvernahme der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung ausschließlich auf Deutsch erfolgte und die Verständigung mit beiden Beschwerdeführern sehr gut war. Die Beschwerdeführer sind zudem unbescholten. Weiters beziehen sie Leistungen aus der Grundversorgung. Die Beschwerdeführer sehen mittlerweile Österreich als ihre Heimat.

1.4. Zum Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 27.03.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a; vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 27.03.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015; vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 27.03.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Bewegungsfreiheit

Letzte Änderung: 27.03.2020

In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (USDOS 13.3.2019). In einigen Fällen schränkten die Behörden diese jedoch ein. Die meisten Russen können jederzeit ins Ausland reisen, aber ca. vier Millionen Mitarbeiter, die mit dem Militär- und Sicherheitsdienst verbunden sind, wurden nach den im Jahr 2014 erlassenen Regeln vom Auslandsreiseverkehr ausgeschlossen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020).

Tschetschenen steht, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestaner etc.], das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (AA 13.2.2019). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung vor allem von ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein [bez. Registrierung vgl. Kapitel 19.1 Meldewesen] (FH 4.3.2020).

Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Die tschetschenische Diaspora in allen russischen Großstädten ist stark angewachsen; 200.000 Tschetschenen sollen allein in Moskau leben. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Einstellungen (AA 13.2.2019; vgl. ADC Memorial, CrimeaSOS, Sova Center for Information and Analysis, FIDH 2017).

Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses, Inlandspasses (wie Personalausweis) oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine Verwaltungsstrafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 13.2.2019).

Personen, die innerhalb des Landes reisen, können dies nicht ohne ihren Inlandsreisepass (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018; vgl. FH 4.3.2020).

Nach Angaben des Leiters der Pass- und Visa-Abteilung im tschetschenischen Innenministerium haben alle 770.000 Bewohner Tschetscheniens, die noch die alten sowjetischen Inlandspässe hatten, neue russische Inlandspässe erhalten (AA 13.2.2019).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 16.3.2020

ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against “Extremism” in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf, Zugriff 16.3.2020

FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 16.3.2020

Grundversorgung

Letzte Änderung: 21.07.2020

2018 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 73,6 Millionen, somit ungefähr 62% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 55%. Die Arbeitslosenrate liegt bei 4,7% (WKO 7.2019), diese ist jedoch abhängig von der jeweiligen Region. Russische StaatsbürgerInnen haben überall im Land Zugang zum Arbeitsmarkt (IOM 2018). Das BIP lag 2019 bei ca. 1.542 Milliarden US-Dollar (WKO 7.2019; vgl. GIZ 7.2020b).

Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der Weltgasreserven (25,2%), circa 6,3% der Weltölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt jedoch zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 70% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2020 den 94. Platz [2019 Platz 98] unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen. Die Erhöhung des allgemeinen Satzes der Mehrwertsteuer von 18% auf 20% am Jahresanfang 2019 belastete die Verbrauchernachfrage. Das Wirtschaftswachstum betrug 2019 1,3%. Langfristig befürchten Ökonomen und Behörden ein Erlahmen der Konjunktur, wenn strukturelle Reformen ausbleiben. Diese seien wegen des Rückgangs der erwerbstätigen Bevölkerung und der starken Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport erforderlich (GIZ 7.2020b).

Die primäre Versorgungsquelle der Russen bleibt ihr Einkommen. Staatliche Hilfe können Menschen mit Behinderungen, Senioren und Kinder unter drei Jahren erwarten. Fast 14% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die dem per Verordnung bestimmten monatlichen Existenzminimum von derzeit 10.444 Rubel [ca. 141 €] entspricht. Auch der Mindestlohn wurde seit 1.5.2018 an das Existenzminimum angeglichen. Der Warenkorb, der zur Berechnung des Existenzminimums herangezogen wird, ist marktfremd. Die errechnete Summe reicht kaum zum Überleben aus. Diese Entwicklung kann nur teilweise durch die Systeme der sozialen Absicherung aufgefangen werden. In den Regionen, die neben dem föderalen Existenzminimum ein höheres regionales Existenzminimum eingeführt haben, haben die Beschäftigten und die Rentner die Möglichkeit, eine aufstockende Leistung bis zur Höhe des regionalen Existenzminimums zu erhalten. Die Entwicklung hin zur Verarmung ist vorwiegend durch extrem niedrige Löhne verursacht. Diese sind zum einen eine Folge der auf die Schonung der öffentlichen Haushalte zielenden Lohnpolitik. Zwei Drittel aller Einkommen werden von staatlichen Unternehmen oder vom Staat bezahlt, der die Löhne niedrig hält. Zum anderen resultieren die niedrigen Löhne aus der primär auf den Erhalt der Arbeitsplätze fokussierten russischen Beschäftigungspolitik. Ungünstig ist zudem die Arbeitsmarktstruktur. Der größte Teil der Beschäftigten arbeitet im öffentlichen Dienst oder in Unternehmen, die ganz oder teilweise dem Staat gehören (33,4 Mio. von 73,1 Mio. Beschäftigten). Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15-20% für Arbeitnehmer ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen der Arbeitgeber aufgrund fehlender Fortbildungen als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21,6%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Folglich müssen Arbeitnehmer bis zum 44. Lebensjahr jede Chance zum Vermögensaufbau nutzen, um sich vor Altersarmut zu schützen. Auch bei Migranten wird beim Lohn gespart. Sie verdienen oft nur den Mindestlohn (AA 13.2.2019).

Die Lage der Rentner (29,5% der russischen Bevölkerung) ist stabil, aber prekär. Die Durchschnittsrente beträgt 13.348 Rubel [ca. 180 €]. Die Durchschnittsaltersrente ist ein wenig höher und beträgt 14.075 Rubel [ca. 190 €]. Sie soll ab 2019 als Ausgleich zu der zugleich eingeführten Anhebung des Rentenalters um fünf Jahre (jährlich um ein Jahr bis auf 60 Jahre bei Frauen und 65 Jahre bei Männern) jährlich um durchschnittlich 1.000 Rubel [ca. 14 €] erhöht werden. Gemessen am Existenzminimum ist das durchschnittliche Rentenniveau zwischen 2012 und Ende 2018 um 18% gesunken. Damit führen die Rentner ein Leben an der Grenze des Existenzminimums und sind stark von den Lebensmittelpreisen abhängig. Dennoch gehören die Rentner nicht zu den Verlierern der Politik. Weil die Rente die verlässlichste staatliche Transferleistung ist, sind die Rentner vielmehr ein Stabilisierungsfaktor in vielen Haushalten geworden. Statistisch ist das Armutsrisiko von Haushalten ohne Rentner dreimal höher als das von Haushalten mit Rentnern. Verlierer der aktuellen Politik sind v.a. ältere Arbeitnehmer, Familien mit Kindern und Arbeitsmigranten. An der Höhe des Existenzminimums gemessen sank das Lohnniveau zwischen 2012 und 2018 um 49%. Seit 1.2.2018 sind die Löhne für alle Mitarbeiter im öffentlichen Dienst um 4% pauschal angehoben worden. Weitere Lohnerhöhungen sind im Bildungssystem und Gesundheitswesen geplant, wo die Löhne 23% respektive 19% unter dem landesweiten Durchschnittslohn liegen (AA 13.2.2019).

Als besonders armutsgefährdet gelten Familien mit Kindern, vor allem Großfamilien, Alleinerziehende, Rentner und Menschen mit Behinderung. Weiters gibt es regionale Unterschiede. In den wirtschaftlichen Zentren, wie beispielsweise Moskau oder St. Petersburg ist die offizielle Armutsquote nur halb so hoch wie im Landesdurchschnitt (knapp 14%), wohingegen beispielsweise in Regionen des Nordkaukasus jeder fünfte mit weniger als dem Existenzminimum auskommen muss. Auch ist prinzipiell die Armutsgefährdung am Land höher als in den Städten. Die soziale Absicherung ist über Renten, monatliche Geldleistungen für bestimmte Personengruppen (beispielsweise Kriegsveteranen, Menschen mit Behinderung, Veteranen der Arbeit) und Mutterschaftsbeihilfen organisiert [bitte vergleichen Sie hierzu Kapitel 20.2 Sozialbeihilfen] (Russland Analysen 21.2.2020a).

Die EU hat die Verlängerung der wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland bis Juni 2020 beschlossen (Standard.at 20.6.2019).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 18.3.2020

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/russland/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 17.7.2020

IOM – International Organisation of Migration (2018): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698619/18364377/Russland_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101366&vernum=-2, Zugriff 18.3.2020

Standard.at (20.6.2019): EU verlängert Sanktionen gegen Russland, https://www.derstandard.at/story/2000105172803/eu-verlaengert-sanktionen-gegen-russland, Zugriff 18.3.2020

Russland Analysen/ Brand, Martin (21.2.2020a): Armutsbekämpfung in Russland, in: Russland Analysen Nr. 382, https://www.laender-analysen.de/russland-analysen/382/RusslandAnalysen382.pdf, Zugriff 4.2.2020

WKO – Wirtschaftskammer Österreich (7.2019): Länderprofil Russland, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-russland.pdf, Zugriff 18.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 21.07.2020

Die nordkaukasischen Republiken stechen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 7.2020a; vgl. ÖB Moskau 12.2018), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Dennoch hat sich die wirtschaftliche Lage im Nordkaukasus in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Wenngleich die föderalen Transferzahlungen wichtig bleiben, konnten in den vergangenen Jahren dank des massiven Engagements der Föderalen Behörden, insbesondere des Nordkaukasus-Ministeriums, signifikante Fortschritte bei der sozio-ökonomischen Entwicklung der Region erzielt werden (ÖB Moskau 12.2019). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Die Bevölkerungspyramide ähnelt derjenigen eines klassischen Entwicklungslandes mit hohen Geburtenraten und niedrigem Durchschnittsalter, und unterscheidet sich damit stark von der gesamtrussischen Altersstruktur (AA 13.2.2019).

Der monatliche Durchschnittslohn lag in Tschetschenien im Juni 2019 bei 27.443 Rubel [ca. 388 €] (Chechenstat 2019), landesweit bei 48.453 Rubel [ca. 686 €] im zweiten Quartal 2019 (GKS 16.8.2019). Die durchschnittliche Pensionshöhe lag in Tschetschenien im August 2019 bei 12.440 Rubel [ca. 176 €] (Chechenstat 2019), landesweit im ersten Halbjahr 2019 bei 14.135 Rubel [ca. 200 €] (GKS 30.7.2019). Das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 lag in Tschetschenien für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 10.967 Rubel [ca. 155 €], für Pensionisten bei 8.553 Rubel [ca. 121 €] und für Kinder bei 10.552 Rubel [ca. 150 €] (Chechenstat 2019). Landesweit lag das durchschnittliche Existenzminimum für das erste Quartal 2019 für die erwerbsfähige Bevölkerung bei 11.553 Rubel [ca. 163 €], für Pensionisten bei 8.894 Rubel [ca. 126 €] und für Kinder bei 10.585 Rubel [ca. 150 €] (RIA Nowosti 23.7.2019).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 18.3.2020

Chechenstat (2019): ??????????? ?????????? (Amtliche Statistiken), http://chechenstat.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_ts/chechenstat/ru/statistics/indicators/, Zugriff 18.3.2020

GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2020a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 17.7.2020

GKS.ru (16.8.2019): ?????????????? ??????????? ??????????? ?????????? ????? (durchschnittliches monatliches Gehalt), http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/trud/sr-zarplata/t1.docx, Zugriff 18.3.2020

ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 18.3.2020

RIA Nowosti (23.7.2019): ??????? ????????? ???????? ???????????? ???????? ?? I ??????? 2019 ???? (Das Arbeitsministerium hat das Existenzminimum für das erste Quartal 2019 berechnet), https://ria.ru/20190723/1556815859.html, Zugriff 18.3.2020

Sozialbeihilfen

Letzte Änderung: 21.07.2020

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen (IOM 2018).

Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Rentenfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Altersrenten gezahlt. Das Rentenalter wird mit 60 Jahren bei Männern und bei 55 Jahren bei Frauen erreicht. Da dieses Modell aktuell die Renten nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Rentenreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Die Regierung hat am 14.6.2018 einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Renteneintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten fanden Demonstrationen gegen die geplante Rentenreform statt. Präsident Putin reagierte auf die Proteste und gab eine Abschwächung der Reform bekannt. Das Renteneintrittsalter für Frauen erhöht sich um fünf anstatt acht Jahre; Frauen mit drei oder mehr Kindern dürfen außerdem früher in Rente gehen (GIZ 7.2020c).

Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 7.2020c).

Personen im Rentenalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Altersrente. Dies gilt auch für Rückkehrende. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2018). Seit dem Jahr 2010 werden Renten, die geringer als das Existenzminimum für Rentner sind, aufgestockt – insofern sind sie vor existenzieller Armut geschützt (Russland Analysen 21.2.2020a).

Zum Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2017).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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