TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/29 W182 2177932-1

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Veröffentlicht am 29.06.2021
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Entscheidungsdatum

29.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1 Z2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4

Spruch


W182 2177930-1/16E
W182 2177916-1/15E
W182 2177932-1/14E
W182 2177935-1/14E
W182 2177922-1/14E
W182 2177918-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX , geb. XXXX , und 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, vertreten durch: Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU), gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.10.2017, Zlen. ad 1.) 1046782403-140231946, ad 2.) 1051959009-150174753, ad 3.) 1051959107-150174796, ad 4.) 1051959205-150174800, ad 5.) 1068267405-150498117 und ad 6.) 1124401803-161048699, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I. Nr. 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerden werden hinsichtlich der Spruchpunkte I. – III. erster Satz der bekämpften Bescheide gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

II. Im Übrigen wird den Beschwerden stattgegeben, die Spruchpunkte III. zweiter Satz bis IV. der bekämpften Bescheide behoben, eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 9 Abs. 2 und Abs. 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I Nr. 87/2012 idgF, auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX gemäß § 54 Abs. 1 Z 1, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG 2005 idgF der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus“ sowie XXXX gemäß § 54 Abs. 1 Z 2, § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 2 AsylG 2005 idgF der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführenden Parteien (im Folgenden: BF), ein Ehepaar und ihre vier minderjährigen Kinder im Alter von XXXX , sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der tschetschenischen Volksgruppe an und sind muslimisch.

Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) reiste am 01.12.2014 illegal ins Bundesgebiet ein und stellt hier am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Diesen begründete er in einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 02.12.2014 sowie in einer Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) am 05.05.2017 im Wesentlichen damit, dass er wegen seines Bruders XXXX , der nach Österreich geflüchtet sei, von Kadyrow-Anhängern verfolgt worden sei. Er und sein Bruder seien in Tschetschenien aufgrund von Verletzungen, die sie sich 1995 bei einer Explosion zugezogen haben, als Widerstandskämpfer verdächtigt worden. Der BF1 sei im Herbst 2011 für eine Woche angehalten und auch sonst regelmäßig bedroht worden. Zuletzt hätten ihm Kadyrow-Anhänger bei einem Ausreiseversuch in XXXX aufgelauert und seinen Auslandsreisepass abgenommen. Weiters habe er 2006 oder 2007 eine Anzeige gegen einen Arbeitgeber erstattet, weil dieser ihm seinen Lohn vorenthalten habe. Der Arbeitgeber sei ein Verwandter der Kadyrow-Anhänger gewesen und habe ihn wegen der Anzeige bedroht. Er habe ihn aufgefordert, die Anzeige zurückzuziehen, was der BF1 jedoch nicht gemacht habe. In der Sache selbst sei von den Behörden nichts unternommen worden. Im Heimatort XXXX würden sich die Eltern sowie der Bruder XXXX des BF1 aufhalten. Der BF1 habe im Herkunftsland von Erwerbstätigkeiten am Bau gelebt. In Österreich würden sich seine Brüder XXXX und XXXX aufhalten.

Die Gattin des BF1 (im Folgenden: BF2) und die beiden älteren Kinder (im Folgenden: BF3 und BF4) reisten am 16.02.2015 illegal ins Bundesgebiet ein und stellten am selben Tag Anträge auf internationalen Schutz. Im Anschluss wurden die übrigen zwei Kinder (im Folgenden: BF5 und BF6) im Bundesgebiet geboren und wurden für sie am 11.05.2015 (BF5) und 28.07.2016 (BF6) Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

Die BF2 gab in einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 16.02.2015 sowie in einer Einvernahme beim Bundesamt am 05.05.2017 im Wesentlichen an, dass nach der Ausreise ihres Gatten etwa zwei bis drei Mal maskierte Personen in Uniformen zu ihnen nach Hause gekommen wären und sich nach dem BF1 erkundigt hätten. Sie hätten sie durch Drohungen einzuschüchtern versucht, hätten sie aber weder geschlagen noch misshandelt. Die BF2 und ihre Kinder hätten keine eigenen Fluchtgründe. Sie befürchte, dass der BF1 neuerlich mitgenommen werde. Details zu den Fluchtgründen ihres Gatten wisse sie nicht. Im Herkunftsland würden sich die Eltern sowie vier Geschwister der BF2 aufhalten.

Von den BF wurden u.a. vorgelegt: Inlandspässe des BF1 und der BF2; eine Heiratsurkunde; eine Bestätigung über die Teilnahme des BF1 an einem Deutschkurs A1.2; eine Bestätigung eines Bürgermeisters über gemeinnützige Tätigkeiten des BF1 für seine Aufenthaltsgemeinde; eine klinische Bestätigung einer Klinik vom 04.05.2017, wonach der BF1 wegen einer depressiven Störung bei posttraumatischen Belastungssyndrom vorstellig geworden sei; eine weitere klinische Bestätigung einer Klinik vom 17.05.2017, wonach beim BF1 ein reaktiv-depressives Syndrom mit Somatisierung diagnostiziert wurde; diverse Diplome des BF1 aus dem Herkunftsstaat; eine mit 29.10.2013 datierte Anzeige des BF1 an eine Ermittlungsbehörde in Tschetschenien gegen eine Handelsgesellschaft wegen ausstehender Zahlungen für Arbeitsleistungen im Zeitraum vom 12.03.2007 bis 04.05.2007 vom 29.10.2013.

2. Das Bundesamt wies mit den im Spruch genannten Bescheiden vom 24.10.2017 die Anträge auf internationalen Schutz der BF hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass deren Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde unter Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Begründend ging das Bundesamt vor allem davon aus, dass das Vorbringen des BF1 zum Fluchtgrund nicht glaubhaft sei. Dies wurde im Wesentlichen mit konkret dargelegten, widersprüchlichen Angaben des BF1 und der näher erörterten fehlenden Plausibilität der behaupteten Vorfälle begründet. Hinsichtlich der übrigen BF wurde primär darauf verwiesen, dass diese keine eigenen – von den Fluchtgründen des BF1 unabhängigen – Fluchtgründe geltend gemacht haben.

Mit Verfahrensanordnung vom 31.10.2017 wurden den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

3. Gegen den Bescheid erhoben die BF innerhalb offener Frist in vollem Umfang Beschwerde wegen Feststellungsmängeln sowie falscher rechtlicher Beurteilung. Es wurde eine mündliche Verhandlung beantragt und im Wesentlichen ausgeführt, dass den BF bei der Einvernahme beim Bundesamt nicht ausreichend Gelegenheit gegeben worden sei, um stressfrei ihre Fluchtgründe zu schildern. Weiters wurde unter Zitierung von Auszügen aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation von Juli 2014 und Juli 2017 auf Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien hingewiesen. Zudem wurden integrative Leistungen der BF hervorgehoben. Den Beschwerden wurden hinsichtlich des BF1 ein neurologischer Befund einer Klinik vom 13.09.2017 mit der Diagnose „aktuell nicht sicher klassifizierbare Kopfschmerzsymptomatik, DD: Belastungsreaktion“, eine Bestätigung über den Kindergartenbesuch der BF3 sowie diverse Unterstützungsschreiben beigelegt.

4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 25.03.2021, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF1, der BF2 und BF3 in Anwesenheit ihrer Rechtsvertretung sowie einer Dolmetscherin der tschetschenischen/russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.

Der BF1 wiederholte im Großen und Ganzen sein ursprüngliches Fluchtvorbringen, wonach er wegen eines Bruders sowie einer Anzeige gegen einen ehemaligen Auftraggeber von unbekannten Kadyrow-Anhänger ständig bedroht worden sei. Die BF2 konnte zu den Fluchtgründen des BF1 kaum Angaben machen. Eigene vom BF1 unabhängige Fluchtgründe wurden von ihr wie bisher weder für sich noch ihre Kinder geltend gemacht. Den BF wurden aktuelle Länderinformationen zur Situation im Herkunftsstaat zu Kenntnis gebracht und ihnen dazu binnen zwei Wochen die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

Es wurden von den BF u.a. vorgelegt: eine Einstellungszusage eines namentlich genannten Unternehmens vom 09.03.2021 bei gültiger Beschäftigungsbewilligung für ein monatliches Gehalt von 2.106,70 € brutto für den BF1; eine Einstellungszusage als Möbelpacker samt Antrag auf Saisonbewilligung für den BF1 vom Mai 2019, eine Einstellungszusage als Mietwagenfahrer bei Erhalt einer Beschäftigungsbewilligung vom April 2019 für den BF1; eine Bestätigungsschreiben über die Teilnahme des BF1 an einem Deutschkurs B1; ein positives ÖSD-Zeugnis zur Integrationsprüfung (A2) hinsichtlich des BF1 vom 18.12.2019; eine Bestätigung einer Klinik vom 03.03.2021 über sporadisch ambulante Behandlungen des BF1 unter der Diagnose chronisch-depressives Belastungssyndrom in Zusammenhang mit der ständigen Angst des Patienten, abgeschoben zu werden; zahlreiche aktuelle Empfehlungsschreiben von diversen InländerInnen für die BF – darunter auch ein Schreiben der Bürgermeisterin der Aufenthaltsgemeinde - mit u.a. Verweis auf laufende gemeinnützige Tätigkeiten des BF1 von unschätzbarem Wert für die Aufenthaltsgemeinde; eine Bestätigung über die Teilnahme der BF2 an einem Deutschkurs A1/A2; eine Bestätigung über den Kindergartenbesuch des BF5 und BF6; Bestätigungen über laufende Tätigkeiten als Reinigungskraft der BF2 im Rahmen von Dienstleistungsschecks unter der Geringfügigkeitsgrenze samt entsprechender Nachweise; Volksschulzeugnisse der BF3 und BF4.

5. In einer schriftlichen Stellungnahme vom 08.04.2021 wurde vor allem auf die gute Integration der BF verwiesen, wobei insbesondere auch die Situation der minderjährigen BF hervorgehoben wurde, die in sehr jungen Jahren nach Österreich gekommen bzw. hier geboren seien, fließend Deutsch sprechen und praktisch vollständig in Österreich sozialisiert seien. Die BF3 und BF4 haben auch ihre gesamte Schulausbildung in Österreich genossen. Die minderjährigen BF würden im Falle der Ausweisung aus ihrem sozialen Umfeld gerissen werden. Es würde ihnen schwerfallen - insbesondere auch aufgrund der COVID-19 Pandemie und den damit einhergehenden Einschränkungen – neue soziale Kontakte zu knüpfen. Angesichts dessen, dass auch die Eltern der minderjährigen BF gut integriert und bemüht seien, erscheine eine Ausweisung im konkreten Fall unverhältnismäßig. Zwar seien die minderjährigen BF grundsätzlich noch in einem anpassungsfähigen Alter, doch sei die diesbezügliche Judikatur zum anpassungsfähigen Alter nicht dahingehend auszulegen, dass es hier starre Altersgrenzen gebe, sondern können diese höchstens als grobe Orientierung herangezogen werden. Im konkreten Fall wäre insbesondere für die BF3, die praktisch vollständig in Österreich sozialisiert worden sei, eine Anpassung an die Verhältnisse im Herkunftsland mit besonderen Härten verbunden und ihr letztlich nicht zumutbar.

6. Der Bruder XXXX des BF1 hält sich seit Oktober 2012 aufrgrund einer Rot-Weiß-Rot Karte (plus) im Bundesgebiet auf. Er hatte im Bundesgebiet am 29.12.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, welchen er im Wesentlichen damit begründet hat, dass er im Jahr 1995 beim Spielen von einem einschlagenden russischen Artilleriegeschoss am Fuß und an der linken Hand verletzt worden sei. Letztere habe in weiterer Folge amputiert werden müssen. Aufgrund dieser Verletzungen sei er ab 2006 von maskierten russischen und tschetschenischen Männern verdächtigt worden, ein Kämpfer zu sein. Diese hätten ihn wiederholt von zu Hause abgeholt, befragt, bedroht und misshandelt. Deswegen habe er im Dezember 2008 das Herkunftsland verlassen.

Der Antrag wurde im Ergebnis rechtskräftig nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 14.08.2012, Zl. D11 404658-2/2009/30E, sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen und eine Ausweisung in die Russische Föderation ausgesprochen. Die Entscheidung wurde im Kern damit begründet, dass die behauptete Verfolgung nicht glaubhaft dargetan werden konnte.

Im Ergebnis gleichlautend wurde auch das Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz des Bruders XXXX des BF1 vom 29.12.2008 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung rechtskräftig durch Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 14.08.2012, Zl. D11 404659-2/2009/25E, abgeschlossen, wobei auch seinem Fluchtvorbringen kein Glaube geschenkt wurde. Er hatte seinen Antrag im Wesentlichen damit begründet, dass er seinen Bruder XXXX helfen habe wollen, als dieser im Dezember 2008 in der Nacht von einer Gruppe maskierter Militanter von Zuhause mitgenommen worden sei. Dabei sei er geschlagen und seither verfolgt worden.

Auch ihm wurde im Oktober 2012 eine Rot-Weiß-Rot Karte (plus) im Bundesgebiet erteilt, wo er sich nach wie vor aufhält.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF, ein Ehepaar (BF1 und BF2) und deren vier minderjährige Kinder (BF3 – BF6) im Alter von XXXX Jahren, sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der tschetschenischen Volksgruppe an und sind muslimischen Glaubens. Die BF1 bis BF4 waren im Herkunftsland in Tschetschenien wohnhaft. Der BF5 und BF6 wurden im Bundesgebiet geboren. Ihre Identität steht fest.

Der BF1 ist am 01.12.2014 illegal ins Bundesgebiet eingereist und hat hier am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Die BF2 – BF4 sind am 16.02.2015 illegal ins Bundesgebiet eingereist und haben hier am selben Tag Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Für die im Bundesgebiet geborenen BF5 und BF6 wurden am 11.05.2015 sowie am 28.07.2016 Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

Die BF leiden an keinen schwerwiegenden Erkrankungen. Der BF1 und die BF2 sind arbeitsfähig.

In Tschetschenien halten sich die Eltern sowie ein Bruder des BF1 sowie der Vater, zwei Brüder und zwei Schwestern der BF2 auf. Zwei Brüder des BF1 halten sich mit ihren Familien in Österreich auf.

Der BF1 hat im Herkunftsland die Schule sowie eine Ausbildung als XXXX absolviert und war in diesem Bereich auch bis zur Ausreise erwerbstätig. Die BF2 hat im Herkunftsland die Schule sowie eine XXXX abgeschlossen, war jedoch nicht erwerbstätig.

Die BF beziehen in Österreich Leistungen aus der Grundversorgung. Der BF1 konnte ein positives ÖSD-Zeugnis zur Integrationsprüfung (A2) vorlegen, besucht derzeit einen B1 Kurs und konnte auch in der Verhandlung zumindest entsprechend gute Deutschkenntnisse dartun. Die BF2 besucht einen A1/A2 Deutschkurs und konnte entsprechende Kenntnisse in der Verhandlung dartun.

Die BF3 konnte altersübliche Deutschkenntnisse auf Muttersprachenniveau nachweisen. Die BF3 und BF4 besuchen die zweite und vierte Klasse Volksschule, die BF5 und BF6 den Kindergarten.

Der BF1 konnte weiters für den Fall des Erhalts einer Beschäftigungsbewilligung eine aktuelle Einstellungszusage eines Unternehmens für ein monatliches Gehalt von 2.106,70 € brutto, sowie weitere Einstellungszusagen aus dem Jahr 2019 vorlegen. Der BF1 ist insbesondere für seine Aufenthaltsgemeinde gemeinnützig tätig und beteiligt sich regelmäßig an Reinigungsarbeiten im Feuerwehrhaus, bei der Forstpflege im Gemeindewald und Wegmacherarbeiten an Forstwegen, an der Pflege und Sanierung von Wandersteigen sowie bei der Bewirtung und anschließenden Reinigung der öffentlichen Räume und Plätze bei öffentlichen Veranstaltungen in der Gemeinde. Weiters ist er seit seiner Ankunft in der Grundversorgungseinrichtung der Aufenthaltsgemeinde gemeinnützig als Hausmeister und auch im Rahmen von privater Nachbarschaftshilfe aktiv. Der BF1 und die BF2 unterstützen auch regelmäßig die Aktivitäten des Vereins „ XXXX “ in der Heimatgemeinde. Die BF2 erfüllt in der Gemeinde auf Basis von Verrechnungsschecks im geringfügigen Ausmaß Reinigungstätigkeiten.

Die BF1 und BF2 sind strafgerichtlich unbescholten.

Das Vorbringen des BF1, wegen seines Bruders bzw. in Zusammenhang mit einer Anzeige wegen vorenthaltener Entlohnung Verfolgungshandlungen von Kadyrow-Leuten ausgesetzt zu sein, hat sich als unglaubwürdig erwiesen. Für die übrigen BF wurden keine eigenständigen, davon unabhängigen Fluchtgründe dargetan.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffe ausgesetzt sind. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkret Gefahr liefen, in ihrem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegebene Verfahrensgang der Entscheidung zugrundgelegt.

1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.04.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 09.04.2020

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamten, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), Ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 4.3.2020).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden unter Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 7.8.2019

?        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 04.09.2020

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2019; vgl. EASO 3.2017).

Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Laut Amnesty International und dem russischen 'Komitee gegen Folter' kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung (AA 13.2.2019). Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 13.2.2019). Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben häufig folgenlos (AA 13.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Unter Folter erzwungene 'Geständnisse' werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 13.2.2019). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Im August 2018 publizierte das unabhängige Online-Medienportal Meduza Daten über mehr als 50 öffentlich gemeldete Folterfälle im Jahr 2018. Zu den mutmaßlichen Tätern gehörten Polizei, Ermittler, Sicherheitsbeamte und Strafvollzugsbeamte. Die Behörden haben nur wenige strafrechtliche Ermittlungen zu den Vorwürfen eingeleitet, und nur ein Fall wurde vor Gericht gebracht (HRW 17.1.2019). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Ab 2017 wurden Hunderte von homosexuellen Männern von tschetschenischen Behörden entführt und gefoltert, einige wurden getötet. Viele flohen aus der Republik und dem Land. In einem im Dezember 2018 veröffentlichten OSZE-Bericht wurde festgestellt, dass in Tschetschenien schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich des scharfen Vorgehens gegen LGBTI-Personen, begangen wurden, und Russland wurde aufgefordert, eine umfassende Untersuchung durchzuführen [vgl. hierzu Kapitel 19.4 Homosexuelle] (FH 4.2.2019; vgl. Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.7.2018 von der unabhängigen russischen Zeitung Nowaja Gazeta veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein (NZZ 23.7.2018). Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 2018 15 Verdächtige. Ein Verdächtiger sagte aus, dass die Mitarbeiter das Video aufgezeichnet haben, um zu zeigen, dass sie einen Befehl von hohen Beamten ausgeführt haben, den Gefangenen zu bestrafen. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise die Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019). Das Gerichtsverfahren gegen das Gefängnispersonal ist noch anhängig (HRW 14.1.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.7.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 10.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2012): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 2.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 10.3.2020

?        Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 10.3.2020

?        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Wehrdienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 09.04.2020

Alle männlichen russischen Staatsangehörigen zwischen 18 und 27 Jahre werden zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel bzw. rund 300.000 Rekruten (ÖB Moskau 12.2019). Es gibt in Russland zweimal im Jahr eine Stellung – eine im Frühling, eine im Herbst (Global Security 31.5.2019). Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium, wobei die Anzahl der Wehrpflichtigen aus den jeweiligen Regionen stark variiert (ÖB Moskau 12.2019). Im Jahr 2019 wurden russlandweit 267.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Global Security 2.10.2019).

Neben dem Grundwehrdienst gibt es auch die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (dies steht auch weiblichen Staatsangehörigen offen). Nachdem vermehrt vertraglich verpflichtete Soldaten herangezogen werden (ÖB Moskau 12.2019), sinkt die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht für die russischen Streitkräfte (ÖB Moskau 12.2019, vgl. Jamestown 10.4.2018), bzw. weisen die derzeitigen Kohorten extrem niedrige Geburtenraten auf (Jamestown 10.4.2018). Mitte April 2019 sagte Präsident Putin, dass die Wehrpflicht in Russland allmählich der Vergangenheit angehört. Ende 2018 verlautbarte der Generalstab, dass 384.000 Kontraktniki (Vertragssoldaten) in den russischen Streitkräften dienen. Der Rest sind Wehrpflichtige und Offiziere. Der Verteidigungsminister stellte die Aufgabe, die Zahl der Vertragssoldaten bis 2025 auf 475.000 zu erhöhen (RBTH 22.4.2019).

Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, die ein Studium absolvieren oder die einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen, sind verbreitet, aber rückläufig. Diese Versuche konzentrieren sich vor allem auf das Stadium vor der Einberufung, da nur ein Drittel der jungen Männer, die jährlich das wehrfähige Alter erreichen, tatsächlich eingezogen werden. Etwa ein Drittel ist untauglich, ein Drittel erhält keine Aufforderung bei der Einberufungskommission vorstellig zu werden. Grundsätzlich gibt es aber keine Rekrutierungsprobleme, da genug junge Männer Grundwehrdienst leisten wollen. Neben einer patriotischen Gesinnung ist ein Grund dafür auch die Tatsache, dass die Ableistung des Grundwehrdienstes Voraussetzung für bestimmte (v.a. staatliche) berufliche Laufbahnen ist. Nichtsdestotrotz gibt es jedes Jahr einige Hundert junge Männer, denen der Stellungsbefehl zugestellt wurde, die Stellungskommission durchlaufen, die Entscheidung der Stellungskommission zur Einberufung auch nicht beeinspruchen, aber dann dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet haben. In diesen Fällen gibt es jährlich einige hundert strafrechtliche Verfahren bzw. Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung (ÖB Moskau 12.2019).

Wehrpflichtige erhalten zurzeit 2.000 Rubel [ca. 27€] Monatssold plus Gefahrenzulagen sowie einen Zuschuss für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Die im Jahr 2013 eingeleiteten Maßnahmen zur „Humanisierung“ und Attraktivitätssteigerung des Wehrdienstes wurden weiter umgesetzt. Diese Maßnahmen umfassen u.a. die Möglichkeit der heimatnahen Einberufung für Verheiratete und Wehrpflichtige mit Kindern oder Eltern im Rentenalter. Verbesserungen bei der Verpflegung, längere Ruhezeiten sowie die Erlaubnis zur Benutzung privater Mobiltelefone wurden ebenfalls eingeführt (AA 13.2.2019). 2017 gab es keine offiziellen Verlautbarungen zu Menschenrechtsverletzungen in den Streitkräften der Russischen Föderation (AA 21.5.2018). Dies gilt auch für das Jahr 2018 (AA 13.2.2019). Die NGOs „Komitee der Soldatenmütter“ und „Armee.Bürger.Recht“ berichten jedoch von Soldaten, die sich aus ganz Russland mit der Bitte um Unterstützung beim Schutz ihrer Rechte an die beiden Organisationen wenden. Somit ist die Menschenrechtslage in den russischen Streitkräften wohl weiterhin problematisch. Das „Komitee der Soldatenmütter“ äußerte zudem die Befürchtung, dass das 2016 erlassene Gesetz zur Verlängerung für Auslandseinsätze missbraucht und Wehrpflichtige zur Unterschrift genötigt werden könnten. Insgesamt sind jedoch zunehmend einzelne Verbesserungen zu erkennen, da (teilweise auf Initiative der Soldatenmütter) vor drei bis vier Jahren ein Beschwerderecht für Soldaten eingeführt wurde, seit Kurzem jeder Soldat ein Gehaltskonto haben muss, um Korruption und Erpressung durch Vorgesetzte zu verhindern und sich die soziale Lage durch den Neubau von Kasernen und die damit einhergehende Abnahme der Überbelegung verbessert hat, wodurch auch die Misshandlungen jüngerer durch ältere Soldaten [„Dedowschtschina“] zurückgegangen sind (AA 13.2.2019).

Im Jahr 2015 wurde durch Staatspräsident Putin ein Dekret erlassen, das die Aufgaben der Militärpolizei erheblich erweiterte und seitdem ausdrücklich die Bekämpfung der Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte aller Dienstgrade oder ältere Wehrpflichtige („Dedowschtschina“) sowie von Diebstählen innerhalb der Streitkräfte umfasst. Es ist zu vermuten, dass es nach wie vor zu „Dedowschtschina“ kommt, jedoch nicht mehr in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit. Eine Gesamtzahl von Todesfällen in den russischen Streitkräften wird nicht veröffentlicht. Mit einem Dekret des Präsidenten vom Mai 2015 wird die Zahl der in Friedenszeiten getöteten Angehörigen des Verteidigungsministeriums zum Staatsgeheimnis erklärt. Bei Verstößen drohen bis zu sieben Jahre Haft (AA 13.2.2019). Das Verteidigungsministerium kooperiert mit der Ombudsstelle für Menschenrechte und mit relevanten NGOs, um gegen Vorwürfe der Misshandlung von Rekruten vorzugehen. In den vergangenen Jahren sank die Anzahl der gemeldeten Übergriffe von Armeeangehörigen gegenüber Untergebenen um 37,6%. NGOs wie das „Komitee der Soldatenmütter“ betonen, dass trotz gewisser Fortschritte mehr Anstrengungen, insbesondere bei der Verurteilung von Schuldigen sowie bei der Prävention notwendig seien (ÖB Moskau 12.2019).

Für Strafverfahren gegen Militärangehörige sind Militärgerichte zuständig, die seit 1999 formal in die zivile Gerichtsbarkeit eingegliedert sind. Freiheitsstrafen wegen Militärvergehen sind ebenso wie Freiheitsstrafen aufgrund anderer Delikte in Haftanstalten oder Arbeitskolonien zu verbüßen. Militärangehörige können jedoch auch zur Verbüßung von Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren in Strafbataillone, die in der Regel zu Schwerstarbeit eingesetzt werden, abkommandiert werden (AA 13.2.2019).

Bis ins Jahr 2014 wurden etwa aus Tschetschenien überhaupt keine Wehrpflichtigen eingezogen. Die Anzahl der aus dem Nordkaukasus rekrutierten Soldaten bleibt weiterhin niedrig. So wurden im Herbst 2017 aus der gesamten nordkaukasischen Region nur rund 6.000 Personen rekrutiert. Aus Tschetschenien werden nunmehr jährlich ein paar hundert Rekruten einberufen. Nachdem junge Männer aus der Region aber teilweise eine Einberufung anstreben, gibt es Fälle, in denen sie dies durch Anmeldung eines Wohnsitzes in einer anderen Region zu erreichen versuchen (ÖB Moskau 12.2019).

Auf der offiziellen Website der Administration des tschetschenischen Präsidenten wurde am 31.03.2017 der Präsidentenerlass Nr. 55 vom 27.03.2017 veröffentlicht. Darin ordnet Präsident Kadyrow in Übereinstimmung mit dem russischen föderalen Gesetz Nr. 53 „Über den Militärdienst“ vom 28.03.1998 idgF organisatorische Maßnahmen zwecks Einberufung der Geburtsjahrgänge 1990 bis 1999 zum Militärdienst an. Dieser Erlass trat gem. Z 10 mit 01.04.2017 in Kraft und betrifft die Einberufungsperiode von April bis Juli. Dazu ist festzuhalten, dass es jedes Jahr zwei Einberufungsperioden gibt, und zwar eine im Frühjahr vom 1. April bis zum 15. Juli und eine im Herbst vom 1. Oktober bis zum 31. Dezember. Weitere Anweisungen ergehen an verschiedene Behörden wie das Innenministerium (Z 6: Schutz vor Terroranschlägen an den Sammelpunkten der Militärkommissionen, Fahndung nach flüchtigen Wehrpflichtigen und deren Überstellung an die Sammelpunkte), das Gesundheitsministerium und an die Organe der Selbstverwaltung. Schließlich wird die Zusammensetzung diverser Militärkommissionen festgelegt.

Wie bereits anfangs erwähnt, haben diese Einberufungen in Übereinstimmung mit dem „Gesetz über den Wehrdienst“ zu erfolgen. Es konnten ho. keine Berichte darüber gefunden werden, dass es aktuell zu ungesetzlichen Zwangsrekrutierungen kommt, weder im Allgemeinen, noch für Kampfeinsätze in der Ukraine im Besonderen. Die österreichische Botschaft hat auch keine offiziellen Informationen über solche Vorgänge (ÖB Moskau 27.6..2017).

Die Jamestown Foundation berichtet, dass das Verteidigungskomitee der Staatsduma Abänderungen des Gesetzes über den Militärdienst zugestimmt hat. Die vom Verteidigungsministerium vorgeschlagenen Änderungen werden es dem Militärpersonal ermöglichen, Dienstverträge mit der russischen Armee für eine Zeitspanne von sechs Monaten bis zu einem Jahr einzugehen. Bis jetzt war die kürzeste Zeitspanne eines Vertrages drei Jahre. Diese Verträge sollen nicht nur mit Reservisten eingegangen werden können, sondern auch mit Wehrpflichtigen, die einen Monat vor Beendigung ihres Dienstes stehen. Laut Gesetzesentwurf gelten diese Kurzzeitverträge nur bei außergewöhnlichen Umständen wie Naturkatastrophen oder Notfällen, wenn zusätzliche Kräfte notwendig sind, um die konstitutionelle Ordnung wieder herzustellen oder den Frieden im Ausland zu erhalten oder wieder herzustellen. In der Erklärung zum Gesetz steht ausdrücklich, dass diese Kurzzeitverträge helfen sollen, das durch die veränderte militärisch-politische Situation und durch die verstärkten Aktivitäten von internationalen Terroristen und extremistischen Organisationen entstandene Problem zu lösen. Es geht darum, Einheiten abseits des Standards zu schaffen, die schnell bewaffnet werden können. Die Einführung solcher Einheiten durch das Verteidigungsministerium scheint ein Versuch zu sein, jenen russischen Staatsbürgern, die schon in Syrien und vorher in der Ukraine kämpften, einen legalen Status zu verleihen. Diese Personen werden durch Mittelsmänner angeheuert, um Kampffunktionen auszuüben, jedoch sind ihre Kampfaktivitäten nicht durch momentanes russisches Recht abgedeckt. Es wird auch davon ausgegangen, dass durch diese Kurzzeitverträge, der Mangel an Personal im russischen Militär ausgeglichen werden soll. Die russischen Behörden haben wiederholt versprochen, keine Wehrpflichtigen zu Kampfeinsätzen ins Ausland zu schicken. Wohingegen sich die Regierung scheinbar weniger verantwortlich für die Leben seiner Vertragssoldaten fühlt, die ja freiwillig das Leben eines Soldaten gewählt haben. Es scheint also, dass Russland nicht mehr die Verbesserung der Qualität ihres militärischen Personals den Vorrang einräumt, sondern dass einfach die Anzahl an Männern-unter-Waffen, die in den Kampf geschickt werden können, wichtig ist (Jamestown Foundation 9.11.2016).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1434107/4598_1528119149_auswaertiges-amt-bericht-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-april-2018-21-05-2018.pdf, Zugriff 20.3.2020

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 20.3.2020

?        Global Security (2.10.2019, letztes update): Russian Military Personnel – Conscription, https://www.globalsecurity.org/military/world/russia/personnel-draft.htm, Zugriff 20.3.2020

?        Jamestown Foundation (10.4.2018): 2018 Spring Draft Highlights Russia’s Demographic Decline, Eurasia Daily Monitor Volume: 15 Issue: 54, https://www.ecoi.net/de/dokument/1429303.html, Zugriff 20.3.2020

?        Jamestown Fou

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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