Entscheidungsdatum
08.07.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
G308 2206175-1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Angelika PENNITZ als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Irak, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.08.2018, Zahl: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.11.2020, zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerden gegen die Spruchpunkte IV., V. und VII. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben, diese werden behoben und festgestellt, dass gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
III. XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der bereits volljährige Beschwerdeführer reiste gemeinsam mit seiner Mutter, seinen beiden Schwestern, seinem Bruder, einer Tante sowie einem Onkel mütterlicherseits illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 01.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 stellte.
2. Am 01.11.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers zu seinem Antrag auf internationalen Schutz statt.
3. Die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Graz, fand am 24.10.2017 statt.
4. Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes vom 16.08.2018 wurde der gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen, dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ihm eine Frist zur freiwilligen Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 PFG eingeräumt (Spruchpunkt VI.).
5. Mit dem am 17.09.2018 beim Bundesamt einlangenden Schriftsatz der damaligen bevollmächtigten Rechtsvertretung des Beschwerdeführers vom 14.09.2018 erhoben dieser, sowie unter einem seine Mutter, Geschwister, Tante und Onkel jeweils das Rechtsmittel der Beschwerde gegen die sie jeweils betreffenden Bescheide des Bundesamtes. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen, den angefochtenen Bescheid aufheben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten oder allenfalls des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen, in eventu den Bescheid beheben und das Verfahren an das Bundesamt zurückverweisen; in eventu feststellen, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist sowie die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung (plus) gemäß § 55 AsylG vorliegen; in eventu feststellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG vorliegen. Unter einem wurde das Zeugnis des Beschwerdeführers über den von ihm mit 16.02.2018 bestandenen Pflichtschulabschluss vorgelegt.
6. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 21.09.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
7. Am 20.11.2018 langte eine Beschwerdeergänzung beim Bundesverwaltungsgericht ein. Darin wurde (konkret den Beschwerdeführer betreffend) ausgeführt, es werde unter anderem ein vom Gericht in Bagdad gegen ihn und seine Mutter verhängtes Ausreiseverbot, ausgestellt am 29.02.2014, nachgereicht, da ihnen eine regierungskritische Haltung unterstellt werde. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich der Beschwerdeführer mit seiner Familie bereits in der Türkei befunden. Darüber hinaus wurden noch ein irakisches Abwesenheitsurteil vom 13.01.2015 und ein Haftbefehl vom 11.09.2013, jeweils betreffend die Mutter des Beschwerdeführers, eine Sterbeurkunde seines 2006 im Alter von sechs Jahren getöteten Bruders sowie eine Heiratsurkunde seiner Schwester, welche in ihrer Abwesenheit vom im Irak verbliebenen Vater zwangsverheiratet worden sei, vorgelegt.
8. Am 30.09.2019 langten beim Bundesverwaltungsgericht seitens des Bundesamtes Mitteilungen über die Leistungsänderungen beim Beschwerdeführer und seiner Familie (Abmeldung per 30.09.2019 aus der Grundversorgung wegen mangelnder Hilfsbedürftigkeit) ein.
9. Mit Beschwerdenachreichung vom 04.11.2020 wurde dem Bundesverwaltungsgericht die Verständigung von der Behörde von der Anklageerhebung vom 28.10.2020 über den Beschwerdeführer wegen § 83 StGB übermittelt.
10. Zugleich mit der Ladung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.11.2020 zur mündlichen Beschwerdeverhandlung am 27.11.2020 wurden ihm Länderberichte zum Herkunftsland Irak, konkret das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 17.03.2020, eine Kurzinformation der Staatendokumentation vom 27.03.2020 zum Nahen Osten – COVID-19 Lage, ein Online-Zeitungsbericht vom 14.04.2020 über die COVID-19-Lage im Irak (china.org.cn) sowie ein OCHA-Bericht zur COVID-19 Lage im Irak vom 09.04.2020 übermittelt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu im Rahmen der mündlichen Verhandlung eine Stellungnahme abzugeben.
11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 27.11.2020 eine mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, seine damalige bevollmächtigte Rechtsvertretung, eine Dolmetscherin für die Sprache Arabisch sowie zwei Vertreter des Bundesamtes teilnahmen.
Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde seitens des Beschwerdeführers neben einer mit 27.11.2020 datierten Stellungnahme zu den vorab übermittelten Länderberichten auch diverse Integrationsunterlagen, darunter ein Zeugnis des ÖIF über eine absolvierte Deutschprüfung auf Niveau B1 sowie diverse Semesterzeugnisse eines Gymnasiums für Berufstätige für die Schuljahre 2015/2016, 2016/2017, 2017/2018, 2018/2019, 2019/2020, ein weiters Mal sein Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung sowie ein Unterstützungsschreiben eines Kinder- und Jugendzentrums vom 23.10.2017 vorgelegt.
Die Verkündung der Entscheidung entfiel gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG.
12. Das Bundesverwaltungsgericht beauftragte im Anschluss an die mündliche Verhandlung die schriftliche Übersetzung der im Verfahren auf Arabisch vorgelegten Dokumente.
Die schriftliche Übersetzung der vorgelegten arabischen Dokumente langte beim Bundesverwaltungsgericht am 09.12.2020 ein.
13. Daraufhin richtete das Bundesverwaltungsgericht am 02.02.2021 eine Anfrage an die BFA-Staatendokumentation zu Ausreiseverboten im Irak und Konsequenzen bei Nichteinhaltung im Falle einer Rückkehr in den Irak.
Die Anfragebeantwortung vom 15.02.2021 langte am 15.02.2021 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
14. Die Anfragebeantwortung vom 15.02.2021 wurde sowohl dem Beschwerdeführer als auch der belangten Behörde mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 06.04.2021 zur Stellungnahme im Rahmen des Parteiengehörs innerhalb einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung der Verständigung übermittelt.
15. Per E-Mail vom 07.04.2021 gab die belangte Behörde bekannt, auf eine Stellungnahme zur Anfragebeantwortung zu verzichten.
16. Am 22.04.2021 langte die Stellungnahme des Beschwerdeführers mit Schriftsatz seiner bevollmächtigten Rechtsvertretung vom selben Tag beim Bundesverwaltungsgericht ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Er ist ledig und hat keine Kinder. Seine Muttersprache ist Arabisch (vgl. Erstbefragung vom 01.11.2015, AS 1 ff; Kopie irakischer Reisepass, AS 71 ff; Niederschrift Bundesamt vom 24.10.2017, AS 81 ff; Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020, S 3 ff).
Geboren und aufgewachsen ist der Beschwerdeführer in Bagdad, wo er auch sechs Jahre die Grundschule und knapp drei Jahre eine Hauptschule besuchte, diese jedoch wegen der Ausreise in die Türkei nicht abschloss. Auch in der Türkei besuchte der Beschwerdeführer die Schule, erreicht dort aber auch keinen Abschluss. Sowohl im Irak als auch in der Türkei kam die Mutter des Beschwerdeführers für seinen Unterhalt auf, er ging weder im Irak noch in der Türkei einer Erwerbstätigkeit nach. Der Vater des Beschwerdeführers lebt in Basra im Irak. Der Beschwerdeführer hat zu ihm seit der Scheidung seiner Eltern vor über zehn Jahren (2010) keinen Kontakt mehr. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer keine näheren verwandtschaftlichen Bezüge im Irak, zu welchen aufrechter Kontakt bestünde. Mit einigen Freunden im Irak kommuniziert er über soziale Medien wie Facebook und über WhatsApp (vgl. Erstbefragung vom 01.11.2015, AS 1 ff; Niederschrift Bundesamt vom 24.10.2017, AS 85 ff; Beschwerdevorbringen, AS 254 f; Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020, S 5 ff).
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Es wird festgestellt, dass er an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung im Endstadium leidet, die im Irak nicht behandelbar wäre (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020, S 3).
Der Beschwerdeführer reiste am 10.06.2013 mit einem Touristen-Visum für 30 Tage legal von Bagdad mit dem PKW über Kurdistan in die Türkei aus. Ihn begleiteten dabei seinen Angaben nach seine Mutter, seine zwei Schwestern, sein Bruder, ein Onkel, eine Tante mütterlicherseits, die Kinder der sich bereits in Österreich befindlichen Tante und die Großmutter. In der Türkei hielten sie sich etwa zweieinhalb Jahre lang auf, bis der Beschwerdeführer und seine Familie zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt etwa Mitte Oktober 2015 von der Türkei illegal und schlepperunterstützt mit einem Schlauchboot nach Griechenland reisten, am 26.10.2015 in Griechenland ankamen und von dort aus weiter mit dem allgemeinen Flüchtlingsstrom bis nach Österreich reisten, wo der Beschwerdeführer (und auch seine Familienangehörigen) am 01.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte (vgl. Ausreisestempel und türkisches Visum im Reisepass des Beschwerdeführers, AS 77; Erstbefragung vom 01.11.2015, AS 5 ff; Niederschrift Bundesamt vom 24.10.2017, AS 85 ff; Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020, S 5 ff).
Jeweils mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.08.2018 wurden auch die Anträge auf internationalen Schutz
1. der Mutter XXXX , geboren am XXXX , StA. Irak, Zahl: XXXX ,
2. der Schwester XXXX , geboren am XXXX , StA. Irak, Zahl: XXXX ,
3. des Bruders XXXX , geboren am XXXX , StA. Irak, Zahl: XXXX ,
4. der minderjährigen Schwester XXXX , geboren am XXXX , StA. Irak, Zahl: XXXX ,
5. der Tante mütterlicherseits, XXXX , geboren am XXXX , StA. Irak, Zahl: XXXX , sowie
6. des Onkels mütterlicherseits, XXXX , geboren am XXXX , StA. Irak, Zahl: XXXX
jeweils vollinhaltlich abgewiesen. Dagegen erhoben diese allesamt ebenfalls das Rechtsmittel der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.
Mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 25.06.2021 wurden die Beschwerden der Mutter des Beschwerdeführers (Zahl G304 2206209-1), der älteren Schwester des Beschwerdeführers (Zahl G304 2206174-1), des Bruders des Beschwerdeführers (Zahl G304 2206208-1), der minderjährigen Schwester des Beschwerdeführers (Zahl G304 2206172-1) und der Tante des Beschwerdeführers (Zahl G304 2206185-1) hinsichtlich der Abweisung ihrer Anträge auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch der subsidiär Schutzberechtigten jeweils als unbegründet abgewiesen, jedoch die Rückkehrentscheidung jeweils für auf Dauer unzulässig erklärt und ihnen jeweils ein Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 AsylG für die Dauer von zwölf Monaten erteilt. Die Parteien verzichteten zudem jeweils auf eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof und eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (vgl. Einsicht in das elektronische Aktenverwaltungssystem des Bundesverwaltungsgerichtes am 29.06.2021; aktenkundiges Verhandlungsprotokoll zu den Zahlen G304 2206209-1, G304 2206174-1, G304 2206208-1, G304 2206172-1, G304 2206185-1 vom 25.06.2021 samt mündlicher Verkündung; Fremdenregisterauszüge sowie Auszüge aus dem Zentralen Melderegister der Familienangehörigen des Beschwerdeführers vom 14.01.2021 bzw. 18.01.2021).
Das Beschwerdeverfahren des Onkels des Beschwerdeführers ist beim Bundesverwaltungsgericht zur Zahl G308 2206188-1 anhängig und zum Entscheidungszeitpunkt des Gerichtes im gegenständlichen Fall noch nicht entschieden (vgl. Einsicht in das elektronische Aktenverwaltungssystem des Bundesverwaltungsgerichtes am 29.06.2021; Fremdenregisterauszug sowie Auszug aus dem Zentralen Melderegister der Familienangehörigen des Beschwerdeführers vom 14.01.2021 bzw. 18.01.2021).
Eine weitere Tante des Beschwerdeführers, XXXX (geboren am XXXX ), reiste bereits vor dem Beschwerdeführer und den mit ihm mitreisenden Familienangehörigen in das Bundesgebiet ein. Ihr und ihren vier Kindern wurde mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.05.2017 jeweils der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Die Beschwerden gegen die Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten zogen sie zurück, sodass die diesbezüglichen Beschwerdeverfahren mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.08.2018, Zahlen: L516 2161597-1/6E, L516 2161587-1/6E, L516 2161585-1/6E, L516 2161591-1/7E und L516 2161595-1/7E eingestellt wurden. Die befristete Aufenthaltsberechtigung der Tante des Beschwerdeführers wurde zuletzt am 08.05.2020 verlängert und gilt zumindest bis 15.05.2022. Diese Tante und deren Kinder leben in XXXX , sowie auch der Onkel des Beschwerdeführers und besteht zu diesen zwar Kontakt, aber kein Abhängigkeits- oder ein besonderes Naheverhältnis (vgl. Fremdenregisterauszug der Tante vom 18.01.2021; aktenkundiger Beschluss des BVwG vom 07.08.2018; Auszug aus dem elektronischen Verfahrensakt des BVwG vom 14.01.2021; Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020, S 6).
Der Beschwerdeführer hält sich zumindest seit seiner Asylantragstellung am 01.11.2015 ununterbrochen im Bundesgebiet auf und weist seit 05.11.2015 durchgehend Hauptwohnsitzmeldungen auf. Er lebt seither immer im gemeinsamen Haushalt mit seiner älteren Schwester. Seit 01.02.2017 leben zudem auch seine Mutter, seine jüngere Schwester und der Bruder des Beschwerdeführers mit diesem im gemeinsamen Haushalt in Österreich (vgl. Auszüge aus dem Zentralen Melderegister vom 10.05.2021, 14.01.2021, 18.01.2021 und 29.06.2021).
Die mit dem Beschwerdeführer ebenfalls mitgereiste Großmutter ist inzwischen verstorben (vgl. Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020, S 10). Die Tante L. lebt in XXXX , aber nicht im gemeinsamen Haushalt mit dem Beschwerdeführer, seiner Mutter und seinen Geschwistern (vgl. Auszüge aus dem Zentralen Melderegister vom 14.01.2021, 18.01.2021 bzw. 29.06.2021).
Der Beschwerdeführer bezog von 05.11.2015 bis 01.09.2019 vollständig Leistungen aus der Grundversorgung. Zudem bezog er noch bis 30.09.2019 Leistungen der Grundversorgung zur Unterbringung. Nach einer Unterbrechung war er von 07.04.2020 bis 02.05.2020 vorübergehend über die Grundversorgung krankenversichert, seit 07.04.2020 bis zum Entscheidungszeitpunkt bezieht der Beschwerdeführer aus der Grundversorgung ausschließlich Verpflegungsgeld für Erwachsene in Höhe von monatlich EUR 200,00. Er ging bisher keiner legalen sozialversicherten Erwerbstätigkeit in Österreich nach und ist aktuell auch nicht krankenversichert. Er kauft auf Willhaben.at Konsolen, die er repariert oder weiterverkauft. Die Mutter des Beschwerdeführers ist auch in Österreich als selbstständig als Friseurin tätig (vgl. Grundversorgungdaten vom 29.06.2021 und Sozialversicherungsdaten vom 10.05.2021 sowie 29.06.2021; Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020, S 6).
Der Beschwerdeführer hat in Österreich bereits am 16.02.2018 nach Absolvierung eines entsprechenden Kurses von 27.02.2017 bis 09.02.2018 seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt. Seither besucht er das Abendgymnasium für Berufstätige, welches er in Kürze abschließen wird. Er verfügt über eine ÖIF-Sprachprüfung Deutsch auf Niveau B1 seit 15.10.2016. Der Beschwerdeführer hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht die an ihn gerichteten Fragen überwiegend selbstständig auf Deutsch beantwortet. Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer über sehr gute Deutschkenntnisse verfügt. Darüber hinaus engagierte es sich zeitweise zwischen 2015 und 2017 in einem Jugendzentrum und hat einen, seiner Aufenthaltsdauer entsprechenden, Freundeskreis in Österreich (vgl. Bestätigung über Kurserfolg vom 02.10.2017, AS 59, Pflichtschul-Abschlussprüfungs-Zeugnis, AS 203 ff; ÖIF-Prüfungszeugnis vom 15.10.2016, AS 63 ff; Konvolut aktenkundiger Semesterzeugnisse und Schulbesuchsbestätigungen des Abendgymnasiums für die Schuljahre 2015/2016, 2016/2017, 2017/2018, 2018/2019, 2019/2020, teilweise AS 45 ff; Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020 und Niederschrift Bundesamt vom 24.10.2018, AS 95; Unterstützungsschreiben vom 23.10.2017, AS 67).
Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (vgl. Strafregisterauszug vom 29.06.2021).
Es wird festgestellt, dass beim Beschwerdeführer eine berücksichtigungswürdige Integration in sprachlicher, gesellschaftlicher und auch beruflicher Hinsicht vorliegt.
Der Beschwerdeführer ist darüber hinaus weder im Irak noch einem anderen Drittland vorbestraft, er war nie politisch tätig oder Mitglied einer politischen Partei und er hatte keine Probleme aus Gründen seiner Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit. Er hatte weiters keinerlei Probleme mit Behörden oder Gerichten, wurde niemals festgenommen oder verhaftet (vgl. insbesondere Niederschrift Bundesamt vom 24.10.2017, AS 89 ff; Verhandlungsprotokoll vom 27.11.2020, S 7 ff).
Ein konkreter Anlass oder Vorfall für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist.
Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:
Zur allgemeinen Lage im Irak bezüglich der COVID-19-Pandemie werden die folgenden, dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes entsprechenden, aktuellen Länderberichte auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum Gegenstand dieses Erkenntnisses erhoben. Das Bundesverwaltungsgericht trifft zur Lage hinsichtlich der COVID-19 Pandemie im Irak nachfolgende Feststellungen:
Mit Stand 28.06.2021 gab es im Irak 1.325.700 bestätigte COVID-19 Erkrankungen, 17.091 Todesfälle und wurden zum Stand 20.06.2021 805.363 Impfdosen verabreicht (vgl. https://covid19.who.int/region/emro/country/iq, Zugriff am 29.06.2021).
Mit Stand 21.06.2021 ergibt sich aus der Zusammenfassung der WKO (https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-situation-im-irak.html, Zugriff am 30.06.2021), dass im Irak das nationale Impfprogramm gegen das Corona-Virus seit 30.03.2021 läuft, die erste Dosis des COVID-19 Impfstoffes als Voraussetzung für die Ausnahme der nächtlichen Ausgangssperren an Freitagen und Samstagen gilt und der Zentralirak das Ein- und Ausreiseverbot für 21 Länder, die Autonome Region Kurdistan für 22 Länder, unter anderem jeweils Österreich, aufgehoben hat.
Alle Landgrenzen sind bis auf weiteres geschlossen. Die internationalen Flughäfen Bagdad, Najaf und Basra sind für kommerzielle Linienflüge geöffnet. Reisen in den Iran sind aus dem Irak und der Autonomen Region Kurdistan wieder gestattet. Bei einer Einreise in den Zentralirak gibt es Erleichterungen für Geimpfte und Getestete, nicht jedoch für Genesene; Passagiere, die in den Irak einreisen wollen, müssen maximal 72 Stunden vor Abflug über einen negativen COVID-19 Test verfügen. Solche Passagiere müssen am Flughafen keinen Test mehr machen. Alle Passagiere, die ohne PCR-Test ankommen, müssen sich dem Test des medizinischen Teams des Flughafens unterziehen und die Kosten dafür (USD 50,00) tragen. Flüge zwischen Irak und Indien sind bis auf Weiteres eingestellt worden. Dabei sind Diplomaten, offizielle Regierungsdelegationen, internationale Organisationen und Experten, die an Serviceprojekten arbeiten, vom Einreiseverbot bei negativem PCR-Test ausgenommen.
Es gilt im Zentralirak eine nächtliche Ausgangssperre an Freitagen und Samstagen von 21:00 – 05:00. Geimpfte Personen (erste Dosis) dürfen sich an Wochenenden während der nächtlichen Ausgangssperre frei bewegen. Parks, Fitnesscenter, Kinos, Schwimmbäder, Veranstaltungsräume, Einkaufszentren. Restaurants, Cafés und Bars sind unter Auflage des Gesundheitskomitees geöffnet. Kindergärten, Schulen und Universitäten sind wieder geöffnet. Ab 15.02. sind Veranstaltungen und Feierlichkeiten jeglicher Art und Trauerversammlungen bis auf weiteres verboten. Das Versammlungsverbot bleibt aufrecht. Die irakische Regierung beschränkt das Reisen zwischen Provinzen nicht, aber die Einreise in den Irak zu touristischen und religiösen Zwecken ist verboten. Ministerien arbeiten wieder mit voller Kapazität. Ab dem 20.04. wird nur geimpften Personen oder Personen mit einem negativen PCR Test in Ministerien und Regierungsbehörden der Zutritt erlaubt. Moscheen sind geöffnet. Taxis, dürfen nicht mehr als 3 Personen (inklusive Fahrer) transportieren.
Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) widmet USD 22 Mio. des Stabilitätsfonds für Infrastruktur Maßnahmen gegen COVID-19. Geschäftsmänner aus Najaf spendeten der Regierung IQD 350 Mio. zur Anschaffung von Gütern des medizinischen Bedarfs.
Zur allgemeinen Lage im Irak werden darüber hinaus die vom Bundesverwaltungsgericht gemeinsam mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführten Länderberichte, nämlich ein Konvolut aus fallbezogen relevanten aktueller Länderberichte samt den angeführten Quellen (mit Stand 17.03.2020) sowie die vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte und dem Beschwerdeführer mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 06.04.2021 übermittelte Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 15.02.2021 auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand des Erkenntnisses erhoben.
Daraus ergibt sich auszugsweise:
Aus den aktuellen Länderberichten der Staatendokumentation vom 17.03.2020 ergibt sich auszugsweise:
„[…] 1. Politische Lage
Letzte Änderung: 17.3.2020
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018) und es wurde ein neues politisches System im Irak eingeführt (Fanack 2.9.2019). Gemäß der Verfassung vom 15.10.2005 ist der Irak ein islamischer, demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.1.2019; vgl. GIZ 1.2020a; Fanack 2.9.2019), der aus 18 Gouvernements (muhafaz?t) besteht (Fanack 2.9.2019). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Kurdische Region im Irak (KRI) ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Gouvernements Dohuk, Erbil und Sulaymaniyah. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung (Kurdistan Regional Government, KRG), verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 2.9.2019). Beherrschende Themenblöcke der irakischen Innenpolitik sind Sicherheit, Wiederaufbau und Grundversorgung, Korruptionsbekämpfung und Ressourcenverteilung, die systemisch miteinander verknüpft sind (GIZ 1.2020a).
An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuww?b, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat) für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Er genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt, mit denen er den Präsidialrat bildet, welcher einstimmige Entscheidungen trifft (Fanack 2.9.2019).
Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (Fanack 2.9.2019; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik und ist auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).
Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 2.9.2019). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 28.2.2020; vgl. GIZ 1.2020a). Neun Sitze werden den Minderheiten zur Verfügung gestellt, die festgeschriebene Mindest-Frauenquote im Parlament liegt bei 25% (GIZ 1.2020a).
Nach einem ethnisch-konfessionellen System (Muhasasa) teilen sich die drei größten Bevölkerungsgruppen des Irak - Schiiten, Sunniten und Kurden - die Macht durch die Verteilung der Ämter des Präsidenten, des Premierministers und des Parlamentspräsidenten (AW 4.12.2019). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnit, der Premierminister ist ein Schiit und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018). Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.1.2019).
Am 12.5.2018 fanden im Irak Parlamentswahlen statt, die fünfte landesweite Wahl seit der Absetzung Saddam Husseins im Jahr 2003. Die Wahl war durch eine historisch niedrige Wahlbeteiligung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet, wobei es weniger Sicherheitsvorfälle gab als bei den Wahlen in den Vorjahren (ISW 24.5.2018). Aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen trat das Parlament erst Anfang September zusammen (ZO 2.10.2018).
Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih von Patriotischen Union Kurdistans (PUK) zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018; vgl. ZO 2.10.2018; KAS 5.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (DW 2.10.2018). Nach langen Verhandlungsprozessen und zahlreichen Protesten wurden im Juni 2019 die letzten und sicherheitsrelevanten Ressorts Innere, Justiz und Verteidigung besetzt (GIZ 1.2020a).
Im November 2019 trat Premierminister Adel Abdul Mahdi als Folge der seit dem 1.10.2019 anhaltenden Massenproteste gegen die Korruption, den sinkenden Lebensstandard und den ausländischen Einfluss im Land, insbesondere durch den Iran, aber auch durch die Vereinigten Staaten (RFE/RL 24.12.2019; vgl. RFE/RL 6.2.2020). Präsident Barham Salih ernannte am 1.2.2020 Muhammad Tawfiq Allawi zum neuen Premierminister (RFE/RL 6.2.2020). Dieser scheiterte mit der Regierungsbildung und verkündete seinen Rücktritt (Standard 2.3.2020; vgl. Reuters 1.3.2020). Am 17.3.2020 wurde der als sekulär geltende Adnan al-Zurfi, ehemaliger Gouverneur von Najaf als neuer Premierminister designiert (Reuters 17.3.2020).
Im Dezember 2019 hat das irakische Parlament eine der Schlüsselforderung der Demonstranten umgesetzt und einem neuen Wahlgesetz zugestimmt (RFE/RL 24.12.2019; vgl. NYT 24.12.2019). Das neue Wahlgesetz sieht vor, dass zukünftig für Einzelpersonen statt für Parteienlisten gestimmt werden soll. Hierzu soll der Irak in Wahlbezirke eingeteilt werden. Unklar ist jedoch für diese Einteilung, wie viele Menschen in den jeweiligen Gebieten leben, da es seit über 20 Jahren keinen Zensus gegeben hat (NYT 24.12.2019).
Die nächsten Wahlen im Irak sind die Provinzwahlen am 20.4.2020, wobei es sich um die zweite Verschiebung des ursprünglichen Wahltermins vom 22.12.2018 handelt. Es ist unklar, ob die Wahl in allen Gouvernements des Irak stattfinden wird, insbesondere in jenen, die noch mit der Rückkehr von IDPs und dem Wiederaufbau der Infrastruktur zu kämpfen haben. Die irakischen Provinzwahlen umfassen nicht die Gouvernements Erbil, Sulaymaniyah, Duhok und Halabja, die alle Teil der KRI sind, die von ihrer eigenen Wahlkommission festgelegte Provinz- und Kommunalwahlen durchführt (Kurdistan24 17.6.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker, https://www.aljazeera.com/news/2018/09/deadlock-broken-iraqi-parliament-elects-speaker-180915115434675.html, Zugriff 13.3.2020
- AW - Arab Weekly, The (4.12.2019): Confessional politics ensured Iran’s colonisation of Iraq, https://thearabweekly.com/confessional-politics-ensured-irans-colonisation-iraq, Zugriff 13.3.2020
- CIA - Central Intelligence Agency (28.2.2020): The World Factbook – Iraq, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/iz.html, Zugriff 13.3.2020
- DW - Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salih-as-new-president/a-45733912, Zugriff 13.3.2020
- Fanack (2.9.2019): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and-politics-of-iraq, Zugriff 13.3.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/, Zugriff 13.3.2020
- ISW - Institute for the Study of War (24.5.2018): Breaking Down Iraq's Election Results, http://www.understandingwar.org/backgrounder/breaking-down-iraqs-election-results, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (5.10.2018): Politische Weichenstellungen in Bagdad und Wahlen in der Autonomen Region Kurdistan, https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=e646d401-329d-97e0-6217-69f08dbc782a&groupId=252038, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 13.3.2020
- Kurdistan24 (17.6.2019): Iraq's electoral commission postpones local elections until April 2020, https://www.kurdistan24.net/en/news/80728bf3-eb95-4e76-a30f-345cf9a48d3c, Zugriff 13.3.2020
- NYT - The New York Times (24.12.2019): Iraq’s New Election Law Draws Much Criticism and Few Cheers, https://www.nytimes.com/2019/12/24/world/middleeast/iraq-election-law.html, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (17.3.2020): Little-known ex-governor Zurfi named as new Iraqi prime minister-designate, https://www.reuters.com/article/us-iraq-pm-designate/iraqi-president-salih-names-adnan-al-zurfi-as-new-prime-minister-designate-state-tv-says-idUSKBN21419J?il=0, Zugriff 17.3.2020
- Reuters (1.3.2020): Iraq's Allawi withdraws his candidacy for prime minister post: tweet, https://www.reuters.com/article/us-iraq-politics-primeminister/iraqs-allawi-withdraws-his-candidacy-for-prime-minister-post-tweet-idUSKBN20O2AD, Zugriff 13.3.2020
- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (6.2.2020): Iraqi Protesters Clash With Sadr Backers In Deadly Najaf Standoff, https://www.ecoi.net/en/document/2024704.html, Zugriff 13.3.2020
- RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (24.12.2019): Iraqi Parliament Approves New Election Law, https://www.ecoi.net/de/dokument/2021836.html, Zugriff 13.3.2020
- RoI - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html, Zugriff 13.3.2020
- Standard, Der (2.3.2020): Designierter irakischer Premier Allawi bei Regierungsbildung gescheitert, https://www.derstandard.at/story/2000115222708/designierter-irakischer-premier-allawi-bei-regierungsbildung-gescheitert, Zugriff 13.3.2020
- ZO - Zeit Online (2.10.2018): Irak hat neuen Präsidenten gewählt, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-10/barham-salih-irak-praesident-wahl, Zugriff 13.3.2020
1.1 Parteienlandschaft
Letzte Änderung: 17.3.2020
Laut einer Statistik der irakischen Wahlkommission beläuft sich die Zahl der bei ihr registrierten politischen Parteien und politischen Bewegungen auf über 200. 85% davon, national und regional, haben religiös-konfessionellen Charakter (RCRSS 24.2.2019).
Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da‘wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (eng. SCIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander – eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).
Die Gründung von Parteien, die mit militärischen oder paramilitärischen Organisationen in Verbindung stehen ist verboten (RCRSS 24.2.2019) und laut Executive Order 91, die im Februar 2016 vom damaligen Premierminister Abadi erlassen wurde, sind Angehörige der Volksmobilisierungskräfte (PMF) von politischer Betätigung ausgeschlossen (Wilson Center 27.4.2018). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018). Im Jahr 2018 traten über 500 Milizionäre und mit Milizen verbundene Politiker, viele davon mit einem Naheverhältnis zum Iran, bei den Wahlen an (Wilson Center 27.4.2018).
Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikte zwischen Kräften, die auf Gouvernements-Ebene agieren, und solchen, die auf Bundesebene agieren, gekennzeichnet. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018).
Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).
Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon (ein Bündnis aus der Sadr-Bewegung und der Kommunistischen Partei) unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fatah-Koalition des Führers der Badr-Milizen, Hadi al-Amiri und der Nasr-Allianz unter Haider al-Abadi und der Dawlat al Qanoon-Allianz des ehemaligen Regierungschefs Maliki (LSE 7.2018).
[Grafik gelöscht, Anm]
Quellen:
- CGP - Center for Global Policy (4.2018): The Role of Iraq‘s Shiite Militias in the 2018 Elections, https://www.cgpolicy.org/wp-content/uploads/2018/04/Mustafa-Gurbuz-Policy-Brief.pdf, Zugriff 13.3.2020
- KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www.kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30.pdf?180501131459, Zugriff 13.3.2020
- LSE - London School of Economics and Political Science (7.2018): The 2018 Iraqi Federal Elections: A Population in Transition?, http://eprints.lse.ac.uk/89698/7/MEC_Iraqi-elections_Report_2018.pdf, Zugriff 13.3.2020
- RCRSS - Rawabet Center for Research and Strategic Studies (24.2.2019): Law of political parties in Iraq: proposals for amendment, https://rawabetcenter.com/en/?p=6954, Zugriff 13.3.2020
- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq, Zugriff 13.3.2020
[…]
2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 17.3.2020
Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen, territorialen Sieg über den Islamischen Staat (IS) (Reuters 9.12.2017; vgl. AI 26.2.2019). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem verbessert (FH 4.3.2020). Ende 2018 befanden sich die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) in der nominellen Kontrolle über alle vom IS befreiten Gebiete (USDOS 1.11.2019).
Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.1.2019).
In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.1.2019). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (FIS 6.2.2018). Die Zahl der Entführungen gegen Lösegeld zugunsten extremistischer Gruppen wie dem IS oder krimineller Banden ist zwischenzeitlich zurückgegangen (Diyaruna 5.2.2019), aber UNAMI berichtet, dass seit Beginn der Massenproteste vom 1.10.2019 fast täglich Demonstranten in Bagdad und im gesamten Süden des Irak verschwunden sind. Die Entführer werden als „Milizionäre“, „bewaffnete Organisationen“ und „Kriminelle“ bezeichnet (New Arab 12.12.2019).
Die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA stellen einen zusätzlichen, die innere Stabilität des Irak gefährdenden Einfluss dar (ACLED 2.10.2019a). Nach einem Angriff auf eine Basis der Volksmobilisierungskräfte (PMF) in Anbar, am 25. August (Al Jazeera 25.8.2019), erhob der irakische Premierminister Mahdi Ende September erstmals offiziell Anschuldigungen gegen Israel, für eine Reihe von Angriffen auf PMF-Basen seit Juli 2019 verantwortlich zu sein (ACLED 2.10.2019b; vgl. Reuters 30.9.2019). Raketeneinschläge in der Grünen Zone in Bagdad, nahe der US-amerikanischen Botschaft am 23. September 2019, werden andererseits pro-iranischen Milizen zugeschrieben, und im Zusammenhang mit den Spannungen zwischen den USA und dem Iran gesehen (ACLED 2.10.2019b; vgl. Al Jazeera 24.9.2019; Joel Wing 16.10.2019).
Als Reaktion auf die Ermordung des stellvertretenden Leiters der PMF-Kommission, Abu Mahdi Al-Muhandis, sowie des Kommandeurs der Quds-Einheiten des Korps der Islamischen Revolutionsgarden des Iran, Generalmajor Qassem Soleimani, durch einen Drohnenangriff der USA am 3.1.2020 (Al Monitor 23.2.2020; vgl. MEMO 21.2.2020; Joel Wing 15.1.2020) wurden mehrere US-Stützpunkte durch den Iran und PMF-Milizen mit Raketen und Mörsern beschossen (Joel Wing 15.1.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019b): Regional Overview – Middle East 2 October 2019, https://www.acleddata.com/2019/10/02/regional-overview-middle-east-2-october-2019/, Zugriff 13.3.2020
- AI - Amnesty International (26.2.2019): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2018 - Iraq [MDE 14/9901/2019], https://www.ecoi.net/en/file/local/2003674/MDE1499012019ENGLISH.pdf, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (24.9.2019): Two rockets 'hit' near US embassy in Baghdad's Green Zone, https://www.aljazeera.com/news/2019/09/rockets-hit-embassy-baghdad-green-zone-190924052551906.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Jazeera (25.8.2019): Iraq paramilitary: Israel behind drone attack near Syria border, https://www.aljazeera.com/news/2019/08/iraq-paramilitary-israel-drone-attack-syria-border-190825184711737.html, Zugriff 13.3.2020
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html, Zugriff 13.3.2020
- Diyaruna (5.2.2019): Baghdad sees steep decline in kidnappings, https://diyaruna.com/en_GB/articles/cnmi_di/features/2019/02/05/feature-02, Zugriff 13.3.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- FIS - Finnish Immigration Service (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (15.1.2020): Pro-Iran Hashd Continue Attacks Upon US Interests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/pro-iran-hashd-continue-attacks-upon-us.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor to Al-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-head-as-successor-to-al-muhandis/, Zugriff 13.3.2020
- New Arab, The (12.12.2019): 'We are not safe': UN urges accountability over spate of kidnappings, assassinations in Iraq, https://www.alaraby.co.uk/english/news/2019/12/11/un-urges-accountability-over-spate-of-iraq-kidnappings-assassinations, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (30.9.2019): Iraqi PM says Israel is responsible for attacks on Iraqi militias: Al Jazeera, https://www.reuters.com/article/us-iraq-security/iraqi-pm-says-israel-is-responsible-for-attacks-on-iraqi-militias-al-jazeera-idUSKBN1WF1E5, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020
2.1 Islamischer Staat (IS)
Letzte Änderung: 17.3.2020
Seit der Verkündigung des territorialen Sieges des Irak über den Islamischen Staat (IS) durch den damaligen Premierminister al-Abadi im Dezember 2017 (USCIRF 4.2019; vgl Reuters 9.12.2017) hat sich der IS in eine Aufstandsbewegung gewandelt (Military Times 7.7.2019) und kehrte zu Untergrund-Taktiken zurück (USDOS 1.11.2019; vgl. BBC 23.12.2019; FH 4.3.2020). Zahlreiche Berichte erwähnen Umstrukturierungsbestrebungen des IS sowie eine Mobilisierung von Schläferzellen (Portal 9.10.2019) und einen neuerlichen Machtzuwachs im Norden des Landes (PGN 11.1.2020).
Der IS unterhält ein Netz von Zellen, die sich auf die Gouvernements Ninewa, Salah ad-Din, Kirkuk und Diyala konzentrieren, während seine Taktik IED-Angriffe auf Sicherheitspersonal, Brandstiftung auf landwirtschaftlichen Flächen und Erpressung von Einheimischen umfasst (Garda 3.3.2020). Der IS führt in vielen Landesteilen weiterhin kleinere bewaffnete Operationen, Attentate und Angriffe mit improvisierten Sprengkörpern (IED) durch (USCIRF 4.2019). Er stellt trotz seines Gebietsverlustes weiterhin eine Bedrohung für Sicherheitskräfte und Zivilisten, einschließlich Kinder, dar (UN General Assembly 30.7.2019). Er ist nach wie vor der Hauptverantwortliche für Übergriffe und Gräueltaten im Irak, insbesondere in den Gouvernements Anbar, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salah ad-Din (USDOS 11.3.2020; vgl. UN General Assembly 30.7.2019). Im Jahr 2019 war der IS insbesondere in abgelegenem, schwer zugänglichem Gelände aktiv, hauptsächlich in den Wüsten der Gouvernements Anbar und Ninewa sowie in den Hamrin-Bergen, die sich über die Gouvernements Kirkuk, Salah ad-Din und Diyala erstrecken (ACLED 2.10.2019a). Er ist nach wie vor dabei sich zu reorganisieren und versucht seine Kader und Führung zu erhalten (Joel Wing 16.10.2019).
Der IS setzt weiterhin auf Gewaltakte gegen Regierungziele sowie regierungstreue zivile Ziele, wie Polizisten, Stammesführer, Politiker, Dorfvorsteher und Regierungsmitarbeiter (ACLED 2.10.2019a; vgl. USDOS 1.11.2019), dies unter Einsatz von improvisierten Sprengkörpern (IEDs) und Schusswaffen sowie mittels gezielten Morden (USDOS 1.11.2019), sowie Brandstiftung. Die Übergriffe sollen Spannungen zwischen arabischen und kurdischen Gemeinschaften entfachen, die Wiederaufbaubemühungen der Regierung untergraben und soziale Spannungen verschärfen (ACLED 2.10.2019a).
Insbesondere in den beiden Gouvernements Diyala und Kirkuk scheint der IS im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen, wobei er die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte durch eine hohe Abfolge von Angriffen herausfordert (Joel Wing 16.10.2019). Der IS ist fast vollständig in ländliche und gebirgige Regionen zurückgedrängt, in denen es wenig Regierungspräsenz gibt, und wo er de facto die Kontrolle über einige Gebiete insbesondere im Süden von Kirkuk und im zentralen und nordöstlichen Diyala aufgebaut hat (Joel Wing 3.2.2020).
Im Mai 2019 hat der IS im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern einzuheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salah ad-Din - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und infolge lokaler Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung Al-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Im Jänner 2020 hat der IS eine Büffelherde in Baquba im Distrikt Khanaqin in Diyala abgeschlachtet, um eine Stadt einzuschüchtern (Joel Wing 3.2.2020; vgl. NINA 17.1.2020).
Mit Beginn der Massenproteste im Oktober 2019 stellte der IS seine Operation weitgehend ein, wie er es stets während Demonstrationen getan hat, trat aber mit dem Nachlassen der Proteste wieder in den Konflikt ein (Joel Wing 6.1.2020).
Quellen:
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (2.10.2019a): Mid-Year Update: Ten Conflicts to Worry About in 2019, https://www.acleddata.com/2019/08/07/mid-year-update-ten-conflicts-to-worry-about-in-2019/, Zugriff 13.3.2020
- ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (18.6.2019): Regional Overview – Middle East 18 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/18/regional-overview-middle-east-18-june-2019/, Zugriff 13.3.2020
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (27.5.2019): Briefing Notes 27. Mai 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010482/briefingnotes-kw22-2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- BBC News (23.12.2019): Isis in Iraq: Militants 'getting stronger again', https://www.bbc.com/news/world-middle-east-50850325, Zugriff 13.3.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020, Zugriff 13.3.2020
- Garda World (3.3.2020): Iraq Country Report, https://www.garda.com/crisis24/country-reports/iraq, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (16.10.2019): Islamic State Not Following Their Usual Pattern In Attacks In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/10/islamic-state-not-following-their-usual.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.6.2019): Islamic State’s Revenge Of The Levant Campaign In Full Swing, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/06/islamic-states-revenge-of-levant.html, Zugriff 13.3.2020
- Military Times (7.7.2019): Iraqi forces begin operation against ISIS along Syrian border, https://www.militarytimes.com/flashpoints/2019/07/07/iraqi-forces-begin-operation-against-isis-along-syrian-border/, Zugriff 13.3.2020
- NINA - National Iraqi News Agency (17.1.2020): ISIS Elements executed a herd of buffalo by firing bullets northeast of Baquba. http://ninanews.com/Website/News/Details?key=808154, Zugriff 13.3.2020
- PGN - Political Geography Now (11.1.2020): Iraq Control Map & Timeline - January 2020, https://www.polgeonow.com/2020/01/isis-iraq-control-map-2020.html, Zugriff 13.3.2020
- Portal, The (9.10.2019): Iraq launches a new process of “Will to Victory”, http://www.theportal-center.com/2019/10/iraq-launches-a-new-process-of-will-to-victory/, Zugriff 13.3.2020
- Reuters (9.12.2017): Iraq declares final victory over Islamic State, https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-iraq-islamicstate/iraq-declares-final-victory-over-islamic-state-idUSKBN1E30B9, Zugriff 13.3.2020
- UN General Assembly (30.7.2019): Children and armed conflict; Report of the Secretary-General [A/73/907–S/2019/509], https://www.ecoi.net/en/file/local/2013574/A_73_907_E.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USCIRF - US Commission on International Religious Freedom (4.2019): United States Commission on International Religious Freedom 2019 Annual Report; Country Reports: Tier 2 Countries: Iraq, https://www.ecoi.net/en/file/local/2008186/Tier2_IRAQ_2019.pdf, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html, Zugriff 13.3.2020
- USDOS - US Department of State (1.11.2019): Country Report on Terrorism 2018 - Chapter 1 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2019162.html, Zugriff 13.3.2020
2.2 Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen
Letzte Änderung: 17.3.2020
Vom Irak-Experten Joel Wing wurden im Lauf des Monats November 2019 für den Gesamtirak 55 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 47 Toten und 98 Verletzten verzeichnet, wobei vier Vorfälle, Raketenbeschuss einer Militärbasis und der „Grünen Zone“ in Bagdad (Anm.: ein geschütztes Areal im Zentrum Bagdads, das irakische Regierungsgebäude und internationale Auslandvertretungen beherbergt), pro-iranischen Volksmobilisierungskräften (PMF) zugeschrieben werden (Joel Wing 2.12.2019). Im Dezember 2019 waren es 120 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 134 Toten und 133 Verletzten, wobei sechs dieser Vorfälle pro-iranischen Gruppen zugeschrieben werden, die gegen US-Militärlager oder gegen die Grüne Zone gerichtet waren (Joel Wing 6.1.2020). Im Jänner 2020 wurden 91 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 53 Toten und 139 Verletzten verzeichnet, wobei zwölf Vorfälle, Raketen- und Mörserbeschuss, pro-iranischen PMF, bzw. dem Iran zugeschrieben werden, während der Islamische Staat (IS) für die übrigen 79 verantwortlich gemacht wird (Joel Wing 3.2.2020). Im Febraur 2020 waren es 85 Vorfälle, von denen drei auf pro-iranischen PMF zurückzuführen sind (Joel Wing 5.3.2020).
Der Rückgang an Vorfällen mit IS-Bezug Ende 2019 wird mit den Anti-Regierungsprotesten in Zusammenhang gesehen, da der IS bereits in den vorangegangenen Jahren seine Angriffe während solcher Proteste reduziert hat. Schließlich verstärkte der IS seine Angriffe wieder (Joel Wing 3.2.2020).
Die folgende Grafik von ACCORD zeigt im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im vierten Quartal 2019, nach Gouvernements aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 26.2.2020).
[Grafik gelöscht, Anm]
Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken) (IBC 2.2020).
[Grafik gelöscht, Anm]
Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle dokumentierte IBC im Oktober 2019 361 zivile Todesopfer im Irak, im November 274 und im Dezember 215, was jeweils einer Steigerung im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres entspricht. Im Jänner 2020 wurden 114 zivile Todesopfer verzeichnet, was diesen Trend im Vergleich zum Vorjahr wieder umdrehte (IBC 2.2020).
[Grafik gelöscht, Anm]
Quellen:
- ACCORD (26.2.2020): Irak, 4. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025321/2018q4Iraq_de.pdf, Zugriff 13.3.2020
- IBC - Iraq Bodycount (2.2020): Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards, https://www.iraqbodycount.org/database/, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (5.3.2020): Violence Largely Unchanged In Iraq In February 2020, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/03/violence-largely-unchanged-in-iraq-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (6.1.2020): Islamic State Makes Its Return In December 2019, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/01/islamic-state-makes-its-return-in.html, Zugriff 13.3.2020
- Joel Wing, Musings on Iraq (2.12.2019): Islamic State Waits Out The Protests In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/12/islamic-state-waits-out-protests-in-iraq.html, Zugriff 13.3.2020
2.3 Sicherheitslage Bagdad
Letzte Änderung: 17.3.2020
Das Gouvernement Bagdad ist das kleinste und am dichtesten bevölkerte Gouvernement des Irak mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Haupt