Entscheidungsdatum
12.07.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W202 2183067-2/2E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Bernhard SCHLAFFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.06.2021, Zl. 1093802503-210506311, zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
Verfahrensgang:
Der (im Zeitpunkt der Antragstellung minderjährige) Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise am 06.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am selben Tag wurde der Beschwerdeführer vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und gab dabei an, Afghanistan aus Angst vor den Taliban und dem Krieg verlassen zu haben; wegen des Krieges seien auch alle Schulen geschlossen worden.
Am 25.07.2017 fand die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. In dieser brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er in der Stadt einen Englischkurs besucht habe. In seinem Dorf wären Taliban gewesen; diese hätten gefragt, wer täglich etwas in der Stadt zu tun habe, da sie gedacht hätten, dass diejenigen Leute, die in die Stadt gingen, etwas mit der Regierung zu tun hätten. Sein Onkel habe dann gesagt, dass der Beschwerdeführer ausreisen solle.
Mit oben genanntem Bescheid vom 22.11.2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.
Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.
Am 14.11.2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Lebensumständen sowie zu seinen Fluchtgründen befragt wurde.
Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20.01.2020, Zl. W275 2183067-1/9E, wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Die Behandlung einer dagegen erhobenen Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof wurde von diesem mit Beschluss vom 05.03.2020,
Zl. Ra 584/2020/6, abgelehnt.
Die beim Verwaltungsgerichtshof eingebrachte Revision wurde mit Beschluss desselben vom 15.05.2020, Zl Ra 2020/20/0140-4, zurückgewiesen.
Am 16.04.2021 stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz und wurde hiezu am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes niederschriftlich befragt.
Zu den Gründen seines neuerlichen Asylantrages brachte der BF vor, dass er homosexuell orientiert sei, was in seiner Heimat ein Problem sei. Es sei eine Sünde und dort verboten.
Mit Verfahrensanordnung vom 04.05.2021 wurde dem Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf Internationen Schutz zurückzuweisen, da entschiedene Sache im Sinne des §68 AVG vorliege.
Am 18.05.2021 wurde der Beschwerdeführer seitens des Bundesamtes einvernommen, wobei er im Wesentlichen Folgendes vorbrachte:
Er habe in Österreich keine Verwandte, befragt, ob er mit einer sonstigen Person in einer Familiengemeinschaft oder familienähnlichen Lebensgemeinschaft lebe, antwortete er, er habe einen Freund, sie lebten nicht gemeinsam. Dieser habe einen positiven Bescheid erhalten, er habe eine Wohnung, wo sie sich oft treffen würden. Weiters nannte er den Namen und das Geburtsdatum dieses Freundes. Seit Oktober 2015 sei der Beschwerdeführer durchgängig in Österreich. Befragt zu seinen neuen Fluchtgründen führte er aus, dass er mit Männern Kontakt habe, er sei homosexuell. In Afghanistan sei es verboten, homosexuell zu sein. Es sei dort auch schwierig, als homosexueller Mensch zu leben. Er habe auch einen Partner in Österreich und habe auch Angst vor einer Rückkehr nach Afghanistan. Als er im Jahr 2015 nach Österreich gekommen sei, habe er genau gewusst, dass er homosexuell sei, auch wenn er noch keinen Kontakt mit anderen Männern gehabt habe. Er habe das nicht früher erzählt, da er einen anderen Fluchtgrund gehabt habe, und in Afghanistan sei das nicht normal, er habe sich geschämt. Jetzt müsse er es sagen. Er sei seit ca. zwei Jahren in einer Beziehung, sie hätten sich in einem Club in Wien kennengelernt, dieser heiße „ XXXX “. Das sei ein Treffpunkt für Homosexuelle. Vorher habe er einen anderen Club, „ XXXX “, in Wien besucht, der ebenfalls für Homosexuelle sei und von diesem habe er die Adresse vom neuen Club erfahren. Verliebt habe er sich in den neuen Freund, nachdem sie sich im Club kennengelernt hätten und die Daten ausgetauscht hätten. Sie hätten sich einige Male getroffen und getrunken, dann habe er gesehen, dass dieser ein guter Junge sei und dann habe er sich verliebt. Seit ca. einem Jahr hätten sie eine feste Beziehung. Als der Beschwerdeführer in Wien aufhältig gewesen sei, hätte er sich mit seinem Freund drei- bis viermal in der Woche getroffen. Nachdem der Beschwerdeführer jetzt seinen Asylantrag gestellt habe, hätte er ihn ein paarmal gesehen. Der Beschwerdeführer habe finanzielle Probleme, er könne nicht immer nach Wien fahren. Er ersuche um einen Transfer nach Wien, damit er sich öfter mit seinem Freund treffen könne.
Am 02.06.2021 wurde der Beschwerdeführer seitens des BFA neuerlich einvernommen, wobei der Beschwerdeführer angab, dass er nicht wisse, wo sich derzeit sein Freund befinde. Er habe leider seine Telefonnummer nicht, sondern Facebook und Instagram, er habe dem Freund gestern gesagt, dass er um 9 Uhr vor Ort sein solle. Zuletzt habe er ihn vor zwei Tagen gesehen, sie seien spazieren gegangen und im Park gesessen. Er kenne die alte Adresse seines Freundes, vor drei Tagen sei sein Freund umgezogen, seine neue Adresse wisse er nicht. Er werde mit seinem Freund persönlich vorbeikommen.
Mit dem verfahrensgegenständlichen angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.06.2021, Zl. 1093802503-210506311, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt I.), hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gem. § 68 Abs. 1 AVG ebenfalls wegen entschiedener Sache zurückgewiesen (Spruchpunkt II.). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gem. § 57 AsylG wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), gem. § 55 Abs. 1A FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.) sowie gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Beweiswürdigend führte das BFA u.a. aus, dass es jeder Lebenserfahrung entbehre, dass der Beschwerdeführer seine Homosexualität nicht früher erwähnt habe, sodass dieses Vorbringen als unglaubwürdig zu qualifizieren sei. Er hätte bereits mehrfach Gelegenheit gehabt, dies in seinem vorherigen Asylverfahren vorzubringen. Der Hinweis des Beschwerdeführers, dass er die Homosexualität nicht früher erwähnt habe, da er sich geschämt habe, könne alleine nicht darauf hinweisen, dass dieses Vorbringen der Wahrheit entspräche. Zudem sei auch sein angeblicher Freund zur Zeugeneinvernahme nicht erschienen. Der Beschwerdeführer habe somit lediglich ein Vorbringen in den Raum gestellt, das er weder habe glaubhaft machen können, noch durch andere Personen habe untermauern können. Anzumerken sei auch, dass er nicht fähig gewesen sei, mit seinem Freund einen Kontakt herzustellen.
Rechtlich führte das BFA zu Spruchpunkt I. und II. aus, dass, wie bereits in der Beweiswürdigung angeführt worden sei, anzumerken sei, dass die vom BF vorgebrachten Gründe für die neuerliche Antragstellung nicht geeignet seien, einen neuen Sachverhalt zu begründen und sich seit Rechtskraft des Erstverfahrens kein entscheidungsrelevant geänderter Sachverhalt im Sinne der vorstehenden Ausführungen zu § 68 AVG ergeben habe.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und erstattete im Wesentlichen folgendes Vorbringen:
Es seien wesentliche Änderungen der für die Beurteilung des Parteibegehrens maßgeblichen tatsächlichen Umstände eingetreten, die einen glaubhaften Kern aufwiesen. Der Beschwerdeführer sei homosexuell und lebe in einer homosexuellen Beziehung. Sein Freund sei leider nicht zur Einvernahme erschienen. Es sei nachvollziehbar, dass es auch für ihn nicht einfach sei, vor einer Behörde Intimes über sein Privatleben vorzubringen. Die Behörde hätte seinem Freund die Gelegenheit geben müssen, noch einmal vor der Behörde zu erschienen oder anders mit ihm Kontakt aufnehmen müssen. Die Behörde habe Namen und IFA des Lebensgefährten des BF und somit verfüge sie auch über die Meldeadresse, sie hätte eine offizielle Ladung schicken müssen, um ihrer amtsfähigen Ermittlungspflicht nachzukommen. Der Lebensgefährte des BF sei nunmehr bereit, für ihn auszusagen und es werden der Antrag auf Einvernahme, zum Beweis des Umstandes, dass der BF eine homosexuelle Beziehung mit ihm führe, gestellt. Dabei wurden der Name, das Geburtsdatum, die Adresse sowie die Telefonnummer des Beschwerdeführers angeführt. Weiters verwies die Beschwerde darauf, dass die von der Behörde angeführten Länderberichten veraltet seien und die allgemeine Lage in Afghanistan nicht abbildeten.
Der Beschwerdeführer habe sein Äußeres „Coming Out“ vollzogen und es könne von ihm nicht verlangt werden, dass er seine Homosexualität in Afghanistan geheim halte. Er lebe in einer Beziehung und würde auch von der NGO „ XXXX “ betreut. Ein diesbezügliches Schreiben liege der Beschwerde bei. Alleine durch sein Vorbringen, dass er sich in der LGTBIQ-Szene bewege und auch die einschlägigen Lokale und Vereine kenne und auch den Namen seines Lebensgefährten/Freundes vorgebracht habe, sei von einem glaubhaften Kern auszugehen und hätte die Behörde den Fall inhaltlich prüfen müssen. Die Behörde bediene sich untauglicher Argumente hinsichtlich des glaubhaften Kerns und verkenne, dass es gerade bei Homosexualität ein langer Prozess sei, sich zu überwinden, ein diesbezügliches Vorbringen zu erstatten. Dieser Umstand, der in den Sogi-Richtlinien des UNHCR und in ständiger Rechtsprechung der Österreichischen Höchstgerichte und des EUGH eindeutig bestätigt werde, sei von der Behörde ignoriert worden, sie würdige das Vorbringen des BF lediglich als gesteigert.
Der BF habe weitere Stadien seines schwierigen Coming-Out-Prozesses durchlebt und wolle nun seine Homosexualität nicht länger verstecken, sondern offen und frei leben. Dies sei auch sein Recht, da von ihm nicht verlangt werden könne, seine sexuelle Orientierung zu verstecken. Dass dies einen neuen Sachverhalt darstelle, zeige sich in der Folge aufgrund der in der Beschwerde zitierten Erkenntnisse des BVwG. Aufgrund des vom Beschwerdeführer im Verfahren geschilderten neuen Sachverhalts könne schon in Kombination mit der Zeugenaussage und eindeutigen Beweisen für die sexuelle Orientierung des Beschwerdeführers nicht im Vorhinein von einem identischen Sachverhalt bzw. einer unveränderten Rechtslage ausgegangen werden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBL I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
§ 1 BFA-VG, BGBl I 2012/87 idF BGBL I 2013/144, bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.
§ 16 Abs. 6 und § 18 Abs. 7 BFA-VG bestimmen für Beschwerdevorverfahren und Beschwerdeverfahren, dass §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anzuwenden sind.
Gemäß § 9 Abs. 2 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, und § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA. Somit ist das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung zuständig.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Zu A)
Gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG ist das Verfahren zugelassen, wenn einer Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben ist. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.
Bei § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG handelt es sich um eine von § 28 Abs. 3 erster und zweiter Satz VwGVG abweichende Regelung, die auf die Besonderheiten des asylrechtlichen Zulassungsverfahrens Bedacht nimmt, indem die Möglichkeit, aber auch die Verpflichtung zur Fällung einer zurückweisenden Entscheidung im Fall einer Beschwerde gegen einen im asylrechtlichen Zulassungsverfahren erlassenen Bescheid allein an die in § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG genannten Voraussetzungen geknüpft ist. Diese Sonderbestimmung gelangt für sämtliche Beschwerden im Zulassungsverfahren, wozu auch – wie im vorliegenden Fall – Beschwerde gegen eine vor Zulassung des Verfahrens ausgesprochene Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz nach § 68 AVG zählt, zur Anwendung (vgl. VwGH vom 14.01.2020, Ra 2019/18/0311, mit Verweis auf VwGH vom 21.03.2018, Ro 2018/18/0001).
Der VwGH hat erkannt, dass immer dann, wenn der Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes durch das BFA Ermittlungsmängel anhaften, die nicht vom BVwG in der für die Erledigung gebotenen Eile beseitigt werden können, der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG stattzugeben ist.
Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht Anlass zu einer Verfügung gemäß den Absätzen 2 und 4 findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.
„Sache“ des Berufungsverfahrens ist regelmäßig die Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches des Bescheides der Unterinstanz gebildet hat, soweit dieser angefochten wurde (VwSlg 7548A/1969, VfSlg 7240/1973, VwGH vom 8.10.1996, 94/04/0248; Walter-Thienel, Verwaltungsverfahren2, 1265 mwH).
Im vorliegenden Fall ist Sache des Berufungsverfahrens somit die Frage der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung des (zweiten) Asylantrages wegen entschiedener Sache. Die Rechtsmittelbehörde darf nur über die Frage entscheiden, ob die Zurückweisung (wegen entschiedener Sache) durch die Vorinstanz zu Recht erfolgt ist und hat dementsprechend entweder - im Falle des Vorliegens entschiedener Sache - das Rechtsmittel abzuweisen oder - im Falle der Unrichtigkeit dieser Auffassung - den bekämpften Bescheid ersatzlos mit der Konsequenz zu beheben, dass die erstinstanzliche Behörde in Bindung an die Auffassung der Rechtsmittelbehörde den gestellten Antrag jedenfalls nicht neuerlich wegen entschiedener Sache zurückweisen darf. Es ist der Rechtsmittelbehörde aber verwehrt, über den Antrag selbst meritorisch zu entscheiden (VwSlg 2066A/1951, VwGH vom 30.5.1995, 93/08/0207; Walter-Thienel, Verwaltungsverfahren2, 1433 mwH).
Es ist Sache der Partei, die in einer rechtskräftig entschiedenen Angelegenheit eine neuerliche Sachentscheidung begehrt, dieses Begehren zu begründen (VwGH 8.9.1977, 2609/76). Die Prüfung der Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft auf Grund geänderten Sachverhaltes darf ausschließlich anhand jener Gründe erfolgen, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens auf neuerliche Entscheidung geltend gemacht werden (VwGH 23.5.1995, 94/04/0081).
Entschiedene Sache liegt vor, wenn sich gegenüber dem früheren Bescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert haben (VwGH 21.03.1985, 83/06/0023, und andere). Identität der Sache liegt selbst dann vor, wenn die Behörde in dem bereits rechtskräftig abgeschlossen Verfahren die Rechtsfrage auf Grund eines mangelhaften Ermittlungsverfahrens oder einer unvollständigen oder unrichtigen rechtlichen Beurteilung entschieden hat (VwGH 08.04.1992, 88/12/0169).
Der Begriff Identität der Sache muss in erster Linie aus einer rechtlichen Betrachtungsweise heraus beurteilt werden. Dies bedeutet, dass den behaupteten geänderten Umständen Entscheidungsrelevanz zukommen muss (VwGH vom 30.01.1995, 94/10/0162 ua). Einer neuen Sachentscheidung steht die Rechtskraft eines früher in der gleichen Angelegenheit ergangenen Bescheides gemäß § 68 Abs. 1 AVG nur dann nicht entgegen, wenn in den für die Entscheidung maßgebenden Umständen eine Änderung eingetreten ist (VwGH 07.12.1988, 86/01/0164). Die Beantwortung der Frage, ob sich die nach dem früheren Bescheid maßgeblich gewesene Sachlage derart geändert hat, dass die Erlassung eines neuen Bescheides in Betracht kommt, setzt voraus, dass der bestehende Sachverhalt an der diesen Bescheid zu Grunde liegenden Rechtsanschauung und ihrem normativen Hintergrund gemessen wird, und zwar nach der selben Methode, mit der er im Falle einer neuen Sachentscheidung an der Norm selbst zu messen wäre (Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens, fünfte Auflage, E 19 b zu § 68 AVG).
Das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach er homosexuell sei, erachtete das BFA, wie zuvor dargelegt, im Rahmen der Beweiswürdigung als unglaubhaft, allerdings ohne sich mit diesem Vorbringen ausreichend auseinanderzusetzen. Der Beweiswürdigung ist dazu im Wesentlichen der Vorwurf des BFA zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer die nun vorgebrachte Homosexualität nicht bereits im Vorverfahren, sondern erst im Rahmen der neuerlichen Antragstellung vorbrachte und diese daher nicht glaubhaft sei. Der EuGH hat jedoch bereits ausgesprochen, dass angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben hat, nicht geschlossen werden kann, dass sie unglaubwürdig ist (EuGH 02.12.2014, A u. a., C?148/13 bis C?150/13, EU:C:2014:2406, Rn 69). Die vom BFA zur vorgebrachten Homosexualität nicht getroffenen Sachverhaltsfeststellungen und die beweiswürdigenden Ausführungen des BFA im angefochtenen Bescheid erweisen sich daher als nicht ausreichend tragfähig, dieses neue Vorbringen des Beschwerdeführers schon allein damit schlüssig als unglaubhaft zu erachten.
Demgegenüber brachte der BF vor, sich in der LGTBIQ-Szene in Wien zu bewegen und auch einen Freund zu haben. Zwar versuchte das BFA, den Freund des BF im Rahmen der Einvernahme am 02.06.2021 einzuvernehmen, erachtete es also selbst als notwendig, insoferne den relevanten Sachverhalt zu ermitteln. Es hätte sich aber nicht damit begnügen dürfen, das Nichterscheinen des BF zum Anlass zu nehmen, das Vorbringen des BF zur Homosexualität mit dem Argument, dass der Beschwerdeführer die nun vorgebrachte Homosexualität nicht bereits im Vorverfahren geltend gemacht habe, als unglaubwürdig zu erachten, sondern wäre das BFa gehalten gewesen, im Rahmen der amtswegigen Ermittlungspflicht mit den zu gebotenen Mitteln die Aussage des Freundes des BF zu erwirken (vgl. VwGH 20. Oktober 2015, Ra 2015/18/0082-0086, 0087).
Vor dem Hintergrund der bisherigen Angaben des Beschwerdeführers und der vom BFA im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen über die Situation von Homosexuellen in Afghanistan, wären daher diesbezügliche geeignete sowie angemessenen Ermittlungen insbesondere in Form der Befragung des Beschwerdeführers zu seiner Homosexualität unter Beachtung der Judikatur des EuGH (EuGH 02.12.2014, A u. a., C?148/13 bis C?150/13, EU:C:2014:2406, und 25.01.2018, F, C-473/16, ECLI:EU:C:2018:36) und einer Zeugenbefragung des genannten Freundes sowie darauf aufbauende Sachverhaltsfeststellungen und beweiswürdigende Ausführungen jedoch unerlässlich gewesen, weshalb nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgegangen werden kann. Dies wird vom BFA daher nun im fortgesetzten Verfahren nachzuholen sein, wobei bei einer neuerlichen Entscheidung auch etwaige zwischenzeitliche Sachverhaltsänderungen zu berücksichtigen sein werden.
Im Hinblick darauf, dass der BF in seinen Angaben von einer Homosexualität seit drei bis vier Jahren sprach, bzw. dass diese schon immer bestanden habe, sowie dass er seit ca. zwei Jahren einen Freund habe, wäre an sich im Hinblick auf das danach ergangene inhaltliche Erkenntnis vom 20.01.2020, W275 2183067-1/9E, von entschiedener Sache auszugehen.
Mit Beschluss vom 22.06.2020, Ra 2019/20/0248, hat allerdings der Verwaltungsgerichtshof folgende Frage der Auslegung von Unionsrecht dem EuGH vorgelegt:
„1. Erfassen die in Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung), im Weiteren: Verfahrensrichtlinie, enthaltenen Wendungen ‚neue Elemente oder Erkenntnisse‘, die ‚zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind‘, auch solche Umstände, die bereits vor rechtskräftigem Abschluss des früheren Asylverfahrens vorhanden waren? Falls Frage 1. bejaht wird: 2. Ist es in jenem Fall, in dem neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im früheren Verfahren ohne Verschulden des Fremden nicht geltend gemacht werden konnten, ausreichend, dass es einem Asylwerber ermöglicht wird, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen früheren Verfahrens verlangen zu können? 3. Darf die Behörde, wenn den Asylwerber ein Verschulden daran trifft, dass er das Vorbringen zu den neu geltend gemachten Gründen nicht bereits im früheren Asylverfahren erstattet hat, die inhaltliche Prüfung eines Folgeantrages infolge einer nationalen Norm, die einen im Verwaltungsverfahren allgemein geltenden Grundsatz festlegt, ablehnen, obwohl der Mitgliedstaat mangels Erlassung von Sondernormen die Vorschriften des Art. 40 Abs. 2 und Abs. 3 Verfahrensrichtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt und infolge dessen auch nicht ausdrücklich von der in Art. 40 Abs. 4 Verfahrensrichtlinie eingeräumten Möglichkeit, eine Ausnahme von der inhaltlichen Prüfung des Folgeantrages vorsehen zu dürfen, Gebrauch gemacht hat?“ 3.4. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Zurückweisung des zweiten Antrags auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten oder der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache ist die Beantwortung der vom Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegten Fragen relevant. 3.5. Zur Aussetzung des Verfahrens: 3.5.1. § 38 AVG ist gemäß § 17 VwGVG auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anwendbar und hat folgenden Wortlaut: „Sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, ist die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.“
Der Verwaltungsgerichtshof sieht in ständiger Rechtsprechung sowohl die Verwaltungsbehörden als auch sich selbst als berechtigt an, das Verfahren gemäß § 38 letzter Satz AVG auszusetzen, wenn die betreffende Frage auf Grund eines Vorabentscheidungsersuchens – etwa des VwGH selbst – in einem gleich gelagerten Fall bereits beim EuGH anhängig ist (vgl. Hengstschläger/Leeb, AVG § 38 Rz. 18 [Stand 01.07.2005, rdb.at] sowie die dort zitierte Rechtsprechung). Gleiches gilt gemäß § 17 VwGVG für die Verwaltungsgerichte (s. VwGH 20.05.2015, Ra 2015/10/0023).
Die im zitierten Vorabentscheidungsersuchen gestellten Fragen sind für das vorliegende Verfahren präjudiziell, da sich auch im konkreten Verfahren des Beschwerdeführers dieser auf Umstände stützt, die bereits vor rechtskräftigem Abschluss seines früheren Asylverfahrens vorhanden waren.
Ginge man von einer Homosexualität im gegenständlichen Verfahren aus, sähe sich das Bundesverwaltungsgericht veranlasst, das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH im obgenannten Verfahren auszusetzen. Für den Fall, dass die vorgebrachte Homosexualität nicht glaubhaft ist, was seitens des BFA im fortgesetzten Verfahren in ordnungsgemäßer Weise zu überprüfen wäre, läge demgegenüber kein Grund vor, das Verfahren auszusetzen.
Der Beschwerde ist daher gemäß § 21 Abs 3 BFA-VG stattzugeben und der angefochtene – im Zulassungsverfahren ergangene – Bescheid ist aufzuheben. Das Verfahren ist somit zugelassen.
Das BFA wird im fortzusetzenden Verfahren das im Rahmen des Beschwerdeverfahrens erstattete Parteivorbringen – im gegenständlichen Fall somit die Beschwerdeausführungen – sowie allfällig zwischenzeitig vorgelegte Beweismittel zu berücksichtigen und gemäß § 18 Abs 1 AsylG gegebenenfalls darauf hinzuwirken haben, dass getätigte Angaben ergänzt bzw vervollständigt werden. Das BFA wird nach den dazu zweckmäßigen Ermittlungsschritten das Ermittlungsergebnis unter Berücksichtigung sämtlicher bekannter Bescheinigungsmittel einer – schlüssigen und individuellen – Beweiswürdigung zu unterziehen und individuelle Feststellungen zu treffen haben, wobei vom Beschwerdeführer dabei neu behauptete Geschehnisse – und auch seine Rechtfertigung für den Zeitpunkt seines Vorbringens – vom BFA individuell und schlüssig daraufhin zu überprüfen sein werden, ob diese einen "glaubhaften Kern" aufweisen oder nicht.
Entfall der mündlichen Verhandlung
Aufgrund der Behebung des angefochtenen Bescheides konnte eine Verhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfallen.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.
Schlagworte
entschiedene Sache Mangelhaftigkeit ZulassungsverfahrenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W202.2183067.2.00Im RIS seit
06.10.2021Zuletzt aktualisiert am
06.10.2021