Entscheidungsdatum
25.03.2021Norm
BFA-VG §18 Abs5Spruch
G314 2214322-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des deutschen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , beschlossen (A) und zu Recht erkannt (B):
A) Der Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wird als unzulässig zurückgewiesen.
B) Der Beschwerde stattgegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.
C) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (BF) besitzt seit XXXX .2017 eine Anmeldebescheinigung als Familienangehöriger.
Mit Schreiben vom 28.11.2017 informierte die Bezirkshauptmannschaft (BH) XXXX das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) darüber, dass der BF die Voraussetzungen für das Niederlassungsrecht nicht mehr erfülle. Er habe bedarfsorientierte Mindestsicherung (Übernahme der Kosten für neue Möbel) beantragt und einen Antrag auf Wohnbeihilfe nach dem Umzug aus dem Haushalt seiner Mutter in eine eigene Wohnung angekündigt. Gemäß § 55 Abs 3 NAG sei eine mögliche Aufenthaltsbeendigung zu prüfen.
Das BFA verständigte den BF mit Schreiben vom 07.05.2018 davon und forderte ihn auf, sich zur beabsichtigten Erlassung einer Ausweisung zu äußern und Fragen zu seinem Aufenthalt in Österreich sowie zu seinem Privat- und Familienleben zu beantworten. Der BF erstattete eine entsprechende, mit 13.06.2018 datierte Stellungnahme.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wurde der BF gemäß § 66 Abs 1 FPG iVm § 55 Abs 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt I.). Ihm wurde gemäß § 70 Abs 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt (Spruchpunkt II.). Die Ausweisung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der BF, der mit seiner Ehefrau in einem gemeinsamen Haushalt lebe, sei seiner Einreise in das Bundesgebiet 2014 nur sporadisch erwerbstätig gewesen sei und aktuell keiner Erwerbstätigkeit nachgehe. Er habe keine ausreichenden Existenzmittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts nachgewiesen. Es lägen keine Anhaltspunkte für eine berufliche und gesellschaftliche Integration in Österreich vor. Er erfülle die Voraussetzungen für ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nicht und habe nicht nachgewiesen, dass er Arbeit suche und eine begründete Aussicht habe, eingestellt zu werden.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Beschwerde des BF mit den Anträgen auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und auf Behebung des „Aufenthaltsverbots“ (gemeint offenbar: der Ausweisung). Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Rückverweisungsantrag gestellt. Der BF begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass er sich seit seinem 14. Lebensjahr in Österreich aufhalte, hier einen großen Freundeskreis habe und mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei. Er sei immer wieder berufstätig gewesen und beziehe aktuell Leistungen des AMS, mit denen er für seinen Lebensunterhalt aufkomme. Er sei sozialversichert und stehe dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Er sei arbeitssuchend und habe vor, in Österreich eine Lehre zu machen. Er habe in fünf Jahren lediglich zwei Mal für jeweils ein Monat eine aufstockende Mindestsicherung erhalten, was kein Grund für die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sein dürfe. Das BFA habe sein Privat- und Familienleben nicht ausreichend berücksichtigt.
Das BFA legte die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor.
Feststellungen:
Der BF kam am XXXX in der deutschen Stadt XXXX zur Welt. Seine Muttersprache ist Deutsch. Er reiste im XXXX gemeinsam mit seiner Mutter, mit der er zunächst in einem gemeinsamen Haushalt lebte, in das Bundesgebiet ein, wo er seither kontinuierlich lebt. In Deutschland, wo er keinen Wohnsitz mehr hat, hielt er sich seit nur mehr im Rahmen kurzer Besuche auf.
Im Österreich besuchte der BF zunächst die Polytechnische Schule. Ab Juli 2015 war er immer wieder, zumeist kurzzeitig, erwerbstätig, wobei das längste Arbeitsverhältnis knapp vier Monate dauerte. Konkret war er von XXXX bis XXXX .2015, von XXXX .2015 bis XXXX .2016, von XXXX bis XXXX .2016 und von XXXX .2016 bis XXXX .2017 sowie von XXXX bis XXXX .2018, von XXXX bis XXXX .2018, von XXXX bis XXXX .2018, von XXXX . bis XXXX .2018, am XXXX .2018, am XXXX .2019, von XXXX . bis XXXX .2019, von XXXX bis XXXX .2019, von XXXX bis XXXX .2019, von XXXX bis XXXX .2019, von XXXX bis XXXX .2019, von XXXX bis XXXX .2020, am XXXX und XXXX .2020, von XXXX bis XXXX .2020 und zuletzt am XXXX .2020 als Arbeiter vollversichert erwerbstätig. Von XXXX bis XXXX .2016, von XXXX bis XXXX .2018 und am XXXX und XXXX .2019 war er geringfügig beschäftigt. Von XXXX bis XXXX .2017 bezog er Krankengeld. Dazwischen bezog er Arbeitslosengeld (erstmals im Mai 2017) oder Notstandshilfe (erstmals im September 2017). Seit XXXX .2020 bezieht er wieder Notstandshilfe (voraussichtlich bis XXXX .2021).
Der BF ist seit XXXX mit einer Österreicherin verheiratet und lebt mit ihr in einem gemeinsamen Haushalt in XXXX . Ihn treffen keine Sorgepflichten. Seine Ehefrau ist seit XXXX .2020 als Angestellte vollversichert erwerbstätig; davor bestanden verschiedene Beschäftigungsverhältnisse, unterbrochen von Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld (zuletzt zwischen XXXX und XXXX .2019) und Notstandshilfe (zuletzt zwischen XXXX und XXXX 2019).
Der BF hat in Österreich einen Freundeskreis aufgebaut. In Deutschland hat er Kontakt zu seiner Großmutter, einer Cousine und zwei Freunden. Zu seinen Eltern hat er keinen Kontakt.
Am XXXX stellte die Ehefrau des BF – unter Angabe des BF als Mitantragsteller – einen Antrag auf Mindestsicherung, weil das Paar aus dem gemeinsamen Haushalt mit der Mutter des BF aus- und in eine eigene Wohnung umzog und Sonderbedarf für eine Erstausstattung an Möbeln benötigte. Am XXXX beantragte der BF Mindestsicherung (Wohnbedarf) für den Zeitraum XXXX .2017 bis XXXX .2018, der antragsgemäß bewilligt wurde ( XXXX .2018 bis XXXX .2018: EUR 28,14 monatlich, XXXX .2017 bis XXXX .2018 EUR 91,15 monatlich).
Der BF ist strafgerichtlich unbescholten. Gegen ihn wurden 2017 mehrmals Geldstrafen wegen Verwaltungsübertretungen (§ 103 Abs 2 KFG bzw. § 79 Abs 1 Z 1 iVm § 15 Abs 3 Z 1 AWG) verhängt.
Der BF leidet seit seiner Geburt an einem Darmfehler, ist jedoch ansonsten gesund und uneingeschränkt arbeitsfähig. Über diese Feststellungen hinausgehende Integrationsschritte hat er nicht unternommen.
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsaktes des BVwG.
Die Feststellungen basieren insbesondere auf den Angaben des BF gegenüber dem BFA und den von ihm vorgelegten Urkunden sowie auf den Informationen aufgrund von Abfragen im Zentralen Melderegister (ZMR), Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR), Strafregister und beim Dachverband der Sozialversicherungsträger. Die angegebenen Aktenseiten (AS) entsprechen den Seitenzahlen der Verwaltungsakten.
Name, Staatsangehörigkeit, Geburtsdatum und Geburtsort des BF werden anhand seines (dem BVwG in Kopie vorliegenden) Personalausweises (AS 83 ff) festgestellt. Daraus geht auch hervor, dass in Deutschland kein Wohnsitz besteht. Die Einreise des BF nach Österreich zusammen mit seiner Mutter ergibt sich aus seiner Stellungnahme (AS 79). Seit XXXX bestehen laut ZMR kontinuierlich Hauptwohnsitzmeldungen in XXXX . Es ist somit glaubhaft, wenn der BF in seiner Stellungnahme angibt, er habe sich zuletzt XXXX zum Besuch bei Freunden in Deutschland aufgehalten.
Die Mutter des BF, XXXX , ist laut ZMR ebenfalls seit XXXX mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet. Aus dem ZMR geht auch hervor, dass der BF und seine Ehefrau seit XXXX nicht mehr an derselben Adresse wie sie gemeldet sind, was mit dem Mindestsicherungsantrag betreffend eine Möbelerstausstattung in Einklang steht.
Aufgrund der Herkunft des BF ist von Kenntnissen der deutschen Sprache auf muttersprachlichem Niveau auszugehen. Weitere Sprachkenntnisse kamen im Verfahren nicht hervor, zumal keine entsprechenden Nachweise aktenkundig sind.
Die Kontakte des BF zu seiner Cousine, seiner Großmutter und zu Freunden in Deutschland ergeben sich aus seinen Ausführungen in der Stellungnahme. Aufgrund dieser ist auch der fehlende Kontakt zu seinen Eltern festzustellen.
Die Eheschließung ergibt sich aus der der in Kopie vorliegenden Heiratsurkunde (AS 95). Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Ehe bislang Kinder entstammen oder dass den BF anderweitige Sorgepflichten treffen.
Die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung am XXXX ist im IZR dokumentiert. Die Erwerbstätigkeit des BF in Österreich sowie der Bezug von Kranken- und Arbeitslosengeld sowie von Notstandshilfe ergeben sich aus seinem Versicherungsdatenauszug. Die Feststellungen zur Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau basieren ebenfalls auf den Sozialversicherungsdaten.
De Antrag auf Mindestsicherung vom XXXX und der Bescheid über den Antrag vom XXXX sind aktenkundig. Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des BF geht aus dem Strafregister hervor. Die Verwaltungsübertretungen ergeben sich aus dem Schreiben der BH XXXX (AS 1 ff).
Es gibt keine Hinweise auf gravierende gesundheitliche Probleme des BF, zumal er seit XXXX zumindest sporadisch berufstätig ist und sich selbst in seiner Stellungnahme, abgesehen von einem angeborenen „Darmfehler“, als gesund und arbeitsfähig bezeichnet (AS 79 ff).
Es gibt keine Grundlage für die Feststellung weiterer Integrationsbemühungen des BF, zumal er im Inland weder aktiv in einem Verein ist noch sich ehrenamtlich betätigt oder eine Ausbildung macht.
Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
Gemäß § 13 Abs 1 VwGVG haben Bescheidbeschwerden grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Gemäß § 18 Abs 4 BFA-VG darf einer Beschwerde gegen eine Ausweisung gemäß § 66 FPG die aufschiebende Wirkung nicht aberkannt werden.
Da der Beschwerde des BF die aufschiebende Wirkung folgerichtig nicht aberkannt wurde (auch die Bescheidbegründung enthält keine Hinweise auf eine allfällige Aberkennung der aufschiebenden Wirkung), kann diese vom BVwG auch nicht zuerkannt werden. Der darauf gerichtete Antrag ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
Zu Spruchteil B):
Als Staatsangehöriger der Bundesrepublik Deutschland ist der BF EWR-Bürger iSd § 2 Abs 4 Z 8 FPG.
§ 66 FPG („Ausweisung“) lautet:
„(1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.
(2) Soll ein EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigter Drittstaatsangehöriger ausgewiesen werden, hat das Bundesamt insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Bundesgebiet und das Ausmaß seiner Bindung zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
(3) Die Erlassung einer Ausweisung gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, die Ausweisung wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“
Gemäß § 51 Abs 1 NAG sind EWR-Bürger auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind (Z 1); für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen (Z 2), oder als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen (Z 3). Gemäß § 51 Abs 2 NAG bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger gemäß § 51 Abs 1 Z 1 dem EWR-Bürger, der diese Erwerbstätigkeit nicht mehr ausübt, erhalten, wenn er wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist (Z 1); sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt (Z 2); sich als Arbeitnehmer bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrages oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit der zuständigen regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice zur Verfügung stellt, wobei in diesem Fall die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten erhalten bleibt (Z 3); oder eine Berufsausbildung beginnt, wobei die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft voraussetzt, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren (Z 4).
§ 55 NAG („Nichtbestehen, Fortbestand und Überprüfung des Aufenthaltsrechtes für mehr als drei Monate“) lautet:
„(1) EWR-Bürgern und ihren Angehörigen kommt das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52, 53 und 54 zu, solange die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
(2) Der Fortbestand der Voraussetzungen kann bei einer Meldung gemäß §§ 51 Abs 3 und 54 Abs 6 oder aus besonderem Anlass wie insbesondere Kenntnis der Behörde vom Tod des unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgers oder einer Scheidung überprüft werden.
(3) Besteht das Aufenthaltsrecht gemäß §§ 51, 52 und 54 nicht, weil eine Gefährdung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegt, die Nachweise nach § 53 Abs 2 oder § 54 Abs 2 nicht erbracht werden oder die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr vorliegen, hat die Behörde den Betroffenen hievon schriftlich in Kenntnis zu setzen und ihm mitzuteilen, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung befasst wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist unverzüglich, spätestens jedoch gleichzeitig mit der Mitteilung an den Antragsteller, zu befassen. Dies gilt nicht in einem Fall gemäß § 54 Abs 7. Während eines Verfahrens zur Aufenthaltsbeendigung ist der Ablauf der Frist gemäß § 8 VwGVG gehemmt.
(4) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung (§ 9 BFA-VG), hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dies der Behörde mitzuteilen. Sofern der Betroffene nicht bereits über eine gültige Dokumentation verfügt, hat die Behörde in diesem Fall die Dokumentation des Aufenthaltsrechts unverzüglich vorzunehmen oder dem Betroffenen einen Aufenthaltstitel zu erteilen, wenn dies nach diesem Bundesgesetz vorgesehen ist.
(5) Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen, die Angehörige sind, aber die Voraussetzungen nicht mehr erfüllen, ist diesen Angehörigen ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" quotenfrei zu erteilen.
(6) Erwächst eine Aufenthaltsbeendigung in Rechtskraft, ist ein nach diesem Bundesgesetz anhängiges Verfahren einzustellen. Das Verfahren ist im Fall der Aufhebung einer Aufenthaltsbeendigung fortzusetzen, wenn nicht neuerlich eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gesetzt wird."
Gemäß § 9 BFA-VG ist eine Ausweisung gemäß § 66 FPG, die in das Privat- und Familienleben eines Fremden eingreift, zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art 8 Abs 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß
§ 9 Abs 2 BFA-VG insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.
Nach Art 8 Abs 1 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege (BGBl Nr. 258/1969; im Folgenden kurz Fürsorgeabkommen) darf der Aufenthaltsstaat einem Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit den weiteren Aufenthalt versagen oder ihn rückschaffen, es sei denn, dass er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen erlaubt in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Sprechen Gründe der Menschlichkeit gegen eine solche Maßnahme, so hat sie ohne Rücksicht auf die Dauer der Anwesenheit im Aufenthaltsstaat zu unterbleiben.
Bei der Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Art 8 Abs 1 erster Satz des Fürsorgeabkommens werden gemäß Art 9 Abs 3 des Fürsorgeabkommens Zeiträume, in denen der Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus Mitteln der Fürsorge des Aufenthaltsstaats gewährt wurde, nicht berücksichtigt. Einem deutschen Staatsangehörigen darf gemäß Art 8 Abs 1 zweiter Satz des Fürsorgeabkommens aber auch nach einem kürzeren erlaubten Aufenthalt in Österreich der Aufenthalt nicht aus dem Grund der Hilfsbedürftigkeit verweigert werden, wenn Gründe der Menschlichkeit dagegen sprechen (siehe VwGH 22.10.2019, Ra 2018/10/0149). Dieser Ausnahmetatbestand erfordert, dass objektive, einer Nachprüfung zugängliche Umstände eine Gefährdung allgemein anerkannter Interessen des Aufenthaltswerbers besorgen lassen (vgl. VwGH 17.12.1990, 90/19/0326).
Sind die Voraussetzungen des Art 8 Abs 1 des Fürsorgeabkommens erfüllt, darf die Frage, ob der Aufenthalt des BF in Österreich rechtmäßig ist, nicht mit dem Argument der Hilfsbedürftigkeit verneint werden (siehe VwGH 22.10.2019, Ra 2018/10/0149, und VwGH 09.10.2001, 97/21/0546).
Der BF hält sich seit XXXX im Bundesgebiet auf. Da er aufgrund der gesetzlichen Pflichtversicherung krankenversichert ist und einen Unterhaltsanspruch gegen seine berufstätige Ehefrau hat, hat das Paar ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts, sodass der BF gemäß § 51 Abs 1 Z 2 NAG zum Aufenthalt in Österreich für mehr als drei Monate berechtigt ist.
Da der BF im Inland anfänglich in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner (damals noch für ihn unterhaltspflichtigen) Mutter lebte und die Schule besuchte, ist davon auszugehen, dass er sich schon länger als ein Jahr lang erlaubt in Österreich aufgehalten hatte, bevor sein Lebensunterhalt erstmals (teilweise) aus Mitteln der Fürsorge des österreichischen Staates bestritten wurde, zumal erstmals im XXXX für ihn Mindestsicherungsleistungen beantragt wurden. Daher sind die Voraussetzungen des Art 8 Abs 1 erster Satz des Fürsorgeabkommens erfüllt. Da der BF seit mehreren Jahren in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner österreichischen Ehefrau lebt, ist eine Ausweisung wegen seiner Hilfsbedürftigkeit überdies aus Gründen der Menschlichkeit iSd Art 8 Abs 1 zweiter Satz des Fürsorgeabkommens unzulässig. Andere Gründe für die Ausweisung des BF (als das Fehlen eigener Existenzmittel und der Bezug von Mindestsicherung) liegen nicht vor, zumal von ihm keine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht.
Die Ausweisung des BF ist aber auch deshalb nicht rechtskonform, weil sie unverhältnismäßig in sein Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens eingreift. Der mittlerweile XXXX BF hält sich seit seinem XXXX . Lebensjahr durchgehend im Inland auf und führt hier ein schutzwürdiges Familienleben mit seiner österreichischen Ehefrau. Er beendete die Pflichtschule im Bundesgebiet, war danach war immer wieder berufstätig, hat während seines Aufenthalts Freundschaften geknüpft, während sich die Bindungen zu seinem Herkunftsstaat zusehends lockerten, und ist unbescholten, sodass seine Ausweisung auch gemäß § 9 BFA-VG iVm § 66 Abs 2 FPG nicht zulässig ist, weil sein persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegt, auch wenn die Bedeutung der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften für den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit berücksichtigt wird.
Die mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Ausweisung ist daher nicht rechtskonform. Dies bedingt zugleich die Gegenstandslosigkeit des dem BF gewährten Durchsetzungsaufschubs. Beide Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids sind daher in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben.
Zum Entfall der mündlichen Verhandlung:
Da im vorliegenden Fall bereits aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist, kann eine Beschwerdeverhandlung gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG entfallen, zumal der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint.
Zu Spruchteil C)
Die Revision ist wegen der Einzelfallbezogenheit dieser Entscheidung, die keine grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG begründet, nicht zuzulassen.
Schlagworte
aufschiebende Wirkung - Entfall Behebung der Entscheidung familiäre Situation Familienangehöriger individuelle Verhältnisse mangelnder Anknüpfungspunkt Privat- und Familienleben unverhältnismäßiger Eingriff Voraussetzungen Wegfall der GründeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:G314.2214322.1.00Im RIS seit
05.10.2021Zuletzt aktualisiert am
05.10.2021