TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/28 W268 2184719-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.05.2021
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Entscheidungsdatum

28.05.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §68 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W268 2184726-2/4E

W268 2184710-2/4E

W268 2184715-2/4E

W268 2184722-2/4E

W268 2184719-2/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Iris GACHOWETZ über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX und 5.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, alle vertreten durch die BBU- Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen die Bescheide des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 30.04.2021, Zl. XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , XXXX , zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Erstes Verfahren auf internationalen Schutz

1.1. Die Erstbeschwerdeführerin XXXX (in der Folge: BF1) ist mit dem Zweitbeschwerdeführer XXXX (in der Folge: BF2) verheiratet. Die BF1 und der BF2 sind die Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin XXXX (in der Folge: BF3), der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin XXXX (in der Folge: BF4) und der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin XXXX (in der Folge: BF5).

1.1.1. Die BF1 und der BF2 wurden am 21.04.2013 im Landeskrankenhaus XXXX von den Organen des Sicherheitsdienstes aufgegriffen.

1.2. Mit Bescheiden vom 22.04.2013, Zl XXXX und XXXX wurde zur Sicherung der Abschiebung der BF1 und des BF2 die Schubhaft angeordnet

1.3. Der BF2 und die BF1 stellten am 21.04.2013 und am 23.04.2013 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz und wurden am 24.04.2013 von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt.

1.3.1. Die BF1 gab zu ihren Fluchtgründen befragt an, dass ihre Familie in Grosny ein Möbelgeschäft besessen habe. An einem Tag im Februar 2013 seien zivile Polizisten zu ihrem Vater gekommen und hätten von ihm Besitzurkunden und Geld verlangt, sowie gedroht, das Geschäft zu schließen. Der Vater habe sich geweigert und sei geschlagen worden. Er sei in einem Krankenhaus am 02.04.2013 an seinen schweren Verletzungen verstorben. Der Vater habe der BF1 vor seinem Tod den wichtigen Rat gegeben, das Land sofort zu verlassen, weil er Angst um ihr Leben gehabt hätte. Nach dem Tod des Vaters der BF1 habe sich der BF2 versteckt. Die zivilen Polizisten hätten wissen wollen, wo sich der BF2 versteckt hielt. Sie habe es ihnen nicht verraten und sei von diesen geschlagen und vergewaltigt worden. Ab diesem Ereignis hätte sie große Angst um ihr eigenes und das Leben des BF2 gehabt. Sie würde nicht nach Tschetschenien zurückkehren wollen. Weiters würde sie nicht wissen, ob die Männer wirklich Polizisten gewesen wären, sie hätten ihr das aber gesagt.

1.3.2. Der BF2 gab zu seinen Fluchtgründen an, dass der Vater seiner Frau ermordet worden sei. Er habe von seiner Frau erfahren, dass mehrere Männer in Milizuniform in das Möbelgeschäft des Schwiegervaters gekommen seien. Er wisse nicht, ob diese Männer von der Polizei oder vom Militär seien. Im Möbelgeschäft hätten die Männer Geld und Besitzurkunden gefordert. Der Schwiegervater hätte das Geforderte nicht übergeben. Dann sei der Schwiegervater „scheinbar“ abgeholt, zusammengeschlagen und bei einer Tankstelle in der Stadt Grosny hinausgeworfen worden. Der Schwiegervater sei mit der Rettung in das Krankenhaus gebracht worden und eine Woche danach verstorben.

1.4. Am 02.05.2013 legte der BF2 seinen russischen Führerschein vor.

1.5. Am 13.06.2013 wurden die BF1 und der BF2 durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) niederschriftlich einvernommen, wo sie neuerlich ua ihr Fluchtvorbringen schilderten.

1.6. Am 05.06.2014 wurde die BF3 in XXXX geboren. Am 25.07.2014 stellte der BF2 als gesetzlicher Vertreter für sie gem. § 17 Abs. 3 AsylG einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.7. Am 06.07.2015 wurde die BF4 in XXXX geboren. Am 27.07.2015 stellte der BF2 als gesetzlicher Vertreter für sie gem. § 17 Abs. 3 AsylG einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.8. Am 12.01.2017 wurde die BF5 in XXXX geboren. Am 28.03.2017 stellte der BF2 als gesetzlicher Vertreter für sie gem. § 17 Abs. 3 AsylG einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.9. Am 13.12.2017 wurden die BF1 und der BF2 erneut durch das BFA niederschriftlich einvernommen.

1.10. Mit Bescheiden des BFA vom 27.12.2017 wurden die Anträge auf internationalen Schutz der BF sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ferner wurde den BF ein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde festgelegt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Entscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

1.11. Das BFA stellte den BF amtswegig einen Rechtsberater zur Seite.

1.12. Mit Schriftsatz vom 25.01.2018 erhoben die BF durch ihren Rechtsvertreter binnen offener Frist das Rechtsmittel der Beschwerde.

1.13. Mit Schriftsatz vom 06.02.2018 reichte das BFA eine Anfragenbeantwortung der Staatendokumentation vom 12.01.2018, zusammengefasst mit folgendem Inhalt, nach:

-Wurde am 02.04.2013 der Vater der Asylwerberin so verprügelt, dass er am selben Tag an seinen Verletzungen starb ( XXXX )?

In öffentlichen Quellen wurden keine Informationen gefunden.

- Wurde danach ein Möbelgeschäft an der folgenden Adresse angezündet: XXXX (Anmerkung: Der Ehemann gab eine andere Adresse der Geschäfte an: Dorf XXXX ?

In öffentlichen Quellen wurden keine Informationen gefunden, die auf einen Brand an der angegebenen Adresse hinweisen. Rund um den angegebenen Zeitpunkt, nämlich 04.04.2013, gab es einen Brand in Grosny im höchsten Wohnhaus der Russischen Föderation außerhalb Moskaus.

1.14. Mit Schriftsatz vom 13.06.2018 legten die BF betreffend die BF3 ein Schreiben des Kindergartens in XXXX vom 15.03.2018 und drei Fotos der BF1, welches sie umgeben von Möbeln zeigt (OZ 6 der BF1).

1.15. Mit Schriftsatz vom 15.05.2019 legten die BF betreffend die BF3 ein weiteres Schreiben des Kindergartens in XXXX vom 27.03.2019 vor, betreffend den BF2 zwei Besuchsbestätigungen an Deutschkursen auf dem Niveau A1 vom 13.11.2018 und 14.01.2019 sowie betreffend die BF1 eine Kursbestätigung eines Deutschkurses „Anfänger I“ vom 16.01.2014 und eine Deutschkursbestätigung auf dem Niveau A1 vom 15.02.2018 vor. Weiters wurden hinsichtlich der BF1 zwei ärztliche Kurzberichte des LKH XXXX vom 21.09.2018 und vom 30.11.2018 vorgelegt, wonach bei ihr eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig mit somatischem Syndrom, respektive eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode und eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden seien.

1.16. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 31.07.2020 eine öffentliche, mündliche Verhandlung, an welcher die BF und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. In dieser wurden einerseits diverse medizinische Befunde als auch Integrationsunterlagen vorgelegt.

1.17. Mit Beschluss vom 10.08.2020, GZ XXXX , wurde Frau DDr. Wörgotter Gabrielle, zur Sachverständigen aus dem Fachgebiet Psychiatrie und Neurologie bestellt sowie mit der Erstellung eines Gutachtens sowie Beantwortung folgender Fragen bis zum 15.11.2020 beauftragt:

-        Ist die BF1 aus medizinischer Sicht verhandlungsfähig?

-        Liegt eine neurologische Erkrankung vor?

-        Wenn ja, ist diese angeboren?

-        Wenn ja, kann aus dieser neurologischen Erkrankung aus medizinischer Sicht ein Gedächtnisverlust resultieren bzw. ist es denkbar, dass die BF1 ihre Vergangenheit vollkommen verdrängt hat und nicht wiedergeben kann?

-        Liegt eine mentale Beeinträchtigung vor?

-        Wenn ja, ist diese angeboren oder im Verlauf ihres bisherigen Lebens entstanden?

-        Ist es medizinisch begründbar, dass im vorliegenden Fall traumatische Geschehnisse in der Vergangenheit eine Verdrängung zur Folge haben können bzw. liegen etwa eine posttraumatische Belastungsstörung oder andere psychische Störungen vor, welche die BF ihr Leben im Herkunftsstaat komplett vergessen oder verdrängen lassen können?

-        Liegt bei der BF1 eine Depression oder eine andere Erkrankung vor, aus welcher der Gedächtnisverlust resultieren kann?

-        Muss die BF1 regelmäßig Medikamente einnehmen? Wenn ja, welche und wie lange?

-        Sind Behandlungen erforderlich? Wenn ja, welche und wie lange? Ist nach den Behandlungen eine nachhaltige Verbesserung prognostizierbar. Wenn ja, in welchem Zeitraum?

-        Handelt es sich hierbei um eine Behandlung, die erfahrungsgemäß ausschließlich in Österreich verfügbar ist?

Folgende Schriftstücke wurden diesem Beschluss als Beilage hinzugefügt:

-        Ambulanzbericht aus dem Jahr 2014

-        Zwei Kurzberichte des LKH XXXX betreffend ambulanter Behandlungen am 21.09.2018 und 30.11.2018

-        Kurzbericht des XXXX Klinikums vom 04.08.2020

1.18. Mit Vorlage vom 25.11.2020 übermittelte die Sachverständige das diesbezügliche Gutachten, datiert mit 24.11.2020, mit folgendem Inhalt:

„Die dem Gutachten zugrundeliegenden Fragen werden somit wie folgt beantwortet:

1. Aus medizinischer Sicht ist die Beschwerdeführerin verhandlungsfähig.

2. Die Beschwerdeführerin leidet an keiner neurologischen Erkrankung.

3. Die Beschwerdeführerin leidet an keiner mentalen Beeinträchtigung.

4. Bei der Beschwerdeführerin ist eine posttraumatische Belastungsstörung vorbefundet. Aktuell lässt sich eine posttraumatische Belastungsstörung nicht feststellen. Dass in der Vergangenheit liegende traumatische Geschehnisse ganz oder zum Teil verdrängt werden können, ist prinzipiell möglich. Bei der Beschwerdeführerin haben sich im Rahmen der psychiatrischen Exploration keine Hinweise ergeben, dass sie ihr Leben im Herkunftsstaat komplett vergessen oder verdrängt hatte.

5. Die Beschwerdeführerin leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung reaktiver Genese. Dieses Krankheitsbild führt nicht zu einem Gedächtnisverlust.

6. Die Einnahme von Medikamenten zur Schlafregulation und zur Stimmungsaufhellung sind indiziert. Die Einnahme der Medikation ist solange erforderlich, solange eine krankheitswertige psychiatrische Symptomatik besteht. Wie lange das bei der Beschwerdeführerin der Fall sein wird, kann a priori nicht vorhergesagt werden

7. Die Beschwerdeführerin steht folgend ihren Angaben in psychiatrischer und muttersprachlich psychotherapeutischer Behandlung. Wie lange genau diese Behandlungen erforderlich sein werden, kann a priori nicht mit der erforderlichen Sicherheit vorausgesagt werden. Nachdem als Hauptursache für die Depressionen die derzeitigen Lebensumstände mit dem unsicheren Ausgang des Asylverfahrens anzunehmen sind, kann erwartet werden, dass sich der psychische Zustand im Falle eines positiven Asylbescheides bessern, im Falle eines negativen Asylbescheides vermutlich verschlechtern wird.

8. Es handelt sich um keine Behandlung, die ausschließlich in Österreich verfügbar ist.“

1.19. Das Gutachten wurde als Ergebnis der Beweisaufnahme am 25.11.2020 der belangten Behörde sowie den BF und der Rechtsvertretung der BF übermittelt und eine Frist zur Stellungnahme von zwei Wochen (Parteiengehör) gewährt.

1.20. Die belangte Behörde hat hierzu keine Stellungnahme vorgebracht.

1.21. Mit Schreiben vom 03.12.2020 brachten die BF vor, dass das Gutachten zur Kenntnis genommen werde.

1.22. In Folge wurden diverse Integrationsunterlagen vorgelegt.

1.23. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 11.12.2020 eine zweite mündliche, öffentliche Verhandlung durch.

Die BF1 wurde zu ihrer Person und den Fluchtgründen befragt, und es wurde den BF Gelegenheit gegeben, die Fluchtgründe umfassend darzulegen, sich zu ihren Rückkehrbefürchtungen und der Integration im Bundesgebiet zu äußern, sowie zu den im Rahmen der Verhandlung in das Verfahren eingeführten und ihnen mit der Ladung zugestellten Länderberichten Stellung zu nehmen. Der BF2 wurde betreffend seine Integration im Bundegebiet befragt.

1.24. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.12.2020 wurde die Beschwerde gegen die Bescheide des BFA vom 27.12.2017 als unbegründet abgewiesen.

1.25. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 10.03.2021 wurde die Behandlung der Beschwerde gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.12.2020 abgelehnt.

Zweites Verfahren auf internationalen Schutz

2.1. Am 01.04.2021 brachten die BF die gegenständlichen zweiten Anträge auf internationalen Schutz beim BFA ein.

2.2. Hierzu wurden sie am selben Tag von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Die BF1 gab zu den Gründen für den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen an, dass sich nichts an ihren Asylgründen geändert habe. Sie sei mit ihrem Mann mitgeflohen und habe selbst keine Probleme mit den Behörden. Wenn ihr Mann Probleme habe, habe auch sie Probleme. Für ihren Mann sei es gefährlich, dort zu leben. Wenn ihr Mann eingesperrt wird, werde auch sie eingesperrt. Ihre Fluchtgründe seien seit der ersten Antragstellung gleich geblieben. Wenn sie eine Chance hätten, wären sie schon längst zurückgegangen. Der BF2 gab ebenso an, dass sich die Fluchtgründe nicht geändert hätten. Er habe als Kind aus unbekannten Gründen eine Operation am Rücken gehabt und die Narben seien seitdem mitgewachsen. In Tschetschenien sei behauptet worden, dass er ein Terrorist sei und deshalb Narben habe. Deshalb habe er das Land verlassen müssen. Ihre Kinder seien in XXXX geboren. Seine Frau kenne die Geschichte mit dem Terrorverdacht nicht, sie wisse nur, dass er vom Staat verfolgt werde. Er habe nie Kontakt zu Terrorgruppen gehabt. Befragt, seit wann ihm die Änderungen seiner Fluchtgründe bekannt seien, gab der BF an, dass es seit dem 1.Verfahren dieselben Fluchtgründe seien.

2.3. Am 13.04.2021 fand die niederschriftliche Einvernahme der BF vor dem BFA statt. In dieser wiederholte die BF1, dass die dieselben Asylgründe wie beim ersten Verfahren aufrecht seien. Sie könnten nicht zurück. Seit der ersten Asylantragstellung hätten sie Österreich nicht verlassen. Auch bezüglich ihres Privat- und Familienlebens habe sich seit dem Erkenntnis vom Dezember 2020 nichts geändert. Zu den vorgehaltenen Länderfeststellungen gab die BF1 an, dass diese ihr schon bekannt seien. Weiters gab die BF1 auf Nachfrage an, dass sie Rückenprobleme habe und deshalb schon Physiotherapie bekommen habe. Seit sie den zweiten negativen Bescheid bekommen habe, habe sie Stress gehabt und diese Probleme bekommen.

Auch der BF2 gab in der Einvernahme an, dass die Asylgründe, die er im ersten Verfahren angeführt habe, der Wahrheit entsprechen würden und er bei denselben Gründen bleibe. Er lebe seit acht Jahren in Österreich und könne nicht mehr zurück. Er könne sich an seine Heimat nicht mehr erinnern. Er habe auch Narben davongetragen, aber das habe er schon erzählt. Auch er gab an, dass sich bezüglich ihres Privat- und Familienlebens seit dem Erkenntnis vom Dezember 2020 nichts geändert habe. Er sei immer vom Staat unterstützt worden und habe nie gearbeitet. Es sei nicht seine Schuld, dass sein erster Antrag negativ entschieden worden sei. Wenn man ihm nicht glaube, sei das nicht seine Schuld. Zu den vorgehaltenen Länderfeststellungen gab der BF2 an, dass diese ihn nicht interessieren würden. Sie hätten ihn vielleicht interessiert, wenn er vorgehabt hätte, nach Hause zu fahren. Das wolle er aber nicht. Wenn er nach Hause geschickt werde, erwarte ihn eine lebenslange Haftstrafe. Weiters gab der BF2 auf Nachfrage an, dass er in Österreich mittlerweile drei Mal wegen seiner Hämorriden operiert worden sei und immer noch behandelt werde. Er leide daran seit etwa fünf, sechs Jahren. Das letzte Mal sei er vor einem Monat operiert worden.

2.4. Am 20.04.2021 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme der BF vor dem BFA statt, in welcher ihnen Gelegenheit gegeben wurde, zur beabsichtigten Entscheidung wegen entschiedener Sache Stellung zu nehmen. Der BF2 gab dazu an, dass er keine Möglichkeit habe, nach Hause zurückzukehren. Er würde dort umgebracht werden. Alles, was er vor acht Jahren ausgesagt habe, sei noch aktuell. Das werde er auch heute wiederholen. Sie seien seit acht Jahren in Österreich und seine Kinder seien in Österreich auf die Welt gekommen. Sie hätten versucht, unauffällig zu leben und er habe nicht einmal eine Verkehrsstrafe bekommen. Sie seien ehrlich und arbeitswillig.

2.5. Mit den im Spruch genannten Bescheiden vom 30.04.2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die (zweiten) Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG, hinsichtlich des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idgF gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das Bundesamt fest, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.); die Behörde hielt fest, dass gemäß § 55 Abs. 1a FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z6 FPG wurde gegen die BF ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Die Zurückweisung des Antrags begründete das Bundesamt damit, dass entschiedene Sache im Sinne des § 68 AVG vorliege:

Die BF hätten den gegenständlichen Folgeantrag ausschließlich auf Umstände gestützt, die sie bereits im ersten Verfahren vorgebracht hätten. Im Hinblick auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der BF1 (Rückenschmerzen) wurde ausgeführt, dass aus der Aktenlage nicht ersichtlich sei, dass diese von lebensbedrohlichem Charakter wären. Sie habe diesbezüglich zudem nicht einmal Nachweise vorgelegt. Zudem habe die BF1 selbst angeführt, dass sie lediglich eine Physiotherapie gehabt habe und eine stationäre Behandlung nicht notwendig gewesen sei. Wären diese Probleme lebensbedrohlich, so hätte der Arzt dementsprechend reagiert und sie wäre nicht in häusliche Pflege entlassen worden. Zu den gesundheitlichen Problemen des BF2 wurde ebenso ausgeführt, dass aus der Aktenlage nicht ersichtlich sei, dass sein Problem von lebensbedrohlichem Charakter wäre. Zudem sei dieses Problem schon Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens gewesen und würde somit diesbezüglich auch keine neue Sache vorliegen. Die BF hätten weiters in Österreich keine weiteren Angehörigen oder sonstige Verwandte, zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis oder eine besondere Beziehung bestehe, weshalb eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Zu den Gründen für die Erlassung des Einreiseverbots wurde ausgeführt, dass die BF ihre Anträge auf internationalen Schutz missbräuchlich gestellt hätten und auch ihrer Rückreiseverpflichtung nicht nachgekommen seien. Ferner hätten sie auch nicht die nötigen Mittel für ihren Unterhalt aufweisen können.

2.6. Die BF erhoben durch ihren Rechtsvertreter gegen die angeführten Bescheide Beschwerde. Darin wurde der bisherige Verfahrensverlauf zusammengefasst und im Wesentlichen vorgebracht, dass die belangte Behörde keine weiteren Ermittlungen bezüglich relevanter Teile des Vorbringens der BF durchgeführt habe. Ein Großteil der eingebrachten Länderberichte sei bereits über ein Jahr alt und die aktuelle Situation sei auch im Hinblick auf sozio-ökonomische Auswirkungen der Covid-19 Pandemie nicht erörtert worden. Auch sei der gesundheitliche Zustand der BF1 und BF2 nicht geklärt worden. Bezüglich der BF3-BF5 seien keine Ermittlungen bzw. Feststellungen zum Kindeswohl ergangen. Die BF1 und der BF2 hätten beide angegeben, dass sich ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert habe. Die Familie musste während des letzten Monats aufgrund der Asylantragstellung mehrmals ihren Aufenthaltsort ändern. Sie seien derzeit in Quarantäne und würden sobald wie möglich neue Unterlagen vorlegen. Das Privat- und Familienleben sowie die Integration der BF seien nicht ausreichend beachtet worden. Hinsichtlich des Einreiseverbots sei keine nachvollziehbare Gefährdungsprognose durchgeführt worden. Anders als vom BFA behauptet habe sich der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt seit Rechtskraft des letzten Asylverfahrens geändert, da sich die Lage in Russland weiter verschlechtert habe und auch in Hinsicht auf das Kindeswohl eine Rückkehr nicht als verhältnismäßig angesehen werden könne. Letztendlich wurden die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

2.7. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte den Verfahrensakt samt den Beschwerdeschriftsätzen dem Bundesverwaltungsgericht am 19.05.2021 vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zu den bisherigen Verfahren:

Der Ablauf der Verfahrensgänge im Detail sowie die Inhalte der in Rechtskraft erwachsenen Entscheidungen zu den vorangegangenen Anträgen auf internationalen Schutz werden so festgestellt, wie sie unter Pkt. I. der vorliegenden Entscheidung wiedergegeben sind.

1.2. Zur Person der BF:

1.2.1. Die BF tragen die im Spruch angeführten Namen und sind Staatsangehörige der Russischen Föderation.

1.2.2. Zur Person der BF1

Die BF1 ist eine russische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an und ist muslimischen Glaubens. Sie ist in Grosny, Republik Tschetschenien, geboren und ebendort aufgewachsen. Vor ihrer Ausreise hat sie in XXXX , Republik Tschetschenien, gelebt.

Die BF1 ist volljährig, im erwerbsfähigen Alter und spricht Russisch und Tschetschenisch. Sie hat im Herkunftsstaat elf Jahre die Grundschule besucht. Sie hat in dem in ihrem Eigentum stehenden Möbelgeschäft gearbeitet und so gemeinsam mit dem BF2 für den Familienunterhalt gesorgt.

Die BF hat ein in ihrem Eigentum stehendes Haus in XXXX , Republik Tschetschenien.

Die BF1 und der BF2 sind seit 2010 traditionell verheiratet. Sie haben im Herkunftsstaat auch standesamtlich geheiratet.

Die BF1 leidet aktuell an Rückenschmerzen und war diesbezüglich in Physiotherapie. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt befindet sie sich nicht in Therapie. Sie leidet an keiner schwerwiegenden oder akut lebensbedrohlichen Erkrankung.

Sie ist im Bundesgebiet strafgerichtlich unbescholten.

1.2.3. Zur Person des BF2

Der BF2 ist russischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tschetschenen an und ist muslimischen Glaubens. Er ist in der Teilrepublik Tschetschenien geboren und hat bis zu seiner Ausreise dort gelebt.

Der BF2 ist volljährig, im erwerbsfähigen Alter und spricht Russisch und Tschetschenisch. Er hat neun Jahre die Grundschule besucht und ist gelernter Bauarbeiter. Im Herkunftsstaat hat er in dem in seinem Eigentum stehenden Autogeschäft, welches er von seinem Schwiegervater erhalten hat, gearbeitet und so gemeinsam mit der BF1 für den Familienunterhalt gesorgt.

Die Eltern des BF2 sind vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat verstorben. Der Halbbruder und die Halbschwester des BF2 leben in Grosny. Der BF2 kann den Kontakt zu diesen jederzeit herstellen. Seine weiteren Verwandten kennt er nicht.

Der BF2 wurde in Österreich mehrmals aufgrund von Hämorriden operiert, leidet jedoch an keiner schwerwiegenden oder akut lebensbedrohlichen Erkrankung.

Er ist im Bundesgebiet strafgerichtlich unbescholten.

1.2.4. Zur Person der BF3, der BF4 und der BF5

Die BF3, die BF4 und die BF5 sind die in Österreich geborenen minderjährigen Kinder der BF1 und des BF2. Die BF1 und der BF2 sprechen mit ihren Kindern tschetschenisch, russisch und einige Worte in der deutschen Sprache. Die BF3, die BF4 und die BF5 sprechen, entsprechend ihrem jeweiligen Alter, tschetschenisch und bis zu einem gewissen Grad auch russisch.

Die BF3, die BF4 und die BF5 leiden an keiner schwerwiegenden oder akut lebensbedrohlichen Erkrankung.

Sie sind strafunmündig.

1.3. Im Zuge des nunmehrigen Folgeantragsverfahrens hat sich keine wesentliche Änderung im Hinblick auf das Krankheitsbild der BF ergeben. In der Beschwerde wurde zwar behauptet, dass der gesundheitliche Zustand der BF1 und des BF2 nicht geklärt worden sei, jedoch wurden keine näheren Angaben gemacht, worauf sich diese Aussage bezieht. So wurden sowohl die BF1 als auch der BF2 eingehend zu ihren gesundheitlichen Problemen befragt (vgl. Akt der BF1 AS 37 und Akt des BF2 AS 41) und erfolgte auch im Bescheid eine eingehende Auseinandersetzung mit den vorgebrachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (vgl. Bescheid der BF1 S. 16 und Bescheid des BF2 S. 16). Die in der Beschwerde aufgestellte Behauptung, wonach sowohl die BF1 als auch der BF2 angegeben hätten, dass sich ihr gesundheitlicher Zustand verschlechtert habe, kann zudem auch nicht nachvollzogen werden, zumal sich ein solcher Sachverhalt nicht aus den niederschriftlichen Einvernahmen ergibt.

1.4. Die BF leiden letztendlich an keinen Krankheiten, welche in der Russischen Föderation nicht behandelbar sind. Mit einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat ist von keiner relevanten Verschlechterung ihres Gesundheitszustands auszugehen. Es liegen keine akut lebensbedrohlichen oder im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen vor.

1.5. Die BF halten sich seit etwa acht Jahren im Bundesgebiet auf und verfügen in ihrem Lebensbereich über gewisse soziale Anknüpfungspunkte. Sie verfügen jedoch über keine weiteren Verwandten im Bundesgebiet. Die BF sind nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt in Österreich eigenständig zu bestreiten und besitzen keine ausreichenden Eigenmittel. Sie haben nur sehr gering ausgeprägte Deutschkenntnisse und können nicht als selbsterhaltungsfähig betrachtet werden. Sie leben seit ihrer Einreise im Jahr 2013 von der Grundversorgung.

Die abweisenden Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes ergingen am 17.12.2020. Die

BF reisten trotz rechtskräftig erlassener Rückkehrentscheidungen nicht aus dem österreichischen Bundesgebiet aus. Am 01.04.2021 brachten die BF den gegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz beim BFA ein.

Die BF beziehen sich in ihren (zweiten) Anträgen auf internationalen Schutz auf Umstände, die bereits zum Zeitpunkt ihrer ersten Antragstellung auf internationalen Schutz bestanden haben. Die BF konnten seit Rechtskraft der letzten Entscheidung über ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz kein neues entscheidungsrelevantes individuelles Vorbringen glaubhaft dartun.

1.3. Zur verfahrensrelevanten Situation in der Russischen Föderation:

1.3.1. Die allgemeine Situation im Herkunftsstaat der BF hat sich in Bezug auf die bereits im - inhaltlich entschiedenen – Asylverfahren behandelten Aspekte nicht geändert. Auch zum Entscheidungszeitpunkt der Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts im ersten Verfahren auf internationalen Schutz (Dezember 2020) wurde die Thematik der aktuell vorherrschenden Covid-19 Pandemie und deren Auswirkungen bereits eingehend behandelt und hat sich im Hinblick auf diese Lage sowie betreffend die individuelle Lage der BF keine verfahrenswesentliche Änderung ergeben, weshalb weiterhin davon auszugehen ist, dass die BF keiner spezifischen Risikogruppe im Hinblick auf einen allfälligen schweren Verlauf der Krankheit angehören. Es wird nicht festgestellt, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation Drohungen oder Gewalthandlungen von staatlicher oder privater Seite zu erwarten hätten. Ebenso wird nicht festgestellt, dass sie in eine ihre Existenz bedrohende Notlage gerieten.

1.3.2. Zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation wird festgestellt:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation (generiert am 15.02.2021):

„Politische Lage

Letzte Änderung: 04.09.2020

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (GIZ 7.2020c; vgl. CIA 28.2.2020). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2020a; vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister, und entlässt sie (GIZ 7.2020a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motiviert eingestuften Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018; vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach vielen Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen (Tagesschau.de 19.3.2018; vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzesentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Am 15. Januar 2020 hat Putin in seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation eine Neuordnung des politischen Systems vorgeschlagen und eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt. Dmitri Medwedjew hat den Rücktritt seiner Regierung erklärt. Sein Nachfolger ist der Leiter der russischen Steuerbehörde Michail Mischustin. In dem neuen Kabinett sind 15 von 31 Regierungsmitgliedern ausgewechselt worden. Die Verfassungsänderungen ermöglichen Wladimir Putin für zwei weitere Amtszeiten als Präsident zu kandidieren. Der Volksentscheid über eine umfassend geänderte Verfassung fand am 1. Juli 2020 statt, nachdem er aufgrund der Corona Pandemie verschoben worden war. Bei einer Wahlbeteiligung von ca. 65% der Stimmberechtigten stimmten laut russischer Wahlkommission knapp 78% für und mehr als 21% gegen die Verfassungsänderungen. Neben der so genannten Nullsetzung der bisherigen Amtszeiten des Präsidenten, durch die der amtierende Präsident 2024 und theoretisch auch 2030 zwei weitere Male kandidieren darf, wird das staatliche Selbstverständnis der Russischen Föderation in vielen Bereichen neu definiert. Der neue Verfassungstext beinhaltet deutlich sozialere und konservativere Inhalte als die Ursprungsverfassung aus dem Jahre 1993 (GIZ 7.2020a). Nach dem Referendum kam es zu Protesten von einigen hundert Personen in Moskau. Bei dieser nicht genehmigten Demonstration wurden 140 Personen festgenommen. Auch in St. Petersburg gab es Proteste (MDR 16.7.2020).

Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für fünf Jahre gewählt. Es gibt eine Fünfprozentklausel (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c).

Zu den wichtigen Parteien der Russischen Föderation gehören: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern; Gerechtes Russland (Sprawedliwaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), links-zentristisch mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2020a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (343 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (39 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (RIA Nowosti 23.9.2016; vgl. Global Security 21.9.2016). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018).

Russland ist eine Föderation, die (einschließlich der international nicht anerkannten Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) aus 85 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2020a; vgl. AA 2.3.2020c). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2020a).

Es gibt acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten), denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2020a).

Bei den in einigen Regionen stattgefundenen Regionalwahlen am 8.9.2019 hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu den größten Protesten seit Jahren geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1.000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer „smarten Abstimmung“ aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten jeden wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall (Zeit Online 9.9.2019).

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Einwohnerzahl Tschetscheniens liegt bei ca. 1,5 Millionen. Laut Aussagen des Republikoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte von ihnen Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, so ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2019).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019, FH 4.3.2020). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den russlandweiten Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Dies kann manchmal auch außerhalb Russlands stattfinden. Kadyrow wird verdächtigt, die Ermordung von unliebsamen Personen, die ins Ausland geflohen sind, angeordnet zu haben (FH 4.3.2020).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Ein Abkommen von September 2018 über die Abtretung von umstrittenem Territorium von Inguschetien an Tschetschenien hatte politische Unruhen in Inguschetien zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Der Konflikt um die Grenzziehung flammt immer wieder auf. Im März 2019 wurden Proteste in Inguschetien gewaltsam aufgelöst, wobei manche Teilnehmer körperlich gegen die Polizei Widerstand leisteten. 33 Personen wurden festgenommen (HRW 14.1.2020). Die Proteste hatten außerdem den Rücktritt des inguschetischen Präsidenten Junus-bek Jewkurow im Juni 2019 zur Folge (ÖB Moskau 12.2019). Jewkurows Nachfolger ist Machmud-Ali Kalimatow (NZZ 29.6.2019).

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.04.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017). Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Rechtsschutz / Justizwesen

Letzte Änderung: 04.09.2020

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Verwaltungs- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EuR – Europäischer Rat) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2019). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kremls gebunden (FH 4.3.2020).

In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Am 1. Oktober 2019 trat eine Reform des russischen Gerichtswesens in Kraft, mit der eigene Gerichte für Berufungs-und Kassationsverfahren geschaffen wurden, sowie die Möglichkeit von Sammelklagen eingeführt wurde. Wenngleich diese Reformen ein Schritt in die richtige Richtung sind, bleiben grundlegende Mängel des russischen Gerichtswesens bestehen (z.B. de facto „Schuldvermutung“ im Strafverfahren, informelle Einflussnahme auf die Richter, etc.). Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen Ende 2018 rangieren die Gerichte, die Staatsanwaltschaft und die Polizei eher im unteren Bereich. 33% der Befragten zweifeln daran, dass man den Gerichten vertrauen kann, 25% sind überzeugt, dass die Gerichte das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdienen und nur 28% geben an, ihnen zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2019). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019). So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukaew im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2019).

2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, sodass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2019). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung in Einklang stehen (ÖB Moskau 12.2019; vgl. AA 13.2.2019, USDOS 11.3.2020). Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht. Mit Ende 2018 waren beim EGMR 11.750 Anträge aus Russland anhängig. Im Jahr 2018 wurde die Russische Föderation in 238 Fällen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt. Besonders zahlreich sind Konventionsverstöße wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und Verstöße gegen das Recht auf Leben, insbesondere im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in Tschetschenien oder der Situation in den russischen Gefängnissen. Außerdem werden Verstöße gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gerügt (ÖB Moskau 12.2019).

Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22.2.2017 überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018). Bei den Protesten im Zuge der Kommunal- und Regionalwahlen in Moskau im Juli und August 2019, bei denen mehr als 2.600 Menschen festgenommen wurden, wurde teils auf diesen Artikel (212.1) zurückgegriffen (AI 16.4.2020).

Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Es gibt jedoch Hinweise auf selektive Strafverfolgung, die auch sachfremd, etwa aus politischen Gründen oder wirtschaftlichen Interessen, motiviert sein kann (AA 13.2.2019).

Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 13.2.2019).

Tschetschenien und Dagestan

Letzte Änderung: 09.04.2020

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens und Dagestans. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition (EASO 9.2014).

Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem AdatRecht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [Anm. d. Staatendokumentation: für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält unter anderem auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015). Somit herrscht in Tschetschenien ein Rechtspluralismus aus russischem Recht, traditionellen Gewohnheitsrecht (Adat), einschließlich der Tradition der Blutrache, und Scharia-Recht. Hinzu kommt ein Geflecht an Loyalitäten, das den Einzelnen bindet. Nach Ansicht von Kadyrow stehen Scharia und traditionelle Werte über den russischen Gesetzen (AA 13.2.2019). Somit bewegt sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia (EASO 9.2014).

Die Einwohner Tschetscheniens sagen jedoch, dass das fundamentale Gesetz in Tschetschenien „Ramzan sagt“ lautet, was bedeutet, dass Kadyrows gesprochene Aussagen einflussreicher sind als die Rechtssysteme und ihnen möglicherweise sogar widersprechen (CSIS 1.2020).

Die Tradition der Blutrache hat sich im Nordkaukasus in den Clans zur Verteidigung von Ehre, Würde und Eigentum entwickelt. Dieser Brauch impliziert, dass Personen am Täter oder dessen Verwandten Rache für die Tötung eines ihrer eigenen Verwandten üben, und kommt heutzutage noch vereinzelt vor. Die Blutrache ist durch gewisse traditionelle Regeln festgelegt und hat keine zeitliche Begrenzung (ÖB Moskau 12.2019). Die Sitte, Blutrache durch einen Blutpreis zu ersetzen, hat sich im letzten Jahrhundert in Tschetschenien weniger stark durchgesetzt als in den anderen Teilrepubliken. Republiksoberhaupt Kadyrow fährt eine widersprüchliche Politik: Einerseits spricht er sich öffentlich gegen die Tradition der Blutrache aus und leitete 2010 den Einsatz von Versöhnungskommissionen ein, die zum Teil mit Druck auf die Konfliktparteien einwirken, von Blutrache abzusehen. Andererseits ist er selbst in mehrere Blutrachefehden verwickelt. Nach wie vor gibt es Clans, welche eine Aussöhnung verweigern (AA 13.2.2019).

In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Föderationssubjektes zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz gegenüber dem tschetschenischen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechten und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichten, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). So musste zum Beispiel im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in die föderalen Kompetenzen fällt (ÖB Moskau 12.2019).

Die Bekämpfung von Extremisten geht laut glaubwürdigen Aussagen von lokalen NGOs mit rechtswidrigen Festnahmen, Sippenhaft, Kollektivstrafen, spurlosem Verschwinden, Folter zur Erlangung von Geständnissen, fingierten Straftaten, außergerichtlichen Tötungen und Geheimgefängnissen, in denen gefoltert wird, einher. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend (AA 13.2.2019, vgl. ÖB Moskau 12.2019, AI 22.2.2018). Es gibt ein Gesetz, das die Verwandten von Terroristen zur Zahlung für erfolgte Schäden bei Angriffen verpflichtet. Menschenrechtsanwälte kritisieren dieses Gesetz als kollektive Bestrafung. Angehörige von Terroristen können auch aus Tschetschenien vertrieben werden (USDOS 11.3.2020, vgl. AA 13.2.2019). Ausgewiesene Familien können sich grundsätzlich in einer anderen Region der Russischen Föderation niederlassen und dort leben, solange sie nicht neuerlich ins Blickfeld der tschetschenischen Sicherheitskräfte rücken (ÖB Moskau 12.2019). Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; bestimmte Gruppen genießen keinen effektiven Rechtsschutz (AA 13.2.2019), hierzu gehören neben Journalisten und Menschenrechtsaktivisten (ÖB Moskau 12.2019) auch Oppositionelle, Regimek

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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