TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/27 W265 2189081-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.07.2021
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Entscheidungsdatum

27.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W265 2189081-1/38E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX auch XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 12.02.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat:

„Gemäß § 55 Abs. 2 FPG beträgt die Frist für Ihre freiwillige Ausreise 14 Tage ab Ihrer Enthaftung.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. VERFAHRENSGANG:

1. Der Beschwerdeführer reiste als unbegleiteter Minderjähriger in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 20.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 21.10.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des damals minderjährigen Beschwerdeführers statt. Er gab dabei an, afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim zu sein sowie aus der Stadt XXXX in der Provinz Nangarhar zu stammen. Befragt dazu, warum er sein Land verlassen habe, gab der Beschwerdeführer an, die Talibankämpfer hätten von seinem Vater vor zwei Jahren Geld einfordern wollen, um Waffen und Munition zu kaufen. Sein Vater habe dies aber verweigert, und sie hätten diesen mehrmals mit dem Umbringen bedroht. Eines Tages im gleichen Jahr sei ein Brief zu seinem Vater gekommen, dass es die letzte Warnung sei und sie sonst getötet würden. 15 Tage später seien sein Bruder und er in einem Vorzimmer gewesen, als in ihrem Haus ein Sprengsatz explodiert sei. Sein Bruder sei dabei getötet worden. Er selbst sei an den Beinen verletzt worden. Vor ca. neun Monaten habe er die Verlobte seines Bruders geheiratet. Trotzdem sei sein Vater von den Taliban immer wieder mit dem Umbringen bedroht worden. Vor ca. zwei Monaten habe dieser einen Anruf bekommen und sei sofort außer Haus gegangen. Seither sei er vermisst.

3. Am 03.08.2017 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er zu seinen persönlichen Umständen ergänzend an, dass er im XXXX in der Provinz Nangarhar geboren sei und dort bis zu seiner Ausreise gelebt habe. Seine Mutter sei Paschtunin und sein Vater Tadschike. Er habe bis zur 10. Klasse die Schule besucht und in Afghanistan nicht gearbeitet. Seiner Familie sei es finanziell gut gegangen, sein Vater habe einen Autohandel betrieben. Seine Familie bestehe aus seinen Eltern, zwei Brüdern und drei Schwestern. Ein Bruder sei bereits verstorben, sein Vater sei verschwunden. Wo sich der Rest der Familie befinde, wisse er nicht, er habe seit seiner Ausreise keinen Kontakt mehr zu ihnen. Zuletzt hätten sie bei seinem Onkel mütterlicherseits gelebt. Er habe ca. neun Monate vor seiner Einreise die Witwe seines Bruders geheiratet.

Zu seinen Fluchtgründen führte der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst aus, sie hätten ein schönes Leben in Afghanistan gehabt. Sein Vater sei Geschäftsmann gewesen, es sei ihnen finanziell sehr gut gegangen. Die Taliban hätten dann täglich seinen Vater angerufen und Geld verlangt. Sein Vater habe ihnen nie geholfen, weil die Taliban gesagt hätten, sie würden gegen die Regierung und Verräter kämpfen, sie müssten Waffen und Munition kaufen. Eines Tages habe sein Vater vor dem Haus einen Drohbrief gefunden. Er habe ihn und seinen Bruder aufgeweckt und ihnen den Brief vorgelesen. Darin sei gestanden, dass sein Vater sie nicht unterstützt habe, obwohl sie ihn mehrmals angerufen hätten. Wenn er diesen Brief nicht ernstnehme, sei ihr nächster Schritt, seine ganze Familie zu vernichten. 15 Tage danach habe es um zwei Uhr nachts eine Explosion in ihrem Haus gegeben. Er habe nur gemerkt, dass sein Bruder gelaufen sei, dieser habe ihn damit aufgeweckt, danach wisse er nicht, was los gewesen sei. Als er seine Augen wieder geöffnet habe, sei er im Krankenhaus gelegen. Dort habe er erfahren, dass er seinen Bruder verloren habe. Er selbst sei im Bein- und Bauchbereich verletzt worden. Danach sei das Leben nicht mehr so wie davor gewesen. Er habe das Haus nicht mehr verlassen dürfen, die Taliban hätten die Familie noch immer bedroht. Nach neun Monaten habe er seine Schwägerin heiraten müssen. Zwei Monate später sei die Familie beim Mittagessen gesessen, als die Taliban seinen Vater wieder angerufen hätten. Sein Vater sei aufgestanden und aus dem Haus gegangen, und seit damals hätten sie ihn nicht mehr gesehen. Sie wüssten nicht, wo er sei oder ob er umgebracht worden sei. Danach habe er Angst bekommen, dass ihm das gleiche passieren könnte, und sich zur Ausreise entschlossen. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Fotos vor.

4. Mit Eingabe vom 28.08.2017 legte der Beschwerdeführer eine Tazkira samt englischer Übersetzung und einen vermeintlichen Drohbrief vor.

5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit oben genanntem Bescheid vom 12.02.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für eine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, die in der Erstbefragung und in der Einvernahme vorgebrachten Gründe für das Verlassen des Herkunftsstaats hätten nicht festgestellt werden können. Aktuelle Gründe für seine vermeintliche Flucht im Sinne der Motive der GFK habe der Beschwerdeführer demnach nicht glaubhaft ausgesagt und seien weder seinen Angaben noch den gesamten Verfahrensunterlagen glaubhaft zu entnehmen. Für seine Person bestünden in Afghanistan keine Befürchtungen hinsichtlich einer Bedrohung oder Verfolgung. Er sei arbeitsfähig und arbeitswillig, habe im Heimatstaat eine Schulbildung genossen, könne im Rückkehrfall erwerbstätig sein und werde für seinen Unterhalt sorgen können. Er sei auch körperlich und geistig dazu in der Lage.

7. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 09.03.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde. In dieser wurde im Wesentlichen vorgebracht, die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen seien unvollständig und unrichtig und würden sich nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers befassen. Die belangte Behörde habe es zur Gänze unterlassen, sich mit der Situation von Personen auseinanderzusetzen, deren Familienangehörige den Taliban die Unterstützung verweigern. Deren Gefährdung ergebe sich bereits aus den UNHCR-Richtlinien. Auch die Informationen zur allgemeinen Lage in Afghanistan und zu den als mögliche Niederlassungsorte angenommenen größeren Städten seien unvollständig und nicht aktuell. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage in Afghanistan sei nach wie vor katastrophal, wozu auf diverse Berichte verwiesen werde. Die Behörde habe es auch unterlassen, Erhebungen zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers anzustellen, obwohl Hinweise vorliegen würden, dass er an Atem- und Ohrproblemen leide und deswegen auch in Behandlung stehe. Für Juni und September 2018 seien zwei Operationen angesetzt. Die Beweiswürdigung der Behörde zum Fluchtvorbringen sei aus näher dargestellten Gründen unschlüssig. Dem Beschwerdeführer drohe Verfolgung wegen der Weigerung seines Vaters, die Taliban finanziell zu unterstützen, was als eine gegen die politischen Ansichten dieser Gruppierung gerichtete politische Haltung interpretiert und entsprechend bestraft werde. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe entgegen der Ansicht der Behörde auch in Kabul angesichts der Sicherheitslage und des Fehlens eines tragfähigen familiären Netzwerks nicht offen. Bei richtiger rechtlicher Beurteilung wäre dem Beschwerdeführer daher Asyl, jedenfalls aber subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Mit der Beschwerde wurden medizinische Befunde vorgelegt.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 06.03.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 13.03.2018 einlangten.

9. Mit Eingabe vom 30.10.2018 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX , wonach der Beschwerdeführer verdächtig sei, am 19.10.2018 eine Körperverletzung begangen zu haben.

10. Mit Eingaben vom 13.11.2018 und 15.11.2018 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Verständigungen der Staatsanwaltschaft XXXX und des Bezirksgerichts XXXX , wonach gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB Anklage erhoben worden sei.

11. Mit Eingabe vom 04.09.2019 teilte die bevollmächtigte Vertretung des Beschwerdeführers mit, dass die Ladung für die mündliche Verhandlung an ihn weitergeleitet worden sei, er sich aber trotz Fristsetzung nicht bei der Vertretung gemeldet habe. Die Rechtsberatung gehe daher davon aus, dass seinerseits keine weitere Vertretung gewünscht werde und lege die von ihm erteilte Vollmacht zurück.

12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 24.09.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, der der Beschwerdeführer unentschuldigt fernblieb.

13. Mit Schreiben vom 25.09.2019 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer, binnen einer Frist von zwei Wochen mitzuteilen, aus welchen Gründen er der Ladung zur mündlichen Verhandlung nicht Folge leisten habe können, und ob er nach wie vor in Österreich aufhältig sei.

Dieses Schreiben wurde mit dem Postvermerk „unbekannt“ retourniert.

14. Mit Schreiben vom 22.10.2019 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht die Polizeiinspektion XXXX im Wege der Amtshilfe um Erhebung, ob der Beschwerdeführer an seiner Meldeadresse tatsächlich wohnhaft sei, gegebenenfalls wohin er verzogen sei. Sollte er noch an dieser Adresse wohnhaft sein, werde ersucht, ihm das beiliegende Schreiben vom 25.09.2019 gegen Übernahmebestätigung zuzustellen.

15. Mit Eingabe vom 07.11.2019 übermittelte die Polizeiinspektion XXXX einen Bericht vom 29.10.2019, wonach dem Beschwerdeführer das Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts an diesem Tag an seiner Wohnadresse übergeben worden sei. Zugleich wurde eine vom Beschwerdeführer unterfertigte Übernahmebestätigung vorgelegt.

16. Mit Eingabe vom 07.11.2019 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX , wonach der Beschwerdeführer verdächtig sei, eine schwere Nötigung, versuchte Vergewaltigung und Körperverletzung begangen zu haben.

17. Mit Eingabe vom 17.12.2019 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 Abs. 1 StGB, § 15 StGB, §§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 StGB, § 202 Abs. 1 StGB Anklage erhoben worden sei.

18. Das Bundesverwaltungsgericht holte am 16.09.2020 Auszüge aus dem Grundversorgungs-Informationssystem und dem Zentralen Melderegister ein, aus denen hervorging, dass der Beschwerdeführer seit 14.05.2020 über keine aufrechte Meldeadresse im Bundesgebiet und über kein Quartier im Rahmen der Grundversorgung verfügt. Die letzte Leistung aus der Grundversorgung war ihm am 16.01.2020 gewährt worden.

19. Mit Beschluss vom 16.09.2020 stellte das Bundesverwaltungsgericht das gegenständliche Verfahren gemäß § 24 Abs. 2 AsylG ein.

Begründend führte das Gericht im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer derzeit unbekannten Aufenthaltes sei. Es liege keine aktuelle Meldung vor und auch aus dem Grundversorgungssystem habe der der aktuelle Aufenthaltsort nicht ermittelt werden können. Er habe seinen aktuellen Aufenthaltsort weder bekannt gegeben noch sei dieser durch das Gericht leicht feststellbar. Zugleich sei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sei zur hinreichenden Klärung des Sachverhaltes erforderlich. Der Beschwerdeführer habe sich damit dem Asylverfahren gemäß § 24 Abs. 1 Z 1 AsylG entzogen, weshalb das Verfahren gemäß § 24 Abs. 2 AsylG einzustellen sei.

20. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sprach mit Bescheid vom 07.07.2021 aus, dass der Beschwerdeführer gemäß § 13 Abs. 2 Z 3 AsylG sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 08.11.2019 verloren habe, da gegen ihn an diesem Tag erstmals Untersuchungshaft verhängt worden sei.

21. Mit Beschluss vom 08.07.2021 setzte das Bundesverwaltungsgericht das gemäß § 24 Abs. 2 AsylG eingestellte Verfahren wieder fort. Im Zuge der Datenpflege sei festgestellt worden, dass der Beschwerdeführer über eine aufrechte Meldeadresse im Bundesgebiet verfüge und im Bundesgebiet aufhältig sei. Gemäß § 24 Abs. 2 AsylG sei das Verfahren daher wieder fortzusetzen gewesen.

22. Mit Eingabe vom 15.07.2021 übermittelte das Landesgericht XXXX den Beschluss vom 04.07.2021, Zl. XXXX , mit dem über den Beschwerdeführer wegen des Verdachts nach § 201 Abs. 1, 2, § 206 Abs. 1 StGB bis 19.07.2021 Untersuchungshaft verhängt wurde.

23. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 16.07.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Die Einvernahme des in Untersuchungshaft befindlichen Beschwerdeführers fand via Videokonferenz statt, das Verhandlungsprotokoll wurde ihm übermittelt. Er wurde vor Beginn der Befragung über sein Recht auf Teilnahme eines Rechtsberaters an der mündlichen Verhandlung belehrt und erklärte sich einverstanden, diese ohne rechtliche Vertretung durchzuführen. Eine Vertreterin des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nahm an der Verhandlung teil. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor.

24. Mit Schreiben vom 19.07.2021 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht die Verfahrensparteien, bekannt zu geben, welche Drogen seitens des Beschwerdeführers konsumiert werden bzw. wurden, und ob in der Untersuchungshaft eine Substitutionstherapie eingeleitet wurde. Zugleich wurde eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zur Verfügbarkeit eines Substitutionsprogramm für Drogenabhängige in Herat oder Mazar-e Sharif mit der Möglichkeit zur Stellungnahme übermittelt.

25. Mit Eingabe vom 23.07.2021 teilte die belangte Behörde in Beantwortung dieser Fragen mit, dass der Beschwerdeführer Kokain konsumiert habe und sich derzeit in Entzugstherapie befinde. Dies sei auch einem zugleich übermittelten Schreiben der Justizanstalt XXXX zu entnehmen. Auf eine Stellungnahme zum übermittelten Länderbericht werde verzichtet.

Der Beschwerdeführer erstattete keine Stellungnahme.

II. DAS BUNDESVERWALTUNGSGERICHT HAT ERWOGEN:

1. FESTSTELLUNGEN:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers, zu seinen persönlichen Umständen in Afghanistan, zu seiner Ausreise aus Afghanistan und zu seinem gesundheitlichen Zustand:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppen der Tadschiken (väterlicherseits) und Paschtunen (mütterlicherseits) sowie sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari.

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX auch XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er stammt aus der Stadt XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Nangarhar, wo er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan lebte. Er hat zehn Jahre lang die Schule besucht und ging in Afghanistan keiner Arbeit nach.

Der Beschwerdeführer und seine Familie sind sehr wohlhabend und verfügen in Afghanistan über viele Grundstücke und sonstigen Besitz. Sein Vater betrieb einen Autohandel mit zwei eigenen Geschäften. Derzeit leben jedenfalls noch seine Mutter, drei Schwestern, ein Bruder, drei Onkel mütterlicherseits und vier Onkel väterlicherseits in der Provinz Nangarhar. Er hat – über einen Onkel mütterlicherseits – regelmäßig Kontakt mit seiner Familie.

Anfang 2015 heiratete der Beschwerdeführer eine Cousine väterlicherseits. Sie lebt bei ihrem Vater in der Stadt XXXX . Er hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan 2015 allein und stellte am 20.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer leidet infolge einer Verletzung in Afghanistan an Schmerzen im linken Ohr. Im Juni und September 2018 wurde er in Österreich im Nasen- und Ohrenbereich operiert. Er hat in Österreich Kokain konsumiert und absolviert derzeit eine Entzugstherapie. Davon abgesehen ist er gesund. Bei ihm handelt es sich um einen jungen Mann im arbeitsfähigen Alter, dem eine grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben zuzumuten ist. Er wuchs mit seiner afghanischen Familie im Familienverband auf und wurde damit in Afghanistan sozialisiert.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Gefahr physischer und/oder psychischer Gewalt durch die Taliban aufgrund einer Weigerung seines Vaters, diese finanziell zu unterstützen, droht.

Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht alleine auf Grund der Tatsache, dass er mehrere Jahre in Europa verbracht hat, konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Ebenso wenig ist jeder Rückkehrer aus Europa alleine aufgrund dieses Merkmals in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Insgesamt ist der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht.

Der Beschwerdeführer hätte im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls die Möglichkeit, in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und zu leben.

1.3. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und war seit seiner Antragstellung am 20.10.2015 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Mit 08.11.2019 hat er sein Aufenthaltsrecht aufgrund der Verhängung von Untersuchungshaft verloren.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich vereinzelt Deutschkurse besucht, aber keine Deutschprüfungen abgelegt oder sonstige Ausbildungen absolviert.

Er ging in Österreich keiner erlaubten Erwerbstätigkeit nach. Er hat zwei bis drei Tage in der Woche in der Küche einer afghanischen Pizzeria geholfen.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Familienangehörigen oder vergleichbar enge soziale Kontakte. Er hat afghanische und österreichische Freunde und Bekannte.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 14.05.2020, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, des Verbrechens der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1 Z 1 StGB und des Verbrechens der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt, wovon ihm 18 Monate unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

Dieser Verurteilung lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Beschwerdeführer am 19.10.2018 einen anderen vorsätzlich am Körper verletzt hat, indem er diesem ein paar Mal in das Gesicht schlug, wodurch das Opfer leichte Körperverletzungen erlitt, am 06.11.2019 einen anderen im Zuge eines Streites durch gefährliche Drohung mit dem Tod zu zur Bejahung bestimmter Aussagen zu nötigen versucht hat, indem er zu diesem unter Vorhalt eines Küchenmesser sinngemäß sagte, dass er ihn umbringen werde, wenn er nicht auf alles, was er jetzt sagen werde, mit ja antworte, und am 06.11.2019 seine Mitbewohnerin mit Gewalt zur Duldung einer geschlechtlichen Handlung genötigt hat, indem er, nachdem er sie vergeblich zu Geschlechtsverkehr aufgefordert hatte, sich auf sie legte, sie zu Boden drückte, sie in den Hals und in weiterer Folge über dem BH in die Brust biss, sie intensiv auf den Brüsten betastete, ihr Leibchen auszog und vergeblich versuchte, ihre Hose zu öffnen, wobei er von ihr abließ, als sie zu weinen begann.

Der Beschwerdeführer befand sich von 06.11.2019 bis 14.05.2020 in Untersuchungshaft.

Seit 04.07.2021 befindet sich der Beschwerdeführer wegen des Verdachts des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs. 1 StGB und des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs. 1 StGB erneut in Untersuchungshaft.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr an seinen Herkunftsort in der Provinz Nangarhar aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde (siehe die folgenden Feststellungen unter 1.5.1.4.).

Dem Beschwerdeführer steht jedoch als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm auch unter Berücksichtigung der Folgen der aktuellen COVID-19-Pandemie möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können, zu leben. Die Gefahr, in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, besteht nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit, weshalb ihm im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Afghanistan kein Eingriff im Sinne des Art. 2 und Art. 3 EMRK in seine körperliche Unversehrtheit droht.

Der Beschwerdeführer ist jung, weitgehend gesund und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Er ist im afghanischen Familienverband aufgewachsen, sohin mit den sozialen und kulturellen Gepflogenheiten vertraut, spricht die Landessprachen Paschtu und Dari und verfügt über zehnjährige Schulbildung aus Afghanistan, welche er bei einem Leben in Mazar-e Sharif nutzen wird können. Durch sein Leben in der Großstadt XXXX ist er mit städtischen Strukturen vertraut. Er kann im Fall der Rückkehr auch mit dauerhafter finanzieller Unterstützung seiner Familie, insbesondere seiner Mutter, rechnen.

Der Beschwerdeführer leidet infolge einer Verletzung in Afghanistan an Schmerzen im linken Ohr, ist aber nicht lebensbedrohlich krank. Er konsumierte Kokain und befindet sich derzeit in einer Entzugstherapie. Der Beschwerdeführer läuft im Falle der Rückkehr jedoch nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Seine Leiden sind in Mazar-e Sharif überdies behandelbar.

Festgestellt wird, dass auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer ist gesund und gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen einer relevanten physischen Vorerkrankung keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 11.06.2021 (LIB), in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR) und den EASO-Leitlinien zu Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.5.1.  Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch Tausender Gefangener verhandelt. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt, was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte. (LIB)

1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen

Die Sicherheitslage im Jahr 2021

Mit April bzw. Mai 2021 nahmen die Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen stark zu. Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Dawlat Shah in der ostafghanischen Provinz Laghman und den Distrikt Nerkh in der Provinz (Maidan) Wardak, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten. Aufgrund der sich intensivierenden Kämpfe zwischen den Taliban und der Regierung an unterschiedlichsten Fronten in mindestens fünf Provinzen (Baghlan, Kunduz, Helmand, Kandahar und Laghman) sind im Mai 2021 bis zu 8.000 Familien vertrieben worden. Berichten zufolge haben die Vertriebenen keinen Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, Schulen oder medizinischer Versorgung.

Ende Mai/Anfang Juni übernahmen die Taliban die Kontrolle über mehrere Distrikte. Die Taliban haben den Druck in allen Regionen des Landes verstärkt, auch in Laghman, Logar und Wardak, drei wichtigen Provinzen, die an Kabul grenzen. Damit haben die Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens zwölf Distrikte erobert.

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Die Sicherheitslage verschlechterte sich im Jahr 2020, in dem die Vereinten Nationen 25.180 sicherheitsrelevante Vorfälle registrierten, ein Anstieg von 10 % gegenüber den 22.832 Vorfällen im Jahr 2019. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, sodass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt. Während die Zahl der Luftangriffe im Jahr 2020 um 43,6 % zurückging, stieg die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße um 18,4 %.

Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) der Taliban eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu.

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten.

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es in der ersten Hälfte 2020 eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand. Die Taliban hielten jedoch den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, einschließlich gefährdeter Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Autobahnen zu sichern und die Gewinne der Taliban rückgängig zu machen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar.

Zivile Opfer

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013.

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen.

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben aufständische Gruppen in Afghanistan ihre gezielten Tötungen von Frauen und religiösen Minderheiten erhöht.

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe.

Im April 2021 meldete UNAMA für das erste Quartal 2021 einen Anstieg der zivilen Opfer um 29% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Aufständische waren für zwei Drittel der Opfer verantwortlich, Regierungstruppen für ein Drittel. Seit Beginn der Friedensverhandlungen in Doha Ende 2020 wurde für die letzten sechs Monate ein Anstieg von insgesamt 38 % verzeichnet.

High-Profile Angriffe (HPAs)

High-profile Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente werden landesweit fortgesetzt, insbesondere in der Stadt Kabul. Zwischen dem 13.11.2020 und dem 11.2.2021 wurden 35 Selbstmordattentate dokumentiert, im Vergleich zu 42 im vorherigen Berichtszeitraum. Darüber hinaus wurden 88 Anschläge mit magnetischen improvisierten Sprengsätzen verübt, 43 davon in Kabul, darunter auch gegen prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Gezielte Attentate, oft ohne Bekennerschreiben, nahmen weiter zu.

Anschläge gegen Gläubige, Kultstätten und religiöse Minderheiten

Nach Unterzeichnung des Abkommens zwischen den USA und den Taliban war es bereits Anfang März 2020 zu einem ersten großen Angriff des ISKP gekommen. Der ISKP hatte sich an den Verhandlungen nicht beteiligt und bekannte sich zu dem Angriff auf eine Gedenkfeier eines schiitischen Führers; Schätzungen zufolge wurden dabei mindestens 32 Menschen getötet und 60 Personen verletzt.

Am 25.3.2020 kam es zu einem tödlichen Angriff des ISKP auf eine Gebetsstätte der Sikh (Dharamshala) in Kabul. Dabei starben 25 Menschen, 8 weitere wurden verletzt. Regierungsnahe Quellen in Afghanistan machen das Haqqani-Netzwerk für diesen Angriff verantwortlich, sie werten dies als Vergeltung für die Gewalt an Muslimen in Indien. Am Tag nach dem Angriff auf die Gebetsstätte, detonierte eine magnetische Bombe beim Krematorium der Sikh, als die Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Sikh-Mitglieder im Gange waren. Mindestens eine Person wurde dabei verletzt. Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger waren im Jahr 2020 ein häufiges Ziel gezielter Anschläge. (LIB)

1.5.1.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62 % wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15 % im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13 %. (LIB)

Taliban:

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.09.2001 an der Macht waren.

Struktur und Führung – Letzte Änderung: 11.06.2021

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung. Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen. Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können.

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar. Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk.

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan. Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert, welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde. Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind. Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben. Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist. Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran. Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen.

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden.

Jüngste Entwicklungen und aktuelle Ereignisse – Letzte Änderung: 11.06.2021

Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert, wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können. Einem lokalen Vertreter der Taliban zufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben.

Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden.

Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z. B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein. In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen, aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert. In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten. In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern.

Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind.

Die Taliban glauben, dass der Sieg ihnen gehört. Die Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, den Abzug der verbleibenden US-Truppen auf September zu verschieben, was bedeutet, dass sie über den im letzten Jahr vereinbarten Termin 01.05.2021 hinaus im Land bleiben werden, hat eine scharfe Reaktion der politischen Führung der Taliban ausgelöst. Nichtsdestotrotz scheint das Momentum auf Seiten der Militanten zu sein. Im vergangenen Jahr gab es einen offensichtlichen Widerspruch im „Jihad“ der Taliban. Nach der Unterzeichnung eines Abkommens mit den USA stellten sie Angriffe auf internationale Truppen ein, kämpften aber weiter gegen die afghanische Regierung. Ein Taliban-Sprecher besteht jedoch darauf, dass es keinen Widerspruch gibt. Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Die Taliban sind noch nicht ins Detail gegangen, wie diese aussehen würde. Ähnliche Bedenken werden im Hinblick auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert.

Die Luftwaffe, vor allem die der Amerikaner, hat in den vergangenen Jahren entscheidend dazu beigetragen, den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Die USA haben ihre Militäroperationen bereits drastisch zurückgefahren, nachdem sie im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban unterzeichnet hatten, und viele befürchten, dass die Taliban nach ihrem Abzug in der Lage sein werden, eine militärische Übernahme des Landes zu starten.

Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts. Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 %. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag. UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da ein Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde.

Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen.

Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169 %. (LIB)

1.5.1.3. Herkunftsprovinz Nangarhar

Nangarhar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Laghman und Kunar, im Osten und Süden an Pakistan (Tribal Districts Kurram, Khyber und Mohmand der Provinz Khyber Pakhtunkhwa) und im Westen an Logar und Kabul. Die Provinzhauptstadt von Nangarhar ist Jalalabad. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala [auch bezeichnet als Haska Mena], Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar und Surkh Rud, sowie dem temporären Distrikt Spin Ghar.

Nangarhar ist eine der am dichtest besiedelten Provinzen Afghanistans und das wirtschaftliche Zentrum der Ostregion des Landes. Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung von Nangarhar im Zeitraum 2020/21 auf 1.701.698 Personen; davon 271.867 Einwohner in der Hauptstadt Jalalabad. Die Bevölkerung besteht mehrheitlich aus Paschtunen, gefolgt von Pashai, Arabern und Tadschiken. Viele Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft aus Jalalabad haben Afghanistan in den letzten Jahrzehnten verlassen. Nach einem Angriff auf die Sikh-Gemeinschaft in Kabul im März 2020 kündigte die verbleibende Hindu- und Sikh-Gemeinschaft von Jalalabad an, vollständig in ein anderes Land zu übersiedeln.

Die Straße von Kabul nach Jalalabad und weiter zum Grenzübergang Torkham mit Pakistan ist Teil der Asiatischen Fernstraße AH-1 Tokio-Edirne sowie des Autobahnprojektes Peschawar-Kabul-Duschanbe und führt durch die Distrikte Surkhrod, Jalalabad, Behsud, Rodat, Batikot, Shinwar, Muhmand Dara. In Pakistan soll die Strecke von Peschawar über den Khyber-Pass zur Grenze in Torkham zur Autobahn ausgebaut werden. Auf afghanischer Seite gibt es Stand Dezember 2019 jedoch keine Aktivitäten eines Ausbaus der Strecke Torkham-Kabul.

Der Flughafen Jalalabad wird von der NATO militärisch und bei Bedarf auch zivil genutzt, vor allem während der Hadsch nach Mekka. Das United Nations Humanitarian Air Service (UNHAS), ein Flugbetreiber vorwiegend für Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, der UN und für Diplomaten, fliegt Jalalabad Stand Oktober 2020 zwei Mal wöchentlich von Kabul aus an. Mit Stand Mai 2021 finden vereinzelt Linienflüge statt. Ein neuer Flughafen für die zivile Nutzung soll im Gebiet von Kuzkunar errichtet werden. Baubeginn für das 40 Millionen US-Dollar teure Projekt war im Juli 2020, es soll in zwei Jahren abgeschlossen sein.

An der Fernstraße Kabul-Jalalabad attackieren Aufständische Konvois der Sicherheitskräfte. Im Laufe des Jahres 2019 wurden bei Verkehrsunfällen an dieser Strecke mindestens 45 Personen getötet und ca. 100 Personen verletzt. Die Grenzabfertigung in Torkham geht langsam vor sich. An den Straßen in der Provinz heben die Taliban Steuern ein. Die gebirgige Landschaft ermöglicht auch Aufständischen unkontrollierte Grenzüberquerungen in die ehemaligen Stammesgebiete Pakistans.

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Nangarhar galt als eine der ISKP-Hochburgen Afghanistans. Die Stärke des ISKP insbesondere in Nangarhar und den angrenzenden östlichen Provinzen wurde 2019 auf 2.500-4.000 Kämpfer geschätzt. Anhaltender Druck der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte und der Taliban resultierten in Niederlagen des ISKP im November 2019 in Nangarhar und im März 2020 in Kunar. Der ISKP musste die Kontrolle von Gebieten in Nangarhar aufgeben, verfügt aber nach wie vor über ein operatives Netzwerk in Kabul und eine Präsenz im Osten Afghanistans. Zahlreiche hochrangige IS-Mitglieder sind nach der militärischen Niederlage nach Pakistan geflohen.

Während die afghanischen Streitkräfte zuvor nur für kurze Zeit Gebiete vom ISKP räumen konnten, ist es nach November 2019 gelungen, diese Gebiete zu halten und die Rückkehr von ISKP-Kämpfern zu verhindern. Im Jahr 2020 wird die Sicherheitslage in Nangarhar weiterhin als volatil bezeichnet. Nach Schätzungen des Long War Journal befinden sich die Distrikte Hesarak, Lalpoor, Khugyani, Sher Zad und Surkh Rud mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Deh Bala, Dur Baba, Muhmand Dara, Nazyan, Shinwar, Rodat und Pachiragam umkämpft sind.

Al Qaida ist in Nangarhar versteckt aktiv. Die übrigen Gebiete werden von den pakistanischen Gruppen Lashkar-e Islam, Tehrik-e Taleban Pakistan und Jabhat ul-Ahrar kontrolliert, die in der Provinz unter der Schirmherrschaft der (afghanischen)Taliban agieren.

In den Distrikten Achin, Khogyani und Sherzad betreiben lokale Gemeinschaften Bürgerwehren. Sie erhalten militärische und logistische Unterstützung von der NDS und den USA und spielten eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS. In Nangarhar sind militärische Spezialeinheiten, auch als counter-terrorism pursuit teams bezeichnet, aktiv. Sie werden inoffiziell von der US Central Intelligence Agency (CIA) ausgebildet und beaufsichtigt. Ihnen werden außergerichtliche Tötungen, Massenexekutionen und Folter vorgeworfen, die straflos bleiben. Die in Nangarhar aktive Einheit wird als NDS-02 bezeichnet.

Auf Regierungsseite befindet sich Nangarhar im Verantwortungsbereich des 201. Afghan National Army (ANA) Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird. Internationale Kräfte haben sich aus Teilen Nangarhars im Mai 2020 zurückgezogen und die Verantwortung der ANA übergeben.

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 576 zivile Opfer (190 Tote und 386 Verletzte) in der Provinz Nangarhar. Dies entspricht einem Rückgang von 46 % gegenüber 2019. Die Hauptursache dafür waren Selbstmordanschläge, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Bodenkämpfe.

Nachdem im November 2019 von der Regierung die Zerschlagung des ISKP erklärt wurde, hat die Nationalarmee die Kontrolle über die Distrikte Spin Ghar, Achin, Haska Mina und Shinwari übernommen. Gemäß Angaben von Bewohnern hat sich die Sicherheitslage in diesen Distrikten deutlich verbessert. Berichte aus dem Distrikt Achin besagen, dass nach der Räumung vom ISKP die Infrastruktur weitgehend zerstört war und Gefahr durch Minen und Kampfmittelrückstände bestand. Nach der Räumung des Distriktes Khogyani vom ISKP durch die Taliban wurden die Gesundheitseinrichtungen wieder geöffnet.

In Jalalabad führen die Sicherheitskräfte Operationen gegen Schläferzellen des IS durch. Im Oktober 2020 wurde von Kämpfen in den Distrikten Sherzad und Khogyani berichtet. Kämpfe zwischen den Afghanischen Nationalen Sicherheitskräften (ANSF) und regierungsfeindlichen Gruppen gehen auch im Jahr 2021 weiter. Auch kommt es zu gezielten Tötungen von Zivilisten. Im Februar 2021 wurden in Jalalabad drei Journalistinnen bei separaten Angriffen getötet.

Es kommt staatlicherseits zu Luftangriffen gegen die Taliban und zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Taliban Aufständische führen Angriffe auf zivile Ziele und Sicherheitskräfte durch. Anschläge u. a. in der Stadt Jalalabad, die oftmals dem IS zugeschrieben werden, zeigen, dass die Gruppe immer noch in der Lage ist, komplexe Angriffe durchzuführen. (LIB)

1.5.1.4. Provinz Balkh bzw. Stadt Mazar-e Sharif

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawlat Abad, Dehdadi, Kaldar, Kishindeh, Khulm, Marmul, Mazar-e Sharif, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari.

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Balkh im Zeitraum 2020-21 auf 1,509.183 Personen, davon geschätzte 484.492 Einwohner in Mazar-e Sharif. Balkh ist eine ethnisch vielfältige Provinz, welche von Paschtunen, Usbeken, Hazara, Tadschiken, Turkmenen, Aimaq, Belutschen, Arabern, sunnitischen Hazara (Kawshi) sowie Mitgliedern der kleinen ethnischen Gruppe der Magat bewohnt wird.

Balkh bzw. die Hauptstadt Mazar-e Sharif ist ein Import-/Exportdrehkreuz sowie ein regionales Handelszentrum. Die Ring Road (auch Highway 1 genannt) verbindet Balkh mit den Nachbarprovinzen Jawzjan im Westen und Kunduz im Osten sowie in weiterer Folge mit Kabul. Rund 30 km östlich von Mazar-e Sharif zweigt der National Highway (NH) 89 von der Ring Road Richtung Norden zum Grenzort Hairatan/Termiz ab. Dies ist die Haupttransitroute für Warenverkehr zwischen Afghanistan und Usbekistan.

Entlang des Highway 1 westlich der Stadt Balkh in Richtung der Provinz Jawzjan befindet sich der volatilste Straßenabschnitt in der Provinz Balkh, es kommt dort beinahe täglich zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Auch besteht auf diesem Abschnitt in der Nähe der Posten der Regierungstruppen ein erhöhtes Risiko von IEDs - nicht nur entlang des Highway 1, sondern auch auf den Regionalstraßen. In Gegenden mit Talibanpräsenz, wie zum Beispiel in den südlichen Distrikten Zari, Kishindeh und Sholgara, ist das Risiko, auf Straßenkontrollen der Taliban zu stoßen, höher.

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Balkh zählte zu den relativ friedlichen Provinzen im Norden Afghanistans, jedoch hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren in einigen ihrer abgelegenen Distrikte verschlechtert, da militante Taliban versuchen, in dieser wichtigen nördlichen Provinz Fuß zu fassen. Ziel der Anschläge sind oftmals Sicherheitskräfte, jedoch kommt es auch zu zivilen Opfern. Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Kriminalität in Mazar-e Sharif ein Problem. Bewohner der Stadt berichteten insbesondere von bewaffneten Raubüberfällen. Im Jahr 2020 gehörte Balkh zu den konfliktreichsten Provinzen des Landes und in der Hauptstadt und den Distrikten kommt auch im Jahr 2021 weiterhin zu sicherheitsrelevanten Vorfällen. Nach Schätzungen des Long War Journal befindet sich der Distrikt Dawlat Abad mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dehdadi, Kishindeh, Nahri Shahi, Sholgara, Shortepa und Zari umkämpft sind.

Auf Regierungsseite befindet sich Balkh im Verantwortungsbereich des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - North (TAAC-N) untersteht, welche von deutschen Streitkräften geleitet wird. Das Hauptquartier des 209. Afghan National Army (ANA) „Shaheen“ Corps befindet sich im Distrikt Dehdadi. Die meisten Soldaten der deutschen Bundeswehr sind in Camp Marmal stationiert. Weiters unterhalten die US-amerikanischen Streitkräfte eine regionale Drehscheibe in der Provinz.

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 712 zivile Opfer (263 Tote und 449 Verletzte) in der Provinz Balkh. Dies entspricht einer Steigerung von 157 % gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von Luftangriffen und improvisierten Sprengkörpern (IEDs; ohne Selbstmordattentate).

Ungeachtet der Friedensgespräche finden auch weiterhin sicherheitsrelevante Vorfälle in der Hauptstadt und den Distrikten statt und Angriffen der Taliban auf Distriktzentren oder Sicherheitsposten. Die Regierungskräfte führen Räumungsoperationen durch. Ebenso wird von IED-Explosionen, beispielsweise durch Sprengfallen am Straßenrand, aber auch an Fahrzeugen befestigten Sprengkörpern (vehicle-borne IEDs, VBIEDs) sowie Selbstmordanschlägen berichtet. Auch in Mazar-e Sharif kommt es wiederholt zu IED-Anschlägen sowie Angriffen auf bzw. die Tötung von Sicherheitskräften. Zudem wird von der Entführung und Ermordung von Zivilisten in der Provinz berichtet. (LIB)

In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und im Bezirk Marmul findet wahllose Gewalt a

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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