TE Bvwg Erkenntnis 2021/4/27 W192 2187390-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.04.2021
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Entscheidungsdatum

27.04.2021

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W192 2187119-1/30E

W192 2187388-1/24E

W192 2187390-1/23E

W192 2229442-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. RUSO als Einzelrichter über die Beschwerde von 1.) XXXX , geb XXXX , StA: Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 19.01.2018, Zahl: 562704209-161553495, zu Recht:

A) I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass dieser zu lauten hat:

„Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wird gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 i.d.g.F. aberkannt. Gemäß § 9 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 i.d.g.F. wird festgestellt, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung von XXXX , geb. XXXX , nach Afghanistan unzulässig ist.“

II. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II., III. und IV. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

III. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte V. und VI. wird stattgegeben und diese ersatzlos aufgehoben.

IV. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. wird insoweit stattgegeben, als die Dauer des Einreiseverbotes auf sechs Jahre herabgesetzt wird. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. RUSO als Einzelrichter über die Beschwerden von 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , und 4.) XXXX geb. XXXX , alle StA: Afghanistan, jeweils gegen die Spruchpunkte II. bis VI. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl 2.) vom 22.01.2018, Zahl: 1105117609-161254060, 3.) vom 19.01.2018, Zahl: 1159178603-170791641 und 4.) vom 10.02.2020, Zahl: 1257439501-200038086, zu Recht:

A) I. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. wird stattgegeben und es wird 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , und 4.) XXXX , geb. XXXX , gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 i.d.g.F. jeweils der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

II. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 i.d.g.F. wird 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX und 4.) XXXX , geb. XXXX , jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. In Erledigung der Beschwerden werden die jeweiligen Spruchpunkte III., IV., V. und VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos aufgehoben.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 10.08.2011 infolge illegaler Einreise einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 28.11.2011 wies das Bundesasylamt diesen Antrag hinsichtlich des begehrten Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Erstbeschwerdeführer aber subsidiären Schutz zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung, die in weiterer Folge mehrfach (zuletzt mit Bescheid vom 27.06.2016 bis 30.06.2018) verlängert wurde.

3. Die Zweitbeschwerdeführerin, ebenfalls eine Staatsangehörige Afghanistans, reiste aufgrund eines Visums nach Österreich zu ihrem Ehemann, dem Erstbeschwerdeführer. Sie stellte am 14.09.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Am 06.07.2017 stellte sie als gesetzliche Vertreterin für den im Juni 2017 geborenen Drittbeschwerdeführer ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz.

Infolge Straffälligkeit des Erstbeschwerdeführers leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Laufe des Jahres 2017 ein Aberkennungsverfahren ein.

4. Mit Bescheid vom 19.01.2018 erkannte das BFA dem Erstbeschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, entzog ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung, erteilte dem Erstbeschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ ein Einreiseverbot in der Dauer von zehn Jahren.

5. Mit Bescheiden vom 22.01.2018 (hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin) und vom 19.01.2018 (hinsichtlich des minderjährigen Drittbeschwerdeführers) wies das BFA die Anträge der zweit- und drittbeschwerdeführenden Parteien sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch des Status der subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde jeweils mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

Am 08.01.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht in den Verfahren der erst- bis drittbeschwerdeführenden Parteien eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

6. Das BVwG wies mit Erkenntnis vom 08.05.2019, Zahl: W197 2187119-1, die vom Erstbeschwerdeführer gegen den Aberkennungsbescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

Begründend führte es zusammengefasst aus, der Erstbeschwerdeführer stamme aus einem Dorf in der afghanischen Provinz Kunar. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes mit Bescheid vom 28.11.2011 sei im Wesentlichen damit begründet worden, dass sich eine Rückkehr nach Afghanistan für den Erstbeschwerdeführer angesichts dessen damaliger Hepatitis-C-Erkrankung in Kombination mit den seinerzeit vorliegenden mangelnden Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsstaat als nicht zumutbar erwiesen habe. Insofern sei eine wesentliche Änderung eingetreten, weil der Erstbeschwerdeführer zwischenzeitlich erfolgreich therapiert worden sei. Es könne nicht erkannt werden, dass für den Erstbeschwerdeführer als gesunden und leistungsfähigen Mann im berufsfähigen Alter ohne festgestelltes besonderes individuelles Gefährdungspotential im Falle einer Niederlassung in der afghanischen Hauptstadt Kabul eine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit bestehen würde. Er liefe auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Es sei ihm möglich und zumutbar, in Kabul eine berufliche Tätigkeit zu finden, um ein für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. Die Rückverbringung des Erstbeschwerdeführers nach Afghanistan stehe somit nicht mehr im Widerspruch zu § 8 Abs. 1 AsylG 2005, weshalb die Aberkennung des subsidiären Schutzes zu erfolgen habe.

7. Mit Erkenntnissen ebenfalls vom 08.05.2019, Zahlen: W197 2187119-1 und W197 2187388-1, wies das BVwG die von der Zweitbeschwerdeführerin und vom minderjährigen Drittbeschwerdeführer erhobenen Beschwerden als unbegründet ab und sprach jeweils aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass die zweit- und drittbeschwerdeführenden Parteien eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht hätten. Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten verwies das BVwG auf die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat. Da seine Eltern jung und arbeitsfähig seien, sei auch nicht davon auszugehen, dass der minderjährige Drittbeschwerdeführer im Fall der Rückkehr nach Afghanistan seiner Lebensgrundlage beraubt sein werde. Da gegen „allesamt ebenfalls im Verfahren befindlichen Familienmitglieder [...] mit zugleich ergehenden Erkenntnissen des heutigen Tages ebenfalls gleichlautende Rückkehrentscheidungen getroffen“ worden seien, sei auch kein Eingriff in das Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK zu befürchten.

8. Mit Erkenntnis vom 17.12.2019, Zahl: Ra 2019/18/0381-12, hat der Verwaltungsgerichtshof das dargestellte Erkenntnis betreffend den Erstbeschwerdeführer in Stattgabe einer außerordentlichen Revision wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt:

„Die wesentliche Änderung der Umstände erblickte das BVwG im vorliegenden Fall darin, dass der Revisionswerber an jener Krankheit, die entscheidend für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz an den Revisionswerber gewesen sei, nicht mehr leide. Damit legt das BVwG in der Person des Fremden gelegene Sachverhaltsänderungen dar, die grundsätzlich geeignet wären, eine Aberkennung nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 zu rechtfertigen.

Als weitere Voraussetzung für die Aberkennung muss allerdings geprüft werden, ob eine Rückkehr des Betroffenen in den Herkunftsstaat in der jetzigen Situation ohne Beeinträchtigung seiner in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 geschützten Rechte möglich ist.

In diesem Zusammenhang scheint das BVwG - unausgesprochen - davon auszugehen, dass eine Rückkehr des Revisionswerbers in seine Heimatprovinz Kunar nicht ungefährdet möglich ist, weil es den Revisionswerber - ebenfalls nur implizit - auf eine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 2005 in der afghanischen Hauptstadt Kabul verweisen möchte.

Diesbezüglich verweist die Revision zu Recht auf zwei Umstände, die bei der Beurteilung des Sachverhalts durch das BVwG mangelhaft erfolgt sind, weshalb das angefochtene Erkenntnis schon deshalb keinen Bestand haben kann:

Zum einen ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden an entsprechende Empfehlungen des UNHCR gebunden wären. Sie haben sich aber mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. etwa VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533, auf dessen nähere Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird).

Die gebotene Auseinandersetzung mit den aktuellen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, die angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage eine interne Schutzalternative in der Stadt Kabul für grundsätzlich nicht verfügbar ansehen, hat das BVwG fallbezogen zur Gänze unterlassen und sein Verfahren dadurch mit einem Verfahrensmangel belastet.

Zum anderen hat das BVwG zwar berücksichtigt, dass der Revisionswerber ein verheirateter Vater eines minderjährigen Kindes (im Alter von zwei Jahren) ist und sich seine Ehefrau sowie der minderjährige Sohn ebenfalls in Österreich aufhalten. Es hat festgestellt, dass diese Familienangehörigen „mit Erkenntnissen des selben Tages ebenfalls negativ finalisiert [...] und zur Ausreise verpflichtet“ worden seien, weshalb die Familie nicht getrennt werde, sondern gemeinsam nach Afghanistan zurückkehren werde.

Bei dieser Ausgangslage reicht es nicht, die Rückkehrsituation des Revisionswerbers allein in den Blick zu nehmen. Dies wäre nur dann möglich, wenn von einer alleinigen Rückkehr des Revisionswerbers nach Afghanistan ausgegangen werden könnte, was wiederum Erwägungen zur Trennbarkeit der Familie unter Bedachtnahme auf Art. 8 EMRK vorausgesetzt hätte, welche das BVwG fallbezogen nicht angestellt hat. Es hätte daher einer genauen Überprüfung bedurft, ob es rechtlich zulässig ist, die Familie mit einem kleinen Kind nach Kabul zu verweisen.

Dabei wäre darauf Bedacht zu nehmen gewesen, dass es sich beim Minderjährigen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes um eine besonders vulnerable und besonders schutzwürdige Person handelt. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob bei Rückkehr in die Heimat eine Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die Familie mit zumindest einem minderjährigen Kind - fallbezogen in Afghanistan - tatsächlich vorfinden wird (vgl. etwa jüngst VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0303 bis 0307, mwN).

Diesem Erfordernis entspricht das angefochtene Erkenntnis nicht. Es enthält keine Erwägungen dazu, welche konkrete Rückkehrsituation die Familie in Kabul vorfinden würde. Die nicht näher begründete Überlegung des BVwG, dem Revisionswerber werde es möglich und zumutbar sein, in Kabul eine berufliche Tätigkeit zu finden, um ein für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, reicht dafür jedenfalls nicht.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Ermittlungs- und Begründungsmängel zu einem anderen Verfahrensergebnis gelangen hätte können, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.“

9. Am 13.01.2020 wurde durch die Zweitbeschwerdeführerin die Geburt eines weiteren Sohnes, des nunmehrigen Viertbeschwerdeführers, im Bundesgebiet bekanntgegeben.

10. Mit Bescheid vom 10.02.2020 hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den gemäß § 17a AsylG ex lege eingebrachten Antrag auf internationalen Schutz des minderjährigen Viertbeschwerdeführers sowohl im Hinblick auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch bezüglich der Gewährung subsidiären Schutzes abgewiesen, einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, gegen den Minderjährigen eine Rückkehrentscheidung erlassen, festgestellt, dass dessen Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei sowie eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass seitens seiner gesetzlichen Vertreterin keine individuellen Antragsgründe für den minderjährigen Viertbeschwerdeführer geltend gemacht worden seien und in den Verfahren seiner Eltern, welche gegenwärtig vor dem Bundesverwaltungsgericht respektive dem Verwaltungsgerichtshof anhängig seien, jeweils aufenthaltsbeendende Maßnahmen erlassen worden seien, sodass eine gemeinsame Rückkehr im Familienverband in den Herkunftsstaat möglich sei.

11. Gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie die darauf aufbauenden Spruchteile wurde im Verfahren des minderjährigen Viertbeschwerdeführers am 09.03.2020 eine Beschwerde eingebracht, in welcher begründend im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Familie des minderjährigen Viertbeschwerdeführers aus einer volatilen Region Afghanistans stamme und die Behörde sich mit der Einschätzung des UNHCR zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative für Familien im vorliegenden Bescheid nicht auseinandergesetzt und auch keine Feststellungen zu im Herkunftsstaat bestehenden Unterstützungsnetzwerken getroffen hätte.

12. Mit Entscheidungen vom 06.05.2020, Zahlen: Ra 2019/14/0311 und 0314-15, hat der Verwaltungsgerichtshof in den Verfahren der Zweitbeschwerdeführerin und des minderjährigen Drittbeschwerdeführers I. beschlossen, dass die Revisionen gegen die unter Punkt I.7. dargestellten Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten richten, zurückgewiesen werden sowie II. zu Recht erkannt, dass die angefochtenen Erkenntnisse in ihrem übrigen Umfang wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben werden. Begründend wurde insbesondere erwogen:

„Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 17. Dezember 2019, Ra 2019/18/0381, betreffend den Revisionsfall des Ehemannes bzw. Vaters der revisionswerbenden Parteien mit den in den Revisionen aufgeworfenen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Rückkehr in den Herkunftsstaat ohne Beeinträchtigung der in § 8 Abs. 1 AsylG 2005 geschützten Rechte möglich ist, bereits ausführlich auseinandergesetzt und das dortige Erkenntnis des BVwG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Zusammengefasst hat der Verwaltungsgerichtshof in dieser Entscheidung festgehalten, dass das BVwG die gebotene Auseinandersetzung mit den aktuellen UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, die angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage eine interne Schutzalternative in der Stadt Kabul für grundsätzlich nicht verfügbar ansehen, zur Gänze unterlassen und sein Verfahren mit einem Verfahrensmangel belastet habe. Außerdem habe das BVwG nicht darauf Bedacht genommen, dass es sich bei einem Minderjährigen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Person handle. Diese besondere Vulnerabilität sei bei der Beurteilung, ob bei Rückkehr in die Heimat eine Verletzung der durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte drohe, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordere insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die Familie - mit zumindest einem minderjährigen Kind - fallbezogen in Afghanistan tatsächlich vorfinden werde. Diesem Erfordernis entspreche das angefochtene Erkenntnis nicht. Es enthalte keine Erwägungen dazu, welche konkrete Rückkehrsituation die Familie in Kabul vorfinden würde. Die nicht näher begründete Überlegung des BVwG, dem dortigen Revisionswerber - also dem Ehemann und Vater der hier revisionswerbenden Parteien - werde es möglich und zumutbar sein, in Kabul eine berufliche Tätigkeit zu finden, um ein für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften, reiche dafür jedenfalls nicht.

Auch die hier angefochtenen Erkenntnisse setzen sich mit den Richtlinien des UNHCR vom 30. August 2018 nicht auseinander. Sie enthalten ebenfalls keine Erwägungen dazu, welche konkrete Rückkehrsituation die Familie in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat vorfinden würde. Der Umstand, dass das BVwG in Bezug auf die revisionswerbenden Parteien neben Kabul auch eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat angenommen hat, vermag fallbezogen am Ergebnis nichts zu ändern. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes problematisiert der UNHCR die Verfügbarkeit einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative für afghanische Staatsangehörige auch in Bezug auf andere Städte als Kabul und macht diese von einer sorgfältigen Prüfung für den jeweiligen Antragsteller unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände - wie im vorliegenden Fall die Minderjährigkeit des Zweitrevisionswerbers - abhängig (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2019/19/0043, mwN).

Es lässt sich nicht ausschließen, dass das bei Berücksichtigung der aktuellen Berichtslage und bei Vermeidung der aufgezeigten Ermittlungs- und Begründungsmängel ein anderes Ergebnis zwar nicht in Bezug auf die Zuerkennung von Asyl, wohl aber in Bezug auf die Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz, möglich wäre. Von den revisionswerbenden Parteien wurde damit insoweit auch die Relevanz dieses Verfahrensmangels aufgezeigt.

Insbesondere erweist sich als wesentlich, dass das BVwG bei der Beurteilung der Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative erkennbar darauf abgestellt hat, dass die Familie aufgrund mit Erkenntnissen des BVwG vom selben Tag rechtskräftig erlassener Rückkehrentscheidungen gemeinsam nach Afghanistan zurückkehren werde und in erster Linie der Ehemann bzw. Vater der revisionswerbenden Parteien für die Existenzsicherung sorgen könne.

Gemäß § 42 Abs. 3 VwGG wirkt die Aufhebung eines Erkenntnisses eines Verwaltungsgerichts durch den Verwaltungsgerichtshof „ex tunc“. Das bedeutet, dass der Rechtszustand im Nachhinein so zu betrachten ist, als ob das aufgehobene Erkenntnis von Anfang an nicht erlassen worden wäre (vgl. VwGH 17.9.2019, Ra 2018/14/0118, mwN). Aufgrund der Aufhebung das den Ehemann und Vater der revisionswerbenden Parteien betreffende Erkenntnis des BVwG stellt sich die den hier bekämpften Erkenntnissen zugrunde liegende Prämisse, dass dieser wesentlich zur Existenzsicherung beitragen könne, als unzutreffend dar.

Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten sowie der rechtlich darauf aufbauenden Aussprüche, die ihre Grundlage verlieren, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Hinsichtlich der Abweisung des Begehrens auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten vermögen hingegen die Revisionen, die insoweit lediglich substanzloses Vorbringen enthalten, nicht aufzuzeigen, dass der Verwaltungsgerichtshof eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu lösen hätte. Insoweit waren die Revisionen mangels Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG zurückzuweisen.“

13. Mit Eingaben jeweils vom 16.04.2021 wurde durch die bevollmächtigte Vertreterin der beschwerdeführenden Parteien bekanntgegeben, dass für die beiden älteren minderjährigen Söhne des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin am 24.02.2021 Folgeanträge gestellt worden seien und eine Zulassung der diesbezüglichen Verfahren vor dem Bundesamt erfolgt sei.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Personen der beschwerdeführenden Parteien:

Die beschwerdeführenden Parteien, deren Identität jeweils nicht zweifelsfrei festgestellt werden konnte, sind Staatsangehörige Afghanistans, welche der Volksgruppe der Paschtunen angehören und sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung bekennen. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stammen ursprünglich aus einem Dorf in der Provinz Kunar und haben Afghanistan ihren Angaben zufolge jeweils zu einem nicht konkret feststellbaren Zeitpunkt ihrer Kindheit Richtung Pakistan verlassen, wo sie in der Folge bis zur Ausreise nach Europa lebten. Der Erstbeschwerdeführer besuchte dort sechs Jahre eine Schule und arbeitete im Bereich der Reinigung in einer Apotheke. Die Zweitbeschwerdeführerin hat keine Schule besucht und nie gearbeitet.

Der im Jahr 2011 ins Bundesgebiet eingereiste Erstbeschwerdeführer und die im Jahr 2016 im Rahmen der Familienzusammenführung zu ihrem Ehemann ins Bundesgebiet eingereiste Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern des im Juni 2017 in Österreich geborenen Drittbeschwerdeführers und des im Jänner 2020 in Österreich geborenen Viertbeschwerdeführers. Zwei weitere in den Jahren 2009 und 2013 geborene minderjährige Söhne des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, welche im Jahr 2015 im Rahmen der Familienzusammenführung zum Erstbeschwerdeführer nach Österreich nachgereist waren, befinden sich ebenfalls in Österreich, ein Verfahren über die für diese am 24.02.2021 gestellten Folgeanträge auf internationalen Schutz ist gegenwärtig beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl anhängig.

Die beschwerdeführenden Parteien leiden jeweils an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und benötigen keine exklusiv im Bundesgebiet verfügbare medizinische Behandlung. In Bezug auf die zum Zeitpunkt der Zuerkennung subsidiären Schutzes vorgelegene Erkrankung des Erstbeschwerdeführers an Hepatitis-C und die damals prognostizierten Probleme einer medizinischen Heilbehandlung ist insofern eine wesentliche Änderung eingetreten, als dieser zwischenzeitlich erfolgreich therapiert worden und laut eigener Aussage vom behandelnden Arzt offiziell als vollständig genesen diagnostiziert worden ist.

1.2. Zu einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:

Der aktuelle Aufenthaltsort von sämtlichen im Herkunftsland verbliebenen Verwandten des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin ist nicht bekannt. Es kann nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführenden Parteien in ihrer Herkunftsprovinz oder in einem anderen Teil Afghanistans über ein tragfähiges soziales Netz verfügen.

Es ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass den Beschwerdeführern bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsprovinz Kunar ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohen würde. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin könnten bei einer Rückkehr nach Kunar oder Neuansiedelung etwa in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat aktuell die grundlegenden und notwendigen Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft, für sich und den minderjährigen Drittbeschwerdeführer sowie den minderjährigen Viertbeschwerdeführer (sowie die beiden weiteren im Bundesgebiet aufhältigen minderjährigen Söhne) nicht im ausreichenden Maße befriedigen und würden daher aktuell in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten.

1.3. Zur Situation der beschwerdeführenden Parteien in Österreich:

Die beschwerdeführenden Parteien leben zusammen mit zwei weiteren minderjährigen Söhnen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in einem gemeinsamen Haushalt im Bundesgebiet und haben außerhalb des Kreises ihrer Kernfamilie keine zum dauernden Aufenthalt berechtigten Angehörigen in Österreich.

Der Erstbeschwerdeführer hat während seines Aufenthaltes die deutsche Sprache grundlegend erlernt. Eine längerfristige Integration am österreichischen Arbeitsmarkt ist nicht erfolgt. Dieser bezieht seit 11.05.2019 Notstandshilfe. Von 11.05.2019 bis 22.09.2019, von 07.11.2019 bis 15.03.2020, von 27.04.2020 bis 24.07.2020, von 10.09.2020 bis 04.12.2020 war dieser als Arbeiter geringfügig beschäftigt.

Der Erstbeschwerdeführer wurde mit in Rechtskraft erwachsenem Urteil eines österreichischen Landesgerichts vom 20.03.2017 wegen (I.) des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter und sechster Fall, Abs. 4 Z 3 SMG und (II.) des Vergehens der Vorbereitung von Suchtgifthandel nach § 28 Abs. 1 zweiter Fall SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

Der Erstbeschwerdeführer wurde schuldig gesprochen, im Bundesgebiet vorschriftswidrig Suchtgift und zwar Cannabiskraut mit den Wirkstoffen THCA in einem Reinheitsgehalt von zumindest 0,67%

I. zwischen Juli 2016 und 24.10.2016 in einer das 25-fache der Grenzmenge des § 28b SMG übersteigenden Menge anderen

1.       überlassen zu haben, indem er zumindest 6.738,62 Gramm an eine Vielzahl bislang nicht ausgeforschter Abnehmer um EUR 3,30 bis EUR 5,00 veräußerte;

2.       verschafft zu haben, indem er 7.000 Gramm an bislang unbekannte Freunde vermittelte und diese zu einem namentlich bezeichneten Käufer begleitete und dafür EUR 100,00 bis 300,00 pro Kilogramm als Provision erhielt;

II. am 24.10.2016 in einer die Grenzmenge des § 28 b SMG übersteigenden Menge mit dem Vorsatz besessen zu haben, dass es in Verkehr gesetzt werde, indem er 3.261,38 Gramm zum Zwecke des gewinnbringenden Verkaufs in seiner Wohnung lagerte.

Im Rahmen der Strafbemessung wertete das Landesgericht den bisher ordentlichen Lebenswandel, das umfassende reumütige Geständnis sowie die Sicherstellung des Suchtgifts als mildernd sowie das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit einem Vergehen als erschwerend.

Der Erstbeschwerdeführer befand sich von 25.10.2016 bis 23.02.2018 in Haft in österreichischen Justizanstalten. Am 24.02.2018 wurde er unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt entlassen.

Ein weiterer Aufenthalt des Erstbeschwerdeführers im Bundesgebiet stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist strafgerichtlich unbescholten, die minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer sind strafunmündig.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison – was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierungen und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten – als Reaktion auf einen Anschlag – absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan. (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

[…]

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

Folgender Tabelle kann die Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen pro Jahr im Zeitraum 2016-2018, sowie bis einschließlich August des Jahres 2019 entnommen werden:

[…]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

Tab. 2: Zivile Opfer im Zeitverlauf 1.1.2009-30.9.2019 nach UNAMA (Darstellung der Staatendokumentation beruhend auf UNAMA-Daten (UNAMA 24.2.2019; UNAMA 17.10.2019)) […]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 1.6.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 1.12.2018 und15.5.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten, zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.2.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten „Geldbußen“ und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.4.2018) bis Ende des Jahres 2018, wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.2.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben. (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) – Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub – Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar – und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll12 Ableger, in acht Provinzen betreibt (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Saripul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019 ;vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten „ein nützliches Fundraising-Tool“ sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

Im Rahmen der Friedensgespräche mit US-Vertretern haben die Taliban angeblich im Jänner 2019 zugestimmt, internationale Terrorgruppen wie Al-Qaida aus Afghanistan zu verbannen (TEL 24.1.2019).

Kabul

Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (CSO 2019; vgl. IEC 2018).

Laut dem UNODC Opium Survey 2018 verzeichnete die Provinz Kabul 2018 eine Zunahme der Schlafmohnanbaufläche um 11% gegenüber 2017. Der Schlafmohnanbau beschränkte sich auf das Uzbin-Tal im Distrikt Surubi (UNODC/MCN 11.2018).

Kabul-Stadt – Geographie und Demographie

Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 5.029.850 Personen für den Zeitraum 2019-20 (CSO 2019). Die Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten. Einige Quellen behaupten, dass sie fast 6 Millionen beträgt (AAN 19.3.2019). Laut einem Bericht, expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile – auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.3.2019) – zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die afghanische zentrale Statistikorganisation (Central Statistics Organization, CSO) schätzt die Bevölkerung der Provinz Kabul für den Zeitraum 2019-20 auf 5.029.850 Personen (CSO 2019). Sie besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ o.D.; vgl. NPS o.D.).

Abb.1: Kabul, Police Distrikts (Darstellung der Staatendokumentation)

[…] (Quelle: BFA 13.2.2019)

Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014). In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit internationalen und nationalen Passagierflügen bedient wird (BFA Staatendokumentation 25.3.2019).

Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.3.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).

Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen: Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine disruptive Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.3.2019).

Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalen oder ethnischen Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018).

Aufgrund eben dieser öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.9.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem unter anderem, Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFERL 2.9.2019; vgl. FAZ 2.9.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 2.9.2019). Die Anlage wird stark von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern gesichert (AJ 3.9.2019). Die Gree

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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