Entscheidungsdatum
11.06.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W169 2154262-1/24E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Barbara MAGELE als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Mag. German BERTSCH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.04.2017, Zl. 1068329606-150502041, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.05.2021, zu Recht erkannt:
A)
I.
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II.
In Erledigung der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG idgF eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist und XXXX gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1. AsylG 2005 idgF der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt wird.
III.
Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt IV. stattgegeben und dieser ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler, schlepperunterstützter Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 13.05.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass er XXXX heiße und am XXXX geboren sei. Er habe zuletzt in Kabul gelebt, spreche die Sprache Pashtu, gehöre der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime an und sei ledig. Der Beschwerdeführer habe zehn Jahre die Grundschule in der Provinz Logar besucht und zuletzt als Lebensmittelverkäufer gearbeitet. Sein Vater sei verstorben. Er habe eine Mutter, drei Brüder und eine Schwester. Zum Ausreisegrund führte der Beschwerdeführer an, dass seine Cousine väterlicherseits namens Rezagul und er ineinander verliebt gewesen seien. Sie seien auch intim geworden. Davon hätten ihre und seine Familie erfahren. Sie sei vor ca. dreieinhalb Monaten von ihrer Familie umgebracht worden. Der Vater des Beschwerdeführers habe auch ihn umbringen wollen, weshalb der Beschwerdeführer Afghanistan verlassen habe. Später habe der Beschwerdeführer erfahren, dass sein Bruder und sein Vater von der Familie des Mädchens entführt worden seien. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan habe der Beschwerdeführer Angst um sein Leben.
2. Am 03.08.2015 übermittelte Dänemark in Bezug auf den Beschwerdeführer, der dort am 14.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte, ein Wiederaufnahmeersuchen gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-VO an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. Als Identitätsdaten wurde der Name XXXX , geboren am XXXX , angeführt.
3. Am 27.08.2015 wurde der Beschwerdeführer nach Österreich rücküberstellt.
4. Anlässlich seiner Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 08.06.2016 gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass er seit vier Monaten wegen Depressionen in neurologischer Behandlung sei. Er nehme das Medikament Venlafaxin. Er habe bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nicht die Wahrheit gesagt, da er nicht in Österreich bleiben habe wollen. Die dänischen Identitätsdaten seien richtig. Auch der Fluchtgrund, den der Beschwerdeführer in Österreich angegeben habe, sei falsch. Es gehe aber schon um die „Liebesgeschichte“, er habe sie aber nicht detailliert erzählt. Der Beschwerdeführer sei in Kabul geboren, gehöre der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime und der Volksgruppe der Paschtunen an und spreche Pashtu sowie mittelmäßig Dari. Er habe zehn Jahre in Kabul die Grundschule besucht und als Verkäufer gearbeitet. Die finanzielle Situation sei gut gewesen. Er habe selbst ein Geschäft gehabt, welches sein Onkel mütterlicherseits verkauft habe, als der Beschwerdeführer in Pakistan gewesen sei. Die Familie habe zudem in Logar Grundstücke gehabt. Er habe zuletzt in Kabul gewohnt. Seine Mutter und seine Geschwister würden seit ca. einem Jahr in Pakistan leben. In Afghanistan habe er noch Onkel und Tanten väterlicher- und mütterlicherseits mit ihren Familien. Mit seiner Verwandtschaft mütterlicherseits habe er Kontakt. Außerdem habe er in Dänemark und Deutschland Cousins. Der Beschwerdeführer habe ein gutes Verhältnis zu seiner Familie.
Zu seinem Fluchtgrund brachte der Beschwerdeführer vor, dass er sich für das, was er getan habe, schäme. Der Beschwerdeführer habe in Logar an einer Trauerfeier teilgenommen, da der Vater seines Freundes verstorben sei. Es sei spät gewesen und er sei zu seiner Tante väterlicherseits gegangen, wo er seine Cousine gesehen habe. Nach dem Abendessen sei er ins Gästezimmer gegangen um zu schlafen. Später, als er im Bett gewesen sei, habe er eine Stimme gehört. Dies sei die Stimme der Cousine gewesen. Er sei aufgewacht und habe sie gesehen. Er habe gefragt, was sie hier machen würde und sie habe gesagt, dass sie nicht schlafen könne. Sie habe auch gesagt, dass sie nicht in Anwesenheit „meiner“ (gemeint wohl: ihrer) Mutter mit ihm sprechen habe können. Sie habe sich über ihr Leben in der Familie beschwert. Sie habe ihn dann geküsst und umarmt. Er habe ihr gesagt, sie solle das nicht machen, weil sie einen Ehemann habe. Sie habe gesagt, dass sie den Beschwerdeführer liebe und ihn heiraten wolle. Dann habe der Beschwerdeführer sich auch nicht kontrollieren können und sie hätten miteinander geschlafen. Sie hätten währenddessen eine Stimme gehört. Es sei die Stimme der Schwägerin der Cousine gewesen. Sie habe sie erwischt. Sie sei zum Beschwerdeführer gekommen und habe gesagt, dass er sich schämen müsse und sie habe ihm eine Ohrfeige gegeben. Sie habe es auch seiner Tante gesagt. Die Situation sei sehr schlimm für den Beschwerdeführer gewesen. Er habe seine Jacke genommen und sei weggegangen. Er sei zu einem Freund gefahren. Er habe diesem dann die Geschichte erzählt und dieser habe gesagt, dass er schlafen solle. Am nächsten Morgen sei der Onkel mütterlicherseits zu ihm gekommen. Der Beschwerdeführer habe „es“ ihm erzählt und dieser habe ihn beschimpft. Als der Beschwerdeführer dann erfahren habe, dass das Mädchen von der Familie getötet worden sei, habe er die Heimat verlassen müssen, da auch sein Leben in Gefahr gewesen sei.
Zu den Lebensumständen in Österreich führte der Beschwerdeführer aus, dass er einen Deutschkurs besuche, in einem Chor singe und Fitness betreibe. Er lebe von der Grundversorgung.
Im Zuge der Einvernahme legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses vom 20.05.2016, eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses auf dem Niveau A1.1 vom 07.06.2016, Unterlagen über die Mitgliedschaft in einem Fitnessclub, eine Bestätigung über die Mitgliedschaft in einem Chor vom 07.03.2016 und eine weitere Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs mit Freiwilligen vor.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß § 57 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer Blutrache fürchte, gegen die kein staatlicher Schutz bestehe. Beantragt wurde die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung.
7. Am 09.05.2017 übermittelte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht ein Empfehlungsschreiben.
8. Am 06.02.2018 übermittelte der Beschwerdeführer vier weitere Empfehlungsschreiben sowie drei Bestätigungen über den Besuch von Deutschkursen auf dem Niveau A1.1 vom 06.12.2016, auf dem Niveau A1.2 vom 17.03.2017 und auf dem Niveau A2.1 vom 30.06.2017.
9. Am 23.02.2018 und am 19.03.2018 langten beim Bundesverwaltungsgericht eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses des Beschwerdeführers auf dem Niveau A2.2 vom 22.02.2018 sowie zwei Bestätigungen über die Teilnahme an einer Schulung zum Thema „Zahngesundheit“ am 12.12.2017 und am 29.01.2018 ein.
10. Am 10.07.2018 übermittelte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses auf dem Niveau B1.1 vom 05.07.2018.
11. Am 11.12.2018 langte beim Bundesverwaltungsgericht ein Schreiben des AMS ein, wonach der Beschwerdeführer eine Beschäftigungsbewilligung vom 07.12.2018 bis zum 25.04.2019 erhalten habe.
12. Am 27.12.2018 teilte das AMS mit, dass der Beschwerdeführer eine weitere Beschäftigungsbewilligung vom 27.12.2018 bis zum 30.04.2019 erhalten habe.
13. Am 06.05.2019 teilte das AMS mit, dass dem Beschwerdeführer vom 08.07.2019 bis zum 13.10.2019 eine Saisonbewilligung erteilt worden sei.
14. Am 19.01.2021 übermittelte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht eine Tazkira in Kopie und beantragte, sein Geburtsdatum auf den XXXX abzuändern, da dies das richtige Geburtsdatum laut seiner „Geburtsurkunde“ sei.
15. Am 01.04.2021 stellte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter einen Fristsetzungsantrag gemäß § 38 Abs. 4 VwGG. Mit verfahrensleitender Anordnung vom 12.04.2021, Fr 2021/14/0014-3, forderte der Verwaltungsgerichtshof das Bundesverwaltungsgemäß auf, binnen drei Monaten die Entscheidung im gegenständlichen Verfahren zu erlassen.
16. Am 03.05.2021 legte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht unter erklärenden Ausführungen ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor, und zwar: eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses auf dem Niveau B1.2 vom 30.08.2018, einen Ausbildungspass zu einem B-Führerschein, eine Bestätigung über die Beschäftigung des Beschwerdeführers vom 29.12.2018 bis 21.04.2019 und 08.07.2019 bis 30.09.2019 als Küchengehilfe und Abwäscher bei der Firma „ XXXX “ (Inhaber: XXXX ) vom 06.11.2019, eine Bestätigung der Firma „ XXXX “ über die Einstellung des Beschwerdeführers als Kellner nach Ende des Lockdowns in Österreich vom 23.04.2021, eine Bestätigung über die Teilnahme des Beschwerdeführers an der Schulung „HACCP & Gute Hygiene Praxis“ am 16.12.2019, einen Vereinsregisterauszug über den Verein „Cricket Club Vorarlberg“, eine Bestätigung über die Vormerkung des Beschwerdeführers für die Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 am 29.05.2021, acht Empfehlungsschreiben, ein Foto, Lohnzettel als Küchenhilfe im „ XXXX Restaurant“ vom Dezember 2019 bis Oktober 2020 zu einem Gesamtbruttolohn von EUR 16.696,30, Lohnzettel als Kellner beim Arbeitgeber XXXX vom Jänner 2019 bis April 2019 und Juli 2019 bis September 2019 zu einem Gesamtbruttolohn von EUR 12.552,13, Honorare als Zusteller bei der Firma „ XXXX “ vom Juli 2018 bis Dezember 2019 zu einem Gesamtverdienst von EUR 18.164,70. Ebenso legte der Beschwerdeführer zwei aktuelle ärztliche Bestätigungen vor, wonach er unter chronischen Rückenschmerzen leide, weshalb eine regelmäßige Schmerzmedikation und Physiotherapie notwendig sei, und ihm weiters eine reaktive depressive Symptomatik mit teils somatoformen Beschwerden wie chronischen Kopfschmerzen und Rückenschmerzen diagnostiziert werden. Zudem beantragte der Beschwerdeführer, eine namentlich genannte Zeugin zum Beweis der Integration des Beschwerdeführers einzuvernehmen.
17. Am 05.05.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist entschuldigt ferngeblieben. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen, Rückkehrbefürchtungen und Integrationsbemühungen in Österreich befragt (s. Verhandlungsprotokoll). Der Beschwerdeführer legte nochmals seine Tazkira (Beilage ./A), zwei Empfehlungsschreiben, ein Schreiben der XXXX GmbH vom 03.05.2021, wonach der Beschwerdeführer seit Jänner 2017 bis zum heutigen Datum als Zusteller bei XXXX GmbH tätig sei, ein Bezugskonto bei der Firma „ XXXX “ für das Jahr 2020 mit einem Gesamtverdienst von EUR 9.950,36, eine Bestätigung über eine nicht näher detaillierte zukünftige Teilzeitarbeit im Unternehmen „ XXXX e.U.“, eine Bestätigung des AMS über den Anspruch auf Arbeitslosengeld vom 17.03.2021 (Beilage ./B) sowie einen aktuellen Meldezettel (Beilage ./C) vor. Dem Beschwerdeführer wurden die bereits mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung übermittelten aktuellen Länderberichte vorgehalten.
18. Mit Schriftsatz vom 18.05.2021 legte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht einen Mietvertrag vom 30.04.2021 über eine ca. 85m² große gemeinnützige Wohnung zu einem Mietzins von EUR 532,83 und eine Meldebestätigung vor und führte hierzu aus, dass er mit zwei Mitbewohnern in der gemieteten Wohnung lebe. Es werde zudem mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer am 28.05.2021 zur Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 antreten werde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest.
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, Angehöriger der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime und der Volksgruppe der Paschtunen. Der Beschwerdeführer stammt aus der Stadt Kabul und hat dort bis zu seiner Ausreise im gemeinsamen Haushalt mit seiner Familie gelebt. Er ist volljährig und im erwerbsfähigen Alter.
Der Beschwerdeführer spricht die Sprachen Pashtu sowie mittelmäßig Dari. Er besuchte in Kabul zehn Jahre die Grundschule und arbeitete zuletzt als Lebensmittelverkäufer im Geschäft seiner Familie. Seine Familie besitzt zudem verpachtete Felder in der Provinz Logar.
Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers leben in der Stadt Kabul in einem eigenen Haus. Der Beschwerdeführer hat Onkel und Tanten mütterlicherseits und väterlicherseits sowie ihre Familien in Afghanistan, und zwar jedenfalls in der Stadt Kabul und in der Provinz Logar. Ein Onkel mütterlicherseits in Kabul betreibt ein Geschäft und arbeitet zudem als Fahrer. In Deutschland und Dänemark leben Cousins des Beschwerdeführers, die eigene Geschäfte betreiben. Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seiner Familie.
Der Beschwerdeführer leidet an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung. Er leidet an chronischen Rückenschmerzen und einer reaktiven depressiven Sympotmatik mit teils somatoformen Beschwerden. Er nimmt zurzeit die Medikamente Neurobion (enthält Vitamin B), Oleovit (enthält Vitamin D) und Passedan (enthält Passionsblumenkraut) ein. Er steht nicht in psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung.
Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.
Die Fluchtgründe Beschwerdeführers sind nicht glaubwürdig. Der Beschwerdeführer hatte nicht mit seiner verheirateten Cousine väterlicherseits außerehelichen Geschlechtsverkehr und wird deswegen nicht bedroht. Dem Beschwerdeführer droht auch sonst keine asylrelevante Gefahr in Afghanistan.
Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan könnte sich der Beschwerdeführer, ein junger, arbeitsfähiger und weitgehend gesunder Mann, der Pashtu und Dari spricht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates bestens vertraut ist und über jahrelange Arbeitserfahrung als Verkäufer verfügt, sowie in Österreich in der Gastronomie tätig war, wieder in der Stadt Kabul bei seiner Familie niederlassen. Zumal der Beschwerdeführer wie schon vor seiner Auseise, im gemeinsamen Haushalt mit seiner Familie leben könnte, ist davon auszugehen, dass er in der Lage wäre, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Darüber hinaus ist notfalls grundsätzlich auch von einer (finanziellen) Unterstützung seiner in Afghanistan lebenden Verwandtschaft auszugehen. Auch eine monetäre Unterstützung durch seine in Europa lebenden Cousins, die eigene Geschäfte betreiben, ist im Notfall durchaus denkbar, zumal die Lebenserhaltungskosten in Afghanistan wesentlich geringer ausfallen. Weiters ist dem Beschwerdeführer nach der Ankunft in Kabul die Inanspruchnahme von Reintegrationshilfen möglich und zumutbar. Die Stadt Kabul ist über den dortigen Flughafen sicher erreichbar. Die Sicherheitssituation in Kabul ist ausreichend stabil.
Alternativ könnte sich der Beschwerdeführer auch in der Stadt Mazar-e Sharif niederlassen und sich dort eine Existenz aufbauen und sichern. Mazar-e Sharif ist über den dortigen Flughafen sicher erreichbar. Die Sicherheitssituation in der Stadt ist stabil.
Hinsichtlich der Versorgungslage und der allgemeinen Lebensbedingungen der Bevölkerung in Mazar-e Sharif ist festzustellen, dass dort allgemein der Zugang zu Unterkunft, grundlegender Versorgung wie sanitäre Infrastruktur, Gesundheitsdiensten und Bildung und zu Erwerbsmöglichkeiten gegeben ist, wenn auch die Gesamtsituation angespannt ist.
Vor dem Hintergrund der Sicherheits- und Versorgungslage in der Stadt Kabul und Mazar-e Sharif ist auf Basis der persönlichen Merkmale des Beschwerdeführers in einer Gesamtschau festzustellen, dass in diesen Städten weder ein solcher Grad willkürlicher Gewalt herrscht, dass der Beschwerdeführer allein durch seine Anwesenheit tatsächlich einer ernsthaften, individuellen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt ist und er zudem nicht Gefahr läuft, dort grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Zudem könnte der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen.
Der Beschwerdeführer hat keine Verwandtschaft in Österreich. Er hat Deutschkurse auf dem Niveau A1, A2 und B1 besucht. Er hat eine Integrationsprüfung des ÖIF auf dem Niveau A2 nicht bestanden und ist zu einer neuerlichen Prüfung am 28.05.2021 angemeldet. Der Beschwerdeführer verfügt über passable Deutschkenntnisse.
Der Beschwerdeführer hat Schulungen zum Thema „Zahngesundheit“ sowie zum Thema „HACCP & Gute Hygiene Praxis“ besucht und macht eine Führerscheinausbildung.
Der Beschwerdeführer hat vom Juli 2018 bis Dezember 2020 als Zusteller bei der XXXX GmbH & CO KG zu einem Bruttogesamthonorar von EUR 28.115,06 gearbeitet. Er hat vom Jänner 2019 bis April 2019 und von Juli 2019 bis September 2019 als Kellner bei der Firma „ XXXX “ zu einem Gesamtbruttolohn von EUR 12.552,13 und von Dezember 2019 bis Oktober 2020 als Küchenhilfe im „ XXXX Restaurant“ zu einem Gesamtbruttolohn von EUR 16.696,30 gearbeitet. Der Beschwerdeführer bezieht zurzeit Arbeitslosengeld und arbeitet geringfügig als Zeitungszusteller bei der XXXX .. Er verfügt über eine Einstellungszusage als Kellner bei der Firma „ XXXX “ nach Ende des Lockdowns in Österreich (d.h. ab 19.05.2021). Der Beschwerdeführer bezieht seit Jänner 2019 keine Leistungen aus der Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer war Mitglied in einem Chor und in einem Fitnesscenter. Er ist Mitglied in einem Cricket-Verein. Er verfügt über österreichische Freunde und Bekanntschaften. Er wohnt seit 03.05.2021 privat mit zwei Mitbewohnern in einer ca. 85 m² großen gemeinnützigen Wohnung zu einem Gesamtmietzins von EUR 532,83.
1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat wird Folgendes festgehalten:
1. COVID-19
Letzte Änderung: 31.03.2021
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land. Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).
Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021)
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern". Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch lang anhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).
Quellen:
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2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 25.03.2021
Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht (SIGAR 30.7.2020).
Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer "strategischen Pattsituation", die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).
Die Sicherheitslage im Jahr 2020
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021). Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).
Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).
In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).
Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).
Zivile Opfer
Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA 2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).
Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).
Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).
Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).
UNAMA 2.2021
Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die "Woche der Gewaltreduzierung" vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).
High-Profile Angriffe (HPAs)
Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).
Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten 'green-on-blue-attack': der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den