TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/9 W261 2173468-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.07.2021
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Entscheidungsdatum

09.07.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W261 2173468-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX auch XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Robert BITSCHE, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Vorarlberg, vom 04.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II. und III. erster Satz des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II.               Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. zweiter Satz des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan auf Dauer unzulässig ist.

III.        Dem Beschwerdeführer wird der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

IV.            Die Spruchpunkte III. dritter Satz und IV. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 02.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am selben Tag fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen an, in seinem Ort sei Krieg gewesen. Sein Vater sei umgebracht worden, deshalb sei er geflüchtet. Die Taliban würden sagen, das Gebiet gehöre ihnen, und deswegen würden sie umgebracht.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 04.08.2017 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, er sei Hazara und schiitischer Muslim. Er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Maidan Wardak, wo er bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan gelebt habe. Er habe sieben Jahre die Grundschule besucht und als Landwirt sowie Hilfsarbeiter gearbeitet. 2008-2009 und 2013-2014 sei er jeweils rund ein Jahr im Iran gewesen. Er sei seit 2002 verheiratet und habe drei Söhne und zwei Töchter. Seine Ehefrau, Kinder und Mutter würden nunmehr im Iran leben, sein Vater sei bereits verstorben. In Afghanistan lebe nur noch ein Onkel väterlicherseits, mit dem er jedoch verfeindet sei. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer medizinische Befunde und Integrationsunterlagen vor.

Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, sein Problem habe mit dem Streit zwischen seinem Vater und seinem Onkel (dessen Bruder) angefangen. Sein Großvater habe mehr Erbe für seinen Vater als für seinen Onkel hinterlassen. Im Jahr 1387 (2008-2009) habe sein Onkel mit den Kutchi und den Taliban zusammengearbeitet, er habe von den Taliban eine Waffe bekommen. Im Juni 2008 habe sein Onkel behauptet, dass fünf seiner Schafe zu ihren Schafen gekommen seien. Er sei mit fünf Taliban-Anhängern zu ihnen gekommen und habe dem Beschwerdeführer vorgeworfen, die Schafe gestohlen zu haben. Sie hätten nach islamischem Gesetz seine Hand abtrennen wollen. Drei Taliban hätten ihn festgehalten und die anderen hätten sein Bein abtrennen wollen. Einer der Taliban habe mit dem Messer der Kalaschnikow auf sein Bein gedrückt. Er sei bewusstlos gewesen und in einem Krankenhaus in Kabul wieder zu sich gekommen. Sein Vater habe ihm erzählt, dass diese Personen ihn erst freigelassen hätten, nachdem er dem Onkel ein großes Grundstück gegeben habe. Er sei fünf Tage im Krankenhaus gewesen und habe zwei Monate nicht gehen können. Sein Vater habe ihm dann gesagt, er solle in den Iran gehen, bis sich die Lage beruhigt habe. Nach einem Jahr im Iran sei er abgeschoben worden. Danach sei er von seinem Onkel, dessen Söhnen und Kollegen bedroht worden. Er habe nur eine Nacht zuhause bleiben können und aus Angst zwei Nächte in den Bergen verbracht. Sein Vater habe gemeint, dass der Onkel ihn umbringen wolle, damit er die ganze Erbschaft bekomme. Er sei bis 1392 (2013-2014) unter ständiger Angst in Afghanistan geblieben. Dann habe ihm sein Vater wieder geraten, in den Iran zu gehen, von wo er jedoch wieder abgeschoben worden sei. Im Juli 2015 sei sein Onkel eines Tages mit den Taliban zu ihnen gekommen und habe ihre Schafe mitnehmen wollen. Als sein Vater die Schafe zurückholen habe wollen, sei er erschossen worden. Er wisse nicht, ob sein Onkel oder die Taliban seinen Vater getötet hätten. Er habe gesehen, dass viermal auf ihn geschossen worden sei. Er sei noch 55 Tage in Afghanistan geblieben, bis die Trauerfeier für seinen Vater vorbei gewesen sei. Dann habe er Afghanistan verlassen, nachdem seine Mutter gesagt habe, er wäre dort nicht in Sicherheit. Im April 2017 seien auch seine Frau, Mutter und Kinder aus Angst vor seinem Onkel und dessen Söhnen in den Iran gegangen.

3. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 04.10.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab. Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt (Spruchpunkt III. erster Satz), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt III. zweiter Satz) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III. dritter Satz). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es sei nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer wegen Grundstücksstreitigkeiten bzw. Streitigkeiten um Vieh mit seinem Onkel einer Verfolgung durch die Familie seines Onkels, die Taliban, die Kutschi oder Dritte ausgesetzt gewesen sei bzw. sei. Es sei nicht feststellbar, dass sein Vater getötet worden sei. Das von ihm geschilderte Verhalten im Bedrohungszeitraum widerspreche jeglicher Bedrohungssituation. Selbst bei angenommenem Wahrheitsgehalt seines Vorbringens hätte sich der Beschwerdeführer in einem anderen Teil seines Heimatlandes niederlassen können. Es habe kein zeitlicher Zusammenhang zwischen den von ihm behaupteten Vorfällen 2007 bzw. 2008 und seiner Ausreise 2015 festgestellt werden können. Es liege eine relevante Gefährdungslage in Bezug auf seine unmittelbare Heimatprovinz, nicht aber Afghanistan allgemein vor. Die Sicherheitslage in Kabul und Mazar-e Sharif sei relativ sicher, diese Städte seien auch sicher erreichbar. Beschwerdeführer verfüge in Afghanistan noch über genügend familiäre Anknüpfungspunkte. Er verfüge über Schulbildung und Berufserfahrungen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass er bei einer Rückkehr in eine die Existenz bedrohende Notlage gedrängt würde. Er leide zwar an einer Schlafstörung, Erinnerungslücken und Kopfschmerzen, weise jedoch keine lebensbedrohliche Erkrankung auf.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 12.10.2017 fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, er habe seine Heimat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung vonseiten nichtstaatlicher Akteure aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Vaters sowie vor Verfolgung vonseiten der Taliban aufgrund einer ihm unterstellten politischen Gesinnung verlassen. Des Weiteren hätte er im Fall seiner Rückkehr mit unmenschlicher Behandlung zu rechnen und sein Leben und seine Unversehrtheit wären in größter Gefahr. Der afghanische Staat sei weder in der Lage noch willens, den Beschwerdeführer ausreichend zu schützen. Die Provinz Maidan Wardak sei instabil, aber auch in einem anderen Teil Afghanistans wäre sein Leben in größter Gefahr, insbesondere wäre er auch als Rückkehrer aus Europa und somit in den Augen der Taliban als Ungläubiger einer besonderen Gefährdung ausgesetzt. Eine Rückkehr sei dem Beschwerdeführer in einer Gesamtschau nicht zumutbar, da er aufgrund seiner persönlichen Situation (seine Kernfamilie lebe derzeit im Iran) sowie der derzeitigen Sicherheitslage unweigerlich in eine ausweglose Situation geraten würde. Er wäre nicht in der Lage, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Erschwerend komme hinzu, dass er Hazara sei und deshalb tagtäglich Diskriminierungen durch die afghanischen Behörden und die einheimische Bevölkerung ausgesetzt wäre. Die Beweiswürdigung der Behörde zum Fluchtvorbringen sei in mehreren Punkten nicht nachvollziehbar und mangelhaft begründet. Die in Afghanistan gängige Praxis von Blutfehden sei durch diverse Länderberichte belegt. Bei richtiger Beurteilung wäre dem Beschwerdeführer Asyl, zumindest aber subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen.

5. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 13.10.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 16.10.2017 in der Gerichtsabteilung W173 einlangte.

6. Mit Eingaben vom 04.01.2018 und 16.01.2018 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung medizinische Befunde vor.

7. Mit Eingabe vom 05.03.2019 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen und medizinische Unterlagen vor.

8. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.03.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 01.04.2021 einlangte.

9. Mit Eingabe vom 26.05.2021 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, er lebe nunmehr seit knapp sechs Jahren in Österreich. Er habe sich während seines Aufenthaltes nachhaltig integriert und eine Existenz in Österreich aufgebaut. Der Beschwerdeführer sei stets gewillt, sich weiterzubilden und zu engagieren. Er spreche bereits sehr gut Deutsch auf B1-Niveau und sei am 25.05.2021 zur Prüfung angetreten, das Ergebnis liege noch nicht vor. Weiters habe er seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt. Auch habe er sich ein soziales Netz an Freunden und Bekannten aufgebaut und verfüge über weitreichende persönliche Bindungen zu Österreich. Freunde würden ihn als sehr fleißig, hilfsbereit, höflich und bemüht beschreiben. Der Beschwerdeführer sei sozial engagiert und habe bereits mehrere ehrenamtliche Tätigkeiten geleistet. Er habe sich immer um eine Arbeitsstelle bemüht, jedoch bisher aufgrund der fehlenden Arbeitsbewilligung nicht arbeiten dürfen. Dennoch verfüge er bereits über einen Arbeitsvorvertrag. Der Beschwerdeführer leide auch an gesundheitlichen Problemen und sei wegen einer Schlafstörung, Konzentrationsproblemen und Vergesslichkeit in regelmäßiger Behandlung. Während der Therapie sei festgestellt worden, dass er an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. 2017 sei ihm eine Arachnoidalzyste entfernt worden, seither müsse er regelmäßig Medikamente einnehmen und zur Kontrolle gehen. Aufgrund seines sehr langen Aufenthaltes in Österreich, seiner gelungenen Integration und des sozialen Lebens sei in jedem Fall die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären. Mit der Stellungnahme wurden Integrationsunterlagen, Unterstützungsschreiben und medizinische Befunde vorgelegt.

10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 27.05.2021 eine mündliche Verhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen, der Situation im Falle seiner Rückkehr und zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Die belangte Behörde nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

Die Parteien erstatteten keine weiteren Stellungnahmen.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und schiitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari, er spricht auch Farsi, Deutsch und Englisch.

Er stammt aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Maidan Wardak. Sein Vater hieß XXXX , er verstarb im Sommer 2015. Seine Mutter heißt XXXX , sie ist 70 Jahre alt. Er hat keine Geschwister.

Der Beschwerdeführer ist seit Mai 2002 mit XXXX , geboren am XXXX , verheiratet. Sie haben gemeinsam drei Söhne, XXXX , geboren am XXXX (= XXXX ), XXXX , geboren am XXXX (= XXXX ) und XXXX , geboren am XXXX (= XXXX ), sowie zwei Töchter, XXXX , geboren am XXXX (= XXXX ) und XXXX , geboren am XXXX (= XXXX ).

Die Ehefrau, Kinder und Mutter des Beschwerdeführers leben seit 2017 im Iran. Er hat regelmäßigen Kontakt mit seiner Ehefrau.

Der Beschwerdeführer hat in Afghanistan nur in seinem Heimatdorf gelebt. Er hat in einem Nachbarort sieben Jahre lang die Grundschule besucht und ca. 15 Jahre lang in der Landwirtschaft seiner Familie und als Hilfsarbeiter auf Baustellen gearbeitet. In den Jahren 2008-2009 und 2013-2014 lebte er ein Jahr bzw. zehn Monate lang im Iran, er wurde von dort aber jeweils wieder nach Afghanistan abgeschoben.

In Afghanistan lebt im Heimatdorf noch ein Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers. Zu diesem hat er keinen Kontakt.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan 2015 allein und stellte am 02.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die sich in Form von Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit und Kopfschmerzen äußert. In der Zeit von 16.07.2018 bis 26.11.2019 besuchte er 54 Einheiten einer Psychotherapie und danach weitere sechs Einheiten zur Stabilisierung und Verlaufskontrolle bei der XXXX , wovon der letzte Termin am 21.05.2021 stattfand. In der Zeit vom September 2019 bis Jänner 2020 war er regelmäßig in psychiatrisch-fachärztlicher Behandlung. Am 05.12.2017 wurde ihm eine intraventrikuläre Arachnoidalzyste links operativ entfernt.

Von diesen Beschwerden abgesehen ist er gesund. Er ist arbeitsfähig.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

1.2.1. Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan nicht wegen Streitigkeiten um Grundstücke und Schafe von seinem Onkel väterlicherseits oder auf dessen Ersuchen von den Taliban oder Kuchis verfolgt oder bedroht. Sein Vater wurde nicht aufgrund dieser Streitigkeiten erschossen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch seinen Onkel, die Taliban, Kuchis oder andere Personen.

1.2.2. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und zur Religionsgemeinschaft der Schiiten konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.

1.2.3. Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in Europa bzw. in Österreich in Afghanistan keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt.

1.3.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit November 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 02.11.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich mehrere Deutschkurse besucht und bereits am 30.06.2017 das A2-Sprachzertifikat erworben. In den Jahren 2018 und 2019 besuchte er B1-Deutschkurse. Am 25.05.2021 hat er eine B1-Deutschprüfung abgelegt, deren Ergebnis zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht vorlag. Von Februar 2020 bis Februar 2021 absolvierte er den Pflichtschulabschlusskurs an der VHS XXXX . Die Pflichtschulabschlussprüfung hat er im Februar 2021 erfolgreich abgelegt. Dabei wurde er im Fach „Deutsch – Kommunikation und Gesellschaft“ positiv beurteilt.

Seit 2017 leistet der Beschwerdeführer gemeinnützige Tätigkeiten für die Gemeinde XXXX , er pflegt die Wege und Plätze des Friedhofs in XXXX . Von 2016 bis 2018 besuchte er regelmäßig das „Deutschcafé“ in XXXX .

Er verfügt über einen Arbeitsvorvertrag vom 18.05.2021, laut dem er – bedingt mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels mit Zugang zum Arbeitsmarkt – zum ehestmöglichen Zeitpunkt bei der Schlosserei XXXX GmbH als Hilfsarbeiter mit einem monatlichen Bruttolohn von 2.000 Euro zu arbeiten beginnen könnte.

Er wird von seinen Vertrauenspersonen als fleißig, höflich, ehrlich, vertrauenswürdig, freundlich, natürlich, aufgeschlossen, angenehm, hilfsbereit, lernwillig, verlässlich, offen, motiviert, engagiert, zuvorkommend, interessiert, ordentlich, ruhig, zielorientiert, respektvoll, verantwortungsvoll, aktiv, dankbar, zurückhaltend und gewissenhaft beschrieben.

In seiner Freizeit nimmt der Beschwerdeführer an Karatetrainings teil und ist Vereinsmitglied beim österreichischen Karatebund und Mitglied des Karatevereins „ XXXX “. Er konnte in Karate bereits mehrere Gürtel erwerben.

Der Beschwerdeführer hat in Österreich viele Freunde und Bekannte, aber keine Familienangehörigen oder vergleichbar enge soziale Kontakte.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.4.    Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seinen Heimatort in der Provinz Maidan Wardak aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Dem Beschwerdeführer steht jedoch eine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung.

Die Ehefrau, fünf Kinder und Mutter des Beschwerdeführers leben heute im Iran. Seine Frau arbeitet in einem Garten und auf einer Hühnerfarm. In Afghanistan lebt in seinem Heimatdorf noch ein Onkel väterlicherseits, zu dem er keinen Kontakt hat. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Familie des Beschwerdeführers ihn im Fall der Rückkehr zumindest vorübergehend finanziell unterstützen könnte.

Der Beschwerdeführer kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Diese umfasst jedenfalls die notwendigen Kosten der Rückreise.

Der Beschwerdeführer war noch nie in Mazar-e Sharif, er kann sich jedoch rasch Ortskenntnisse aneignen.

Der Beschwerdeführer ist weitgehend gesund, anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Er verfügt über siebenjährige Schulbildung und rund fünfzehnjährige Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft und als Hilfsarbeiter auf Baustellen, die er auch in Mazar-e Sharif nutzen wird können. Er spricht die Landessprache Dari als Muttersprache und ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die sich in Form von Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit und Kopfschmerzen äußert. Er ist nicht lebensbedrohlich krank und läuft im Falle der Rückkehr nach Mazar-e Sharif nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.5.    Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Fassung vom 01.04.2021 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo-Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne” vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 07.07.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 07.07.2021 (WHO)

1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (LIB, Kapitel 4).

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind (LIB, Kapitel 4).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (LIB, Kapitel 5).

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5)

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wiederaufgenommen worden (LIB, Kapitel 4)

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6 % unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 23.1).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 23.1).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen, wobei schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten Tagelöhner sind. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (LIB, Kapitel 23.3).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (LIB, Kapitel 23.3).

Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33 % und im Textilbereich 65 % der Arbeitskräfte (LIB, Kapitel 23.3).

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 23.3).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (LIB, Kapitel 23.3).

Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließendem Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (LIB, Kapitel 23.2).

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen (LIB, Kapitel 23.2).

Afghanistan ist von einem Wohlfahrtsstaat weit entfernt, und Afghanen rechnen in der Regel nicht mit Unterstützung durch öffentliche Behörden. Verschiedene Netzwerke ersetzen und kompensieren den schwachen staatlichen Apparat. Das gilt besonders für ländliche Gebiete, wo die Regierung in einigen Gebieten völlig abwesend ist (LIB, Kapitel 23.5).

Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Armee und Polizei). Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch (LIB, Kapitel 23.5).

Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Berichten zufolge arbeitet die afghanische Regierung an der Schaffung eines Pensionssystems im Privatsektor. Private Unternehmen können für ihre Angestellten Pensionskonten einführen, müssen das aber nicht. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt (LIB, Kapitel 23.5).

Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), zwei Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 23.6).

1.5.3. Medizinische Versorgung

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20 (LIB, Kapitel 24).

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Mio. Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (LIB, Kapitel 24).

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan, und 87 % der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (LIB, Kapitel 24)

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden. Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt, Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene. Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund zehn Mio. Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung (LIB, Kapitel 24).

Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (LIB, Kapitel 24).

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden, was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen (LIB, Kapitel 24).

Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste. Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt. Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führt nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwingt viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen (LIB, Kapitel 24).

Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen, oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar, und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf (LIB, Kapitel 24.1).

Die Haupthindernisse für den Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan sind die hohen Behandlungskosten, der Mangel an Ärztinnen, die großen Entfernungen zu den Gesundheitseinrichtungen und eine unzureichende Anzahl an medizinischem Personal in den ländlichen Gebieten, Korruption und Abwesenheit des Gesundheitspersonals sowie Sicherheitsgründe (LIB, Kapitel 24.1).

Viele Staatsangehörige - die es sich leisten können - gehen zur medizinischen Behandlung ins Ausland nach Pakistan oder in die Türkei - auch für kleinere Eingriffe. In Pakistan zum Beispiel ist dies zumindest für die Mittelschicht vergleichsweise einfach und erschwinglich (LIB, Kapitel 24.1).

Sowohl die Quantität als auch die Qualität von essenziellen Medikamenten sind eine große Herausforderung für das afghanische Gesundheitssystem. Da es keine nationale Regulierungsbehörde gibt, sind Medikamente, Impfstoffe, biologische Mittel, Labormittel und medizinische Geräte nicht ordnungsgemäß reguliert, was die Gesetzgebung und die Durchsetzung von Gesetzen fast unmöglich macht (LIB, Kapitel 24.2)

Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall. Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert (LIB, Kapitel 24.1).

1.5.3.1. Psychische Erkrankungen

Viele Menschen innerhalb der afghanischen Bevölkerung leiden unter verschiedenen psychischen Erkrankungen als Folge des andauernden Konflikts, Naturkatastrophen, endemischer Armut und der COVID-19-Pandemie. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat mentale Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt, doch der Fortschritt ist schleppend und die Leistungen außerhalb Kabuls dürftig. Gemäß der „Nationalen Strategie für psychische Gesundheit 2019-2023“ erhalten weniger als 10 % der Bevölkerung die für die Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen erforderlichen medizinischen Leistungen, und nur ein psychosozialer Berater steht für je 46.000 Menschen zur Verfügung. Da es kaum Anzeichen für eine Einstellung der Feindseligkeiten oder einen dauerhaften humanitären Waffenstillstand im Jahr 2021 gibt, wird geschätzt, dass bis zu 310.500 Traumafälle aufgrund des anhaltenden und eskalierenden Konflikts eine medizinische Notfallbehandlung benötigen (LIB, Kapitel 24.3).

Der Zugang zu psychischer Gesundheitsversorgung oder psychosozialer Unterstützung bleibt für viele unerreichbar, insbesondere in ländlichen Gebieten. Obwohl psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützungsdienste (Mental Health and Psychosocial Support Services, MHPSS) in das nationale Basic Package of Health Services (BPHS) und Essential Package of Hospital Services (EPHS) integriert wurden, stehen landesweit nur 320 Krankenhausbetten im öffentlichen und privaten Sektor für Menschen mit psychischen Problemen zur Verfügung (LIB, Kapitel 24.3).

In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden – genauso wie Kranke und Alte – gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sicherstellen. Die Behandlung von psychischen Erkrankungen – insbesondere Kriegstraumata – findet, abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Es gibt keine formelle Aus- oder Weiterbildung zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Neben Problemen beim Zugang zu Behandlungen bei psychischen Erkrankungen bzw. dem Mangel an spezialisierter Gesundheitsversorgung sind falsche Vorstellungen der Bevölkerung über psychische Erkrankungen ein wesentliches Problem. Psychische Erkrankungen sind in Afghanistan hoch stigmatisiert. Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam; so existiert z.B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Zwar sieht das Basic Package of Health Services (BPHS) psychosoziale Beratungsstellen innerhalb der Gemeindegesundheitszentren vor, jedoch ist die Versorgung der Bevölkerung mit psychiatrischen oder psychosozialen Diensten aufgrund des Mangels an ausgebildeten Psychiatern, Psychologen, psychiatrisch ausgebildeten Krankenschwestern und Sozialarbeitern schwierig (LIB, Kapitel 24.3)

Wie auch in anderen Krankenhäusern Afghanistans ist eine Unterbringung im Kabuler Krankenhaus von Patienten grundsätzlich nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. So werden Patienten bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen (LIB, Kapitel 24.3).

Die Internationale Psycho-Soziale Organisation (IPSO) bietet Menschen in Kabul Beratungsdienste zu psychosozialen und psychischen Gesundheitsfragen an, und Peace of Mind Afghanistan ist eine nationale Kampagne zur Sensibilisierung für psychische Gesundheit, die Botschaften und Instrumente zum psychischen Wohlbefinden verbreitet (LIB, Kapitel 24.3).

In folgenden Krankenhäusern kann man außerdem Therapien bei Persönlichkeits- und Stressstörungen erhalten: Mazar-e Sharif Regional Hospital: Darwazi Balkh; in Herat das Regional Hospital und in Kabul das Karte Sae Mental Hospital. Wie bereits erwähnt gibt es ein privates psychiatrisches Krankenhaus in Kabul, aber keine spezialisierten privaten Krankenhäuser in Herat oder Mazar-e Sharif. Dort gibt es lediglich Neuropsychiater in einigen privaten Krankenhäusern (wie dem Luqman Hakim Private Hospital), die sich um diese Art von Patienten tagsüber kümmern. In Mazar-e Sharif existieren z. B. ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus (LIB, Kapitel 24.3).

1.5.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Mio. Menschen. Davon sind ca. 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 19).

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10 % der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri, Afshar und Kart-e Mamurin (LIB, Kapitel 19.3)

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara – an. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10 % in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (LIB, Kapitel 19.3.).

1.5.5. Religionen

Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 10 bis 19 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1 % der Bevölkerung aus. Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017 (LIB, Kapitel 18).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB, Kapitel 18).

1.5.5.1. Schiiten

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19 % geschätzt. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten. Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Gemäß Zahlen von UNAMA gab es im Jahr 2019 zehn Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, die 485 zivile Opfer forderten (117 Tote und 368 Verletzte), was einem Rückgang von 35% gegenüber 2018 entspricht, als es 19 Fälle gab, die 747 zivile Opfer forderten (233 Tote und 524 Verletzte). Der Islamische Staat Khorasan Provinz (ISKP) bekannte sich zu sieben der zehn Vorfälle und gab an, dass diese auf die religiöse Minderheit der schiitischen Muslime ausgerichtet waren. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristische Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw. Hazara durchgeführt (LIB, Kapitel 18.1).

Die schiitische Hazara-Gemeinschaft bezeichnet die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung in den von Schiiten dominierten Gebieten als unzureichend. Die afghanische Regierung bemüht sich erneut um die Lösung von Sicherheitsproblemen im von schiitischen Hazara bewohnten Gebiet Dasht-e Barchi im Westen von Kabul-Stadt, das im Laufe des Jahres Ziel größerer Angriffe war, und kündigte Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) an. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; es wurde jedoch angemerkt, dass die Regierung Waffen direkt an die Wachen der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilt habe, die als mögliche Angriffsziele angesehen werden (LIB, Kapitel 18.1).

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; vier Parlamentssitze sind für Ismailiten reserviert (LIB, Kapitel 18.1).

Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten, Pilgerfahrten zu unternehmen (LIB, Kapitel 18.1).

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 01.01.2018 - 31.12.2020 gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog. Darüber hinaus hat Afghanistan die meisten der einschlägigen völkerrechtlichen Verträge - zum Teil mit Vorbehalten - unterzeichnet und/oder ratifiziert. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten (LIB, Kapitel 13).

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Die Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte strafrechtlich zu verfolgen, die für sexuelle Übergriffe, Folter und die Tötung von Zivilisten verantwortlich sind. (LIB, Kapitel 13).

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdu

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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