Entscheidungsdatum
27.07.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W134 2193538-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas Gruber als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.03.2018, Zahl 1090702406-151535380, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.03.2019 zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde wird hinsichtlich des Spruchpunktes II. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: „BF“ genannt) stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 11.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2016.
2. Am 12.10.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF statt. Zu seinem Fluchtgrund befragt brachte der BF vor, dass er im Iran geboren worden sei. Afghanen würden im Iran sehr schlecht behandelt werden. Er sei mehrere Male von der Polizei geschlagen worden.
3. Am 18.01.2018 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Außenstelle Linz (im Folgenden: „BFA“ genannt), im Asylverfahren niederschriftlich einvernommen. Dabei führte er zunächst an im Iran geboren worden zu sein. Er sei Hazara und schiitischer Moslem. Seine Eltern würden aus Daikundi stammen. Er habe vier Jahre eine Schule im Iran besucht. Seine Eltern und Geschwister würden noch im Iran leben. Er sei im Iran Lehrling bei einem Mechaniker gewesen.
Zu seinem Fluchtgrund befragt brachte der BF vor, dass er nicht genau wisse, weshalb seine Familie Afghanistan verlassen habe. Seine Familie habe öfter über den Krieg gesprochen, aber genaueres wisse er nicht. Im Iran sei er von der Polizei schlecht behandelt und diskriminiert worden.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem BF wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters wurde in Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
5. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG, BGBl. Nr. 51/1991 idF BGBl. I Nr. 161/2013, (in der Folge: AVG) vom 16.03.2018 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG die ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Seite gestellt.
6. Gegen den oben genannten Bescheid richtet sich die im Wege seiner Rechtsvertretung am 09.04.2018 erhobene Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid, welche fristgerecht beim BFA einlangte.
7. Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 23.04.2018 vom BFA vorgelegt.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am 28.03.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der BF im Beisein seiner bevollmächtigten Vertretung persönlich teilnahm.
Der BF verzichtete durch seinen Rechtsvertreter aufgrund vorhandener Kenntnis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, letzte Kurzinformation 01.03.2019, der UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018, sowie des Akkord-Berichts vom 07.12.2018, auf deren Übergabe.
9. Mit Schreiben vom 19.04.2021 wurde dem BF das Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 01.04.2021 und die EASO Country Guidance vom Dezember 2020 im Parteiengehör übermittelt. Zudem wurde dem BF die Möglichkeit gegeben zu seiner bisherigen Integration Stellung zu nehmen.
Der BF legte mit Schreiben vom 29.04.2021 einige Unterlagen zu seiner Lehre und sonstigen Integration vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen (Sachverhalt):
1.1 Zur Person des BF:
Der BF wurde am XXXX geboren. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an und möchte keine Religion ausüben. Die Muttersprache des BF ist Dari. Die Eltern des BF stammen aus Daikundi, der BF selbst wurde hingegen im Iran geboren und wuchs dort auf. Der BF war noch nie in Afghanistan. Eine Herkunftsregion des Beschwerdeführers in Afghanistan kann daher im konkreten Einzelfall nicht festgestellt werden.
Die Eltern und Geschwister des BF leben noch immer im Iran. Der BF besuchte im Iran vier Jahre die Schule. Von 2011 bis 2015 war der BF im Iran Lehrling bei einem Automechaniker. Er hat lediglich zugeschaut und kleine Hilfsdienste bei den Autoreparaturen durchgeführt.
Der BF absolviert in Österreich eine Lehre zum Kraftfahrzeugtechniker und Systemelektroniker. Die Lehrabschlussprüfung wird voraussichtlich im September 2021 stattfinden. Der BF spricht bereits sehr gut Deutsch.
Der BF leidet an keinen Atemwegserkrankungen oder anderen chronischen Krankheiten, wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen, geschwächtem Immunstatus, Krebs oder Fettleibigkeit.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor einer konkreten individuellen Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte.
Es kann nicht festgestellt werden, dass konkret der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich sein gesamtes Leben im Iran sowie zuletzt in Europa aufgehalten hat bzw. dass er als afghanischer Staatsangehöriger, der aus dem Iran sowie aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, deshalb in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist.
Dem BF ist eine Rückkehr und (Neu-)Ansiedlung in Afghanistans aufgrund seiner individuellen Umstände in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat aktuell nicht zumutbar.
Der BF ist im Iran geboren, hat nie in Afghanistan gelebt und verfügt in Afghanistan über kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er sich eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Er hat insbesondere auch in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif und Herat keine unterstützungswilligen Verwandten. Der BF hat lediglich als Minderjähriger geringe Berufserfahrung als Automechaniker im Iran erworben. Der BF hat zwischen 11 und 15 Jahren im Iran in der Autowerkstatt zugeschaut und kleine Hilfsdienste bei Autoreparaturen geleistet. Der BF macht in Österreich zwar eine Lehre zum Kraftfahrzeugtechniker und Systemelektroniker, hat jedoch noch nicht selbständig als Automechaniker gearbeitet und verfügt daher nicht über eine solche Berufserfahrung, die begründet vermuten lässt, dass er sich in seiner konkreten Rückkehrsituation selbst erhalten kann.
Aufgrund der individuellen Umstände des BF kann nicht davon ausgegangen werden, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan insbesondere bei einer Neuansiedlung in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat Fuß zu fassen und ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.
1.2. Feststellungen zum Herkunftsstaat:
1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 11.06.2021, samt Kurzinformation vom 19.07.2021 und den EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019 und Dezember 2020 (EASO):
„[…]
COVID-19
Letzte Änderung: 10.06.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation, bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https: //www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis. com/apps/opsdashboard/index.h tml#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.02.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 02.09.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.09.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.01.2021; cf. UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.02.2021a).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 08.02.2021; cf. IOM 18.03.2021).
Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021). Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021). Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt
wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“ (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.09.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.03.2021; vgl. WB 28.06.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.03.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.03.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße, und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.03.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus, und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.03.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 08.02.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 03.06.2020; vgl. Guardian 02.05.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Mio. Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Mio. Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.01.2021; vgl. ABC News 27.01.2021, ArN 27.01.2021, IOM 18.03.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.01.2021; vgl. RFE/RL 23.02.2021a).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.02.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.02.2021 begonnen (IOM 18.03.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als „schwer erreichbar“ gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021). Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 300-500 Afghani (AFN) (IOM 18.03.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.01.2021, AA 16.07.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 08.02.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.03.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.09.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen, die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen, auch der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.03.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.02.2021, USAID 12.01.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 01.01.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53% der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23% der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.09.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 18.02.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID 12.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.09.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.07.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11% über dem des Vorjahres und 27% über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.03.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.03.2021; vgl. WB 15.07.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.09.2020; vgl. AA 16.07.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.09.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.09.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.03.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.03.2021). Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).
Frauen und Kinder und Binnenvertriebene
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.09.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.09.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.03.2021). Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden (BAMF 31.5.2021).
Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.08.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.08.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.01.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 01.10.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.01.2021, AAN 01.10.2020).
Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaß-ahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.08.2020; vgl. NYT 31.07.2020, IMPACCT 14.08.2020, UNOCHA 30.06.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.03.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen, und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.03.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.03.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.07.2020). Von 01.01.2020 bis 22.09.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.09.2020). Mit Stand 18.03.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.03.2021). Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Letzte Änderung: 11.06.2021
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund
60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug,
die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz desTaliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000
Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020a). Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der afghanischen Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der afghanischen Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020). Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Der Regierungsdelegation gehörten nur wenige Frauen an, aufseiten der Taliban war keine einzige Frau an den Gesprächen beteiligt. Auch Opfer des bewaffneten Konflikts waren nicht vertreten, obwohlMenschenrechtsgruppen dies gefordert hatten (AI 7.4.2021). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020; vgl. AI 7.4.2021). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein hohes Maß an Gewalt, was weiterhin zu einer hohen Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung führt (UNGASC 9.12.2020; vgl. AI 7.4.2021). Ein Waffenstillstand steht ganz oben auf der Liste der Regierung und der afghanischen Bevölkerung (BBC 22.9.2020; vgl. EASO 8.2020a) wobei einige Analysten sagen, dass die Taliban wahrscheinlich noch keinen umfassenden Waffenstillstand vereinbaren werden, da Gewalt und Zusammenstöße mit den afghanischen Streitkräften den Aufständischen ein Druckmittel am Verhandlungstisch geben (REU 6.10.2020). Die Rechte der Frauen sind ein weiteres Brennpunktthema. Die Taliban sind wiederholt danach gefragt worden und haben wiederholt darauf bestanden, dass Frauen und Mädchen alle Rechte erhalten, die „innerhalb
des Islam“ vorgesehen sind (BBC 22.9.2020). Frauenrechtlerinnen in Afghanistan haben jedoch seit vielen Jahren Bedenken geäußert, dass die Regierung die Rechte der Frauen eintauschen wird, um eine Einigung mit den Taliban zu erreichen. Die afghanische Regierung hat sich oft dagegen gewehrt, Frauen in Friedensgespräche einzubeziehen. Im Juni 2015 verabschiedete die afghanische Regierung einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 des Sicherheitsrats für den Zeitraum 2015 bis 2022, der auch das Ziel enthielt, die effektive Beteiligung von Frauen am Friedensprozess zu gewährleisten, doch dem Plan fehlten Details und er wurde nicht sinnvoll umgesetzt (HRW 22.3.2021).
Am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlungen in Doha am 5.1.2021 wurde nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Kabul in mindestens 22 von 34 Provinzen des Landes gekämpft (Ruttig 12.1.2021; vgl. TN 9.1.2021). Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass sich der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten (FAZ 29.1.2020; vgl. DZ 29.1.2021). Jedoch noch vor der Vereidigung des US-Präsidenten Joe Biden am 19.1.2021 hatte der designierte amerikanische Außenminister signalisiert, dass er das mit den Taliban unterzeichnete Abkommen neu evaluieren möchte (DW 29.1.2020; vgl. BBC 23.1.2021). Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.2.2021 in Katar wieder aufgenommen worden (RFE/RL 23.2.2021b; vgl. AP 23.2.2021).
Am 18.3.2021 empfing die russische Regierung Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und von Partnerländern zu einem Gipfeltreffen, das die Friedensgespräche voranbringen sollte. Der 12-köpfigen afghanischen Regierungsdelegation gehörte eine Frau, Dr. Habiba Sarabi, an - ein Rückschritt gegenüber der Teilnahme von vier Frauen unter den 20 Mitgliedern beim innerafghanischen Dialog in Doha, Katar, im September 2020. Die 10-köpfige Taliban-Delegation
war wie in der Vergangenheit ausschließlich männlich.
Abzug der Internationalen Truppen
Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen - etwa 2.500-3.500 US-Soldaten und etwa 7.000 NATO-Truppen - bis zum 11.9.2021 an, nach zwei Jahrzehnten US-Militärpräsenz in Afghanistan (RFE/RL 19.5.2021). Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“ (WH 14.4.2021), allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (AAN 1.5.2021). Die Taliban zeigten sich von der Ankündigung eines vollständigen und bedingungslosen Abzugs nicht besänftigt, sondern äußerten sich empört über die Verzögerung, da im Doha-Abkommen der 30.4.2021 als Datum für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden war. In einer am 15.4.2021 veröffentlichten Erklärung wurden Drohungen angedeutet: Der „Bruch“ des Doha-Abkommens „öffnet den Mudschaheddin des Islamischen Emirats den Weg, jede notwendige Gegenmaßnahme zu ergreifen, daher wird die amerikanische Seite für alle zukünftigen Konsequenzen verantwortlich gemacht werden, und nicht das Islamische Emirat“ (AAN 1.5.2021; vgl. VOJ 20.4.2021).
Für die Taliban ist die Errichtung einer „islamischen Struktur“ eine Priorität. Wie diese aussehenwürde, haben die Taliban noch nicht näher ausgeführt. Ähnliche Bedenken werden in Bezug auf die Auslegung der Scharia und die Rechte der Frauen geäußert. Die Verhandlungen mit den USA haben bei den Taliban ein Gefühl des Triumphs ausgelöst. Indem sie mit den Taliban verhandeln, haben die USA sie offiziell als politische Gruppe und nicht mehr als Terroristen anerkannt. Gleichzeitig haben die Verhandlungen aber auch die afghanische Regierung unterminiert, die von den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA ausgeschlossen wurde (VIDC 26.4.2021). Der Abzug wird eine große Bewährungsprobe für die afghanischen Sicherheitskräfte sein. US-Generäle und andere Offizielle äußerten die Befürchtung, dass er zum Zusammenbruch der afghanischen Regierung und einer Übernahme durch die Taliban führen könnte (RFE/RL 19.5.2021). Viele befürchten, dass mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan eine neue Phase des Konflikts und des Blutvergießens beginnen wird (VIDC 26.4.2021; vgl. AAN 1.5.2021, GM 18.5.2021). Mit dem Abzug der US-Truppen in den nächsten Monaten können die ANDSF mit einem Rückgang der Luftunterstützung und der Partner am Boden rechnen (AAN.1.5.2021; vgl. GM 18.5.2021), während die Taliban in jüngsten Äußerungen [Anm.: Ende April 2021] von einem bevorstehenden Sieg sprachen (RFE/RL 12.5.2021a; vgl. BBC 15.4.2021). Es gab auch einen Anstieg von tödlichen Selbstmordattentaten in städtischen Gebieten, die der islamistischen Gruppe angelastet werden (RFE/RL 12.5.2021a) und verstärkte Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen im April (RFE/RL 12.5.2021a; cf. SIGAR 30.4.2021, BAMF 31.5.2021, LWJ 20.5.2021). Damit haben die
Taliban seit Beginn des Truppenabzugs am 1.5.2021 bis Anfang Juni mindestens 12 Distrikte
erobert (LWJ 6.6.2021; vgl. DW 6.6.2021, MENAFN 7.6.2021, LWJ 20.5.2021, VOA 7.6.2021).
Es wird erwartet, dass unter einer künftigen Taliban-Herrschaft die Rechte der Frauen im Land
einen schweren Rückschlag erleiden werden (BAMF 10.5.2021; vgl. AI 24.5.2021, TD 25.5.2021, BBC 25.4.2021). Außerdem werden die Auswirkungen für Frauen in ländlichen Gebieten, in denen die Taliban die absolute Kontrolle haben, noch schlimmer sein als für Frauen in den großen städtischen Zentren wie Kabul (TD 25.5.2021). Im Mai 2021 warnte Human Rights Watch (HRW), dass sich die Gesundheitsversorgung für Frauen und Mädchen in Afghanistan aufgrund fehlender Spendengelder als Folge des Abzugs der internationalen Truppen und der unklaren Lage im Land verschlechtern wird (HRW 5.2021; vgl. BAMF 10.5.2021). Viele der schätzungsweise 18.000 afghanischen Dolmetscher, Kommandosoldaten und andere, die mit den US-Streitkräften zusammengearbeitet haben, haben Visa beantragt, um in die USA auszuwandern - ein Prozess, der nach Angaben von Gesetzgebern mehr als zwei Jahre dauern könnte, was sie möglicherweise Racheakten der Taliban aussetzen würde (RFE/RL 19.5.2021). US-amerikanische, britische und deutsche Beamte sowie internationale NGOs wie Human Rights Watch (HRW) äußerten sich besorgt über die Sicherheit von ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte (RFE/RL 19.5.2021; BAMF 17.5.2021; BBC 27.4.2021; HRW 8.6.2021), während die Taliban angaben, nicht gegen (ehemalige) Mitarbeiter der internationalen Truppen vorgehen zu wollen. Die Taliban behaupteten in der Erklärung, dass Afghanen, die für die ausländischen „Besatzungstruppen“ gearbeitet hätten, „irregeführt“ worden seien und „Reue“ für ihre vergangenen Handlungen zeigen sollten, da diese einem „Verrat“ am Islam und an Afghanistan gleichkämen (VOA 7.6.2021; vgl. MENAFN 7.6.2021, DZ 7.6.2021, HRW 8.6.2021). In den vergangenen Wochen gab es mehrere Demonstrationen afghanischer Ortskräfte in der Hauptstadt Kabul. Sie forderten die ausländischen Truppen und Botschaften auf, sie im Ausland in Sicherheit zu bringen (DZ 7.62021; vgl. HRW 8.6.2021). Im Mai 2021 schätzt das US-Militär, dass es bis zu einem Viertel seines Abzugs aus Afghanistan abgeschlossen hat (VOA 25.5.2021; vgl. AnA 26.5.2021) und fünf Einrichtungen an das afghanische Verteidigungsministerium übergeben wurden, darunter die riesige Militärbasis Kandahar Airfield [KAF] im Süden Afghanistans (AnA 26.5.2021; vgl. RFE/RL 19.5.2021, AAN 1.5.2021).
Kabul
Letzte Änderung: 09.06.2021
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans (PAJ Kabul o.D.) und grenzt an Parwan und Kapisa im Norden, Laghman im Osten, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden sowie Wardak im Westen. Provinzhauptstadt ist Kabul-Stadt (NPS Kabul o.D.). Die Provinz besteht aus den folgenden Distrikten: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi (NSIA 01.06.2020; vgl. IEC Kabul 2019). Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Kabul im Zeitraum 2020-21 auf 4.459.463 Personen (NSIA 01.06.2020).
Kabul-Stadt - Geographie und Demographie
Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Es ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 4.434.550 Personen für den Zeitraum 2020-21 (NSIA 01.06.2020). Die genaue Bevölkerungszahl ist jedoch umstritten, und Schätzungen reichen von 3,5 Mio. bis zu möglichen 6,5 Mio. Einwohnern (AAN 19.03.2019; vgl. IGC 13.02.2020). Laut einem Bericht expandierte die Stadt, die vor 2001 zwölf Stadtteile - auch Police Distrikts (USIP 4.2017), PDs oder Nahia genannt (AAN 19.03.2019) - zählte, aufgrund ihres signifikanten demographischen Wachstums und ihrer horizontalen Expansion auf 22 PDs (USIP 4.2017). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus (PAJ Kabul o.D.; vgl. NPS Kabul o.D.). [...]
Hauptstraßen verbinden die afghanische Hauptstadt mit dem Rest des Landes (UNOCHA 4.2014), inklusive der Ring Road (Highway 1), welche die fünf größten Städte Afghanistans - Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad - miteinander verbindet (USAID o.D.).
Der Highway zwischen Kabul und Kandahar gilt als unsicher (TN 07.07.2020a). Aufständische sind auf dem Highway aktiv (UNGASC 28.02.2019; vgl. UNOCHA 23.02.2020) und kontrollieren Teile der Straße, und es wurde von Straßenblockaden und Checkpoints durch Aufständische berichtet, die sich gegen Regierungsmitglieder und Sicherheitskräfte richten (LI 22.01.2020; vgl. EASO 9.2020).
Der Kabul-Jalalabad-Highway ist eine wichtige Handelsroute, die oft als „eine der gefährlichsten Straßen der Welt“ gilt (was sich auf die zahlreichen Verkehrsunfälle bezieht, die sich auf dieser Straße ereignet haben) und durch Gebiete führt, in denen Aufständische aktiv sind (TD 13.12.2015; vgl. EASO 9.2020).
Es wird berichtet, dass 20 Kilometer der Kabul-Bamyan-Autobahn, die die Region Hazarajat mit der Hauptstadt verbindet, unter der Kontrolle der Taliban stehen (AAN 16.12.2019), und Reisenden zufolge haben die sicherheitsrelevanten Vorfälle auf der Autobahn, die Kabul mit den Provinzen Logar und Paktia verbindet, im Juli 2020 zugenommen (TN 07.07.2020a).
In Kabul-Stadt gibt es einen Flughafen, der mit Stand März 2021 für die Abwicklung von internationalen und nationalen Passagierflügen geöffnet ist (F 24 o.D.).
Die Stadt besteht aus drei konzentrischen Kreisen: Der erste umfasst Shahr-e Kohna, die Altstadt, Shahr-e Naw, die neue Stadt, sowie Shash Darak und Wazir Akbar Khan, wo sich viele ausländische Botschaften, ausländische Organisationen und Büros befinden. Der zweite Kreis besteht aus Stadtvierteln, die zwischen den 1950er und 1980er Jahren für die wachsende städtische Bevölkerung gebaut wurden, wie Taimani, Qala-e Fatullah, Karte Se, Karte Chahar, Karte Naw und die Microraions (sowjetische Wohngebiete). Schließlich wird der dritte Kreis, der nach 2001 entstanden ist, hauptsächlich von den „jüngsten Einwanderern“ (USIP 4.2017) (afghanische Einwanderer aus den Provinzen) bevölkert (AAN 19.03.2019), mit Ausnahme einiger hochkarätiger Wohnanlagen für VIPs (USIP 4.2017).
Was die ethnische Verteilung der Stadtbevölkerung betrifft, so ist Kabul Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt, je nach der geografischen Lage ihrer Heimatprovinzen. Dies gilt für die Altstadt ebenso wie für weiter entfernte Stadtviertel, und sie wird in den ungeplanten Gebieten immer deutlicher (Noori 11.2010). In den zuletzt besiedelten Gebieten sind die Bewohner vor allem auf Qawmi-Netzwerke angewiesen, um Schutz und Arbeitsplätze zu finden sowie ihre Siedlungsbedingungen gemeinsam zu verbessern. Andererseits ist in den zentralen Bereichen der Stadt die Mobilität der Bewohner höher, und Wohnsitzwechsel sind häufiger. Dies hat eine negative Wirkung auf die sozialen Netzwerke, die sich in der oft gehörten Beschwerde manifestiert, dass man „seine Nachbarn nicht mehr kenne“ (AAN 19.03.2019).
Nichtsdestotrotz, ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls (USIP 4.2017). Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, BalaChawk und Ali Mordan in der Altstadt, und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017), aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansäßig (Noori 11.2010); Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar-Straße (Noori 11.2010; vgl. USIP 4.2017).
Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteure
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul (USDOD 01.07.2020), Nach Schätzungen des Long War Journal sind die Distrikte Chahar Asyab, Dehsabz, Farza, Guldara, Kalakan, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara und Surubi/Surobi/Sarobi mit Stand Mai 2021 umkämpft (LWJ o.D.), Es finden weiterhin High-Profile-Angriffe - auch in der Hauptstadt - statt (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.01.2021, USDOD 01.07.2020, NYTM 26.03.2020, HRW 12.05.2020), wie Angriffe auf schiitische Feiernde und einen Sikhtempel in März (USDOD 01.07.2020) sowie auf Bildungseinrichtungen wie die Universität in Kabul (GN 02.11.2020; vgl. AJ 02.11.2020) oder ein Selbstmordattentat auf eine Schule in Kabul im Oktober 2020 (HRW 26.10.2020), für die alle der Islamische Staat die Verantwortung übernahm (HRW 26.10.2020; vgl. AJ 02.11.2020, GN 02.11.2020). Den Angriff auf eine Geburtenklinik im Mai 2020 reklamierte bislang keine Gruppierung für sich (AJ 15.06.2020; vgl. AP 16.06.2020, HRW 12.05.2020), wobei die Taliban eine Verantwortung abstritten (AP 16.06.2020, vgl. HRW 12.05.2020). Bei Angriffen in Kabul kommt es oft vor, dass keine Gruppierung die Verantwortung übernimmt, oder es werden diese von nicht identifizierten bewaffneten Gruppen durchgeführt (UNAMA 2.2021; vgl. UNGASC 2.2019, EASO 9.2020).
Das U.S. Department of Defence (USDOD) beschreibt die Ziele militanter Gruppen, die in Kabul Selbstmordattentate verüben, als den Versuch, internationale Medienaufmerksamkeit zu erregen, den Eindruck einer weit verbreiteten Unsicherheit zu erzeugen und die Legitimität der afghanischen Regierung sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die afghanischen Sicherheitskräfte zu untergraben (USDOD 23.01.2020; vgl. EASO 9.2020). Afghanische Regierungsgebäude und -beamte, die afghanischen Sicherheitskräfte und hochrangige internationale Institutionen, sowohl militärische als auch zivile, gelten als die Hauptziele in Kabul-Stadt (USDOS 24.06.2020; vgl LI 22.01.2020, LIFOS 15.10.2019, EASO 9.2020).
Aufgrund öffentlichkeitswirksamer Angriffe auf Kabul-Stadt kündigte die afghanische Regierung bereits im August 2017 die Entwicklung eines neuen Sicherheitsplans für Kabul an (AAN 25.09.2017). So wurde unter anderem das Green Village errichtet, ein stark gesichertes Gelände im Osten der Stadt, in dem u.a. Hilfsorganisationen und internationale Organisationen (RFE/RL 02.09.2019; vgl. FAZ 02.09.2019) sowie ein Wohngelände für Ausländer untergebracht sind (FAZ 02.09.2019). Die Anlage wird von afghanischen Sicherheitskräften und privaten Sicherheitsmännern schwer bewacht (AJ 03.09.2019). Die Green Zone hingegen ist ein separater Teil, der nicht unweit des Green Village liegt. Die Green Zone ist ein stark gesicherter Teil Kabuls, in dem sich mehrere Botschaften befinden - so z.B. auch die US-amerikanische Botschaft und britische Einrichtungen (RFE/RL 02.09.2019; vgl. GN 15.07.2020) - und der von hohen Mauern umgeben ist (GN 15.07.2020).
Wie auch in anderen großen Städten Afghanistans ist Straßenkriminalität in Kabul ein Problem (AVA 1.2020; vgl. ArN 10.01.2020, AAN 11.02.2020, AAN 21.02.2020, TN 04.10.2020, TN 17.10.2020, TN 21.10.2020, EASO 9.2020). Im vergangenen Jahr [Anm.: 2020] wurden in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Tausende von Fällen von Straßenraub und Hausüberfällen gemeldet (ArN 10.01.2020; vgl. TN 24.07.2020). Nach einem Anstieg der Kriminalität und der Sicherheitsvorfälle in Kabul kündigte der Vizepräsident Amrullah Saleh im Oktober 2020 an, dass er auf Anordnung von Präsident Ashraf Ghani für einige Wochen die Verantwortung für die Sicherheit in Kabul übernehmen und hart gegen Kriminalität in Kabul vorgehen werde (TN 17.10.2020; vgl. AN 17.10.2020, TN 21.10.2020). Die Regierung kündigte einen Sicherheitsplan mit der Bezeichnung „Security Charter“ an, um das Sicherheitspersonal in die Gewährleistung der Sicherheit Kabuls und anderer Großstädte des Landes zu integrieren. Als Teil dieses Plans wies Präsident Ghani die Sicherheitsbehörden an, gegen schwere Verbrechen in der Stadt vorzugehen (TN 21.10.2020; vgl. TN 17.10.2020, AN 17.10.2020).
Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Kabul mit Ausnahme des Distrikts Surubi im Verantwortungsbereich der 111. ANA Capital Division, die unter der Leitung von türkischen Truppen und mit Kontingenten anderer Nationen der NATO-Mission Train Advise Assist Command-Capital (TAAC-C) untersteht. Der Distrikt Surubi fällt in die Zuständigkeit des 21. ANA Corps (USDOD 01.07.2020). Darüber hinaus wurde eine spezielle Krisenreaktionseinheit (Crisis Response Unit) innerhalb der afghanischen Polizei geschaffen, um Angriffe zu verhindern und auf Anschläge zu reagieren (LI 05.09.2018).
Im Distrikt Surubi wird von der Präsenz von Taliban-Kämpfern berichtet (TN 27.09.2020; vgl. GW 14.07.2020, EASO 9.2020, UNOCHA 03.02.2020). Aufgrund seiner Nähe zur Stadt Kabul und zum Salang-Pass hat der Distrikt große strategische Bedeutung (WOR 10.09.2018; vgl. TN 27.09.2020). Er gilt als unter Regierungskontrolle, wenn auch unsicher. Die Taliban fokussieren ihre Angriffe auf die Straße zwischen Surubi und Jagdalak und konnten diesen Straßenabschnitt auch kurzzeitig unter ihre Kontrolle bringen (TN 27.09.2020). Im Juli 2020 wurde über eine steigende Talibanpräsenz im Distrikt Paghman berichtet (TN 15.07.2020).
Es wird berichtet, dass der Islamische Staat (ISKP) in der Provinz aktiv und in der Lage ist, Angriffe durchzuführen (UNGASC 27.05.2020; vgl. EASO 9.2020). Aufgrund des anhaltenden Drucks der ANDSF (Afghan National Security Forces), die Aktivitäten des Islamischen Staats zu stören (LI 22.01.2020; vgl. UNGASC 04.02.2020, EASO 9.2020), zeigte sich die militante Gruppe jedoch nur eingeschränkt in der Lage, 2019 in Kabul öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben (UNAMA 2.2020; vgl. LI 22.01.2020, WP 09.02.2020, EASO 9.2020). UNAMA schrieb 673 zivile Opfer (213 Tote und 460 Verletzte) im Jahr 2020 in Afghanistan dem ISKP zu, ein Rückgang von 45% im Vergleich zu 2019. Die überwiegende Mehrheit der zivilen Opfer von ISIL-KP wurde jedoch durch Selbstmordattentate und heftige Schusswechsel in Kabul und Jalalabad verursacht (UNAMA 2.2021).
Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung
[...]
Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 817 zivile Opfer (255 Tote und 562 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 48% gegenüber 2019. Die Hauptursache für die Opfer waren gezielte Tötungen, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, lEDs; ohne Selbstmordattentate) und Selbstmordanschlägen (UNAMA 2.2021).
Seit Herbst 2018 haben die ANDSF-Kräfte eine konzertierte Anstrengung zur Auflösung militanter Gruppen begonnen, die im und um den Großraum Kabul herum aktiv sind (NYTM 16.1.2019; vgl. UNGASC 27.5.2020; USDOD 1.7.2020). Die ANDSF setzen gemeinsam mit einem neuen Kommando der Gemeinsamen Streitkräfte, das im Juni 2020 eingerichtet wurde (KP 4.6.2020) ihre Aktivitäten im Jahr 2020 fort. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen Operationen gegen aufständische Gruppierungen (TN 6.5.2020; KP 6.5.2020; RFE/RL 11.5.2020; TN 11.5.2020) und kriminelle Banden (KP 18.5.2020) sowie Luftschläge (EASO 9.2020) durch und konnten hochrangige Mitglieder der Taliban und des IS festnehmen (TN 11.5.2020; KP 12.2.2020; BBC 11.5.2020; TN 11.5.2020; PAJ 26.6.2020) sowie zwei IS-Mitglieder verhaften, die angeblich Angriffe auf ein Krankenhaus und ein Medienunternehmen planten (TN 7.7.2020b).
Während des zweiten Quartals 2020 hat die Gewalt Berichten zufolge wieder zugenommen (NYTM 25.06.2020; vgl. UNGASC 17.06.2020, RY 30.06.2020, EASO 9.2020). Im letzten Quartal 2020 stieg die Gewalt weiter an und war weit höher als im Vergleichszeitraum des Vorjahres (SIGAR 30.01.2021). In Kabul wurden in den ersten Wochen des Jahres 2021 mehrere Anschläge mit kleinen „sticky bombs“ verübt, die unter Fahrzeugen angebracht und ferngesteuert oder mit Zeitzündern gezündet wurden. Die Gruppe „Islamischer Staat“ (ISKP) hat die Verantwortung für einige der Anschläge übernommen, während die afghanische Regierung einige den Taliban zuschreibt (RFE/RL 23.02.2021).
Selbstmordanschläge (BAMF 11.01.2021; NYTM 29.10.2020a; NYTM 29.10.2020c; HRW 26.10.2020; RFE/RL 29.04.2020; REU 29.04.2020) und IEDs (RFE/RL 23.02.2021; BBC 22.12.2020; WP 26.02.2020; AJ 22.08.2020; NYTM 29.10.2020c; TN 04.10.2020; KP 04.06.2020) finden statt, und es wurde von gezielten Tötungen (RFE/RL 23.02.2021; BAMF 11.01.2021; BBC 22.12.2020; BBC 15.12.2020; NYTM 26.03.2020; AT 22.08.2020; TN 21.10.2020; NYTM 05.11.2020) und Angriffen auf militärische Einrichtungen bzw. Sicherheitskräfte (RFE/RL 23.02.2021; BAMF 18.01.2021; BAMF 11.01.2021; NYTM 29.10.