Index
E3L E19103010Norm
AsylG 2005 §8 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. November 2020, I417 2236565-1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: S B, vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH in 1170 Wien, Wattgasse 48/3), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte ist Staatsangehöriger Algeriens. Er stellte am 29. September 2020 den gegenständlichen (sechsten) Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Begründend brachte er vor, sein Vater habe Terroristen kein Geld bezahlt, weswegen sein Bruder getötet worden sei. Deswegen seien er und seine Familie geflüchtet.
2 Mit Bescheid vom 13. Oktober 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab. Es erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Algerien zulässig sei, erließ gegen ihn ein befristetes Einreiseverbot, erkannte einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung ab und sprach aus, dass eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht bestehe.
3 Gegen diesen Bescheid, mit Ausnahme der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten, erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das BVwG dieser Beschwerde statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten für den Herkunftsstaat Algerien zu, erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung, hob die übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides ersatzlos auf und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5 Das BVwG stellte, soweit hier maßgeblich, fest, der Mitbeteiligte weise fünf rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen auf (aus den Jahren 2000, 2002, 2006, 2009 und 2019), darunter drei Verurteilungen wegen der Begehung von Verbrechen.
6 Das BVwG stellte weiter fest, der Mitbeteiligte leide nicht an schweren körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen, die einer Rückführung in seinen Herkunftsstaat entgegenstünden, und sei arbeitsfähig. Er leide an Diabetes mellitus Typ 2, Altersweitsichtigkeit und Refluxösophagitis. Das BVwG traf Feststellungen zur medizinischen Versorgung und zum Verlauf der COVID-19-Pandemie in Algerien (Stand November 2019) und stellte fest, „nach dem aktuellen Stand“ verlaufe die Viruserkrankung bei 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verlaufe die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben sei und intensivmedizinische Behandlungsmethoden notwendig seien. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe träten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie zB Diabetes, Herzerkrankungen und Bluthochdruck) auf. Der Mitbeteiligte sei Angehöriger der Risikogruppe der an Diabetes Mellitus leidenden Personen.
7 Die Feststellung, dass der Mitbeteiligte an einer COVID-19-relevanten Vorerkrankung leide, schloss das BVwG beweiswürdigend „aus dem Umstand, dass er an Diabetes mellitus leidet“.
8 Rechtlich folgerte das BVwG, im Hinblick auf die Sicherheitslage drohe dem Mitbeteiligten im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK. Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Mitbeteiligten die notdürftigste Lebengrundlage entzogen und die Schwelle des Art. 3 EMRK überschritten werde. Der Mitbeteiligte leide an Diabetes mellitus. Für diese Erkrankung finde er Behandlungsmöglichkeiten in seiner Heimatstadt Algier, aber auch in anderen staatlichen medizinischen Einrichtungen Algeriens vor, sodass auch insoweit keine Hinweise vorlägen, dass im Hinblick auf diese Erkrankung eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe. Allerdings sei der Mitbeteiligte auf Grund seiner Diabeteserkrankung „Teil der Risikogruppe“ im Fall einer COVID-19-Erkrankung. Bei solchen Risikogruppen bestehe ein hohes Risiko eines schweren und lebensgefährlichen Verlaufes der COVID-19-Erkrankung. Angesicht der grassierenden Pandemie in Algerien, der mangelhaften öffentlichen Gesundheitsversorgung und der damit verbundenen mangelhaften intensivmedizinischen Betreuungsmöglichkeiten in Algerien sei eine Rückkehr des Mitbeteiligten im gegenwärtigen Zeitpunkt mit einem realen Risiko verbunden, auf Grund des Infektionsrisikos und des damit verbundenen möglichen schweren Krankheitsverlaufes in Lebensgefahr zu geraten, weswegen ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen sei.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die das BVwG unter Anschluss der Verfahrensakten vorlegte. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil die Frage, ob beim Mitbeteiligten im Fall einer COVID-19-Erkrankung ein erhöhtes Risiko eines schweren bzw. lebensbedrohlichen Krankheitsverlaufes bestehe, entsprechendes medizinisches Fachwissen voraussetze, weswegen das BVwG einen Sachverständigenbeweis hätte einholen müssen. Das BVwG hätte auch prüfen müssen, ob angesichts der festgestellten strafgerichtlichen Verurteilungen des Mitbeteiligten die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 unterbleiben müsse.
12 Die Revision ist aus diesen Gründen zulässig und auch begründet.
13 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden hg. Judikatur ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 16.3.2021, Ra 2020/19/0324, mwN).
14 Der Verwaltungsgerichtshof hat auch wiederholt ausgesprochen, dass ein Fremder im Allgemeinen zwar kein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und der Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedoch jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006, mwN und unter Hinweis auf EGMR 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41738/10).
15 Ob derartige außergewöhnliche Umstände vorliegen, ist eine von der Behörde bzw. vorliegend dem BVwG zu beurteilende Rechtsfrage. Diese Beurteilung setzt aber nachvollziehbare Feststellungen über die Art der Erkrankung des Betroffenen und die zu erwartenden Auswirkungen auf den Gesundheitszustand im Falle einer (allenfalls medizinisch unterstützten) Abschiebung voraus (vgl. VwGH 21.4.2021, Ra 2020/18/0326, mwN).
16 Das BVwG stützte die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten allein darauf, der Mitbeteiligte gehöre auf Grund seiner Diabetes mellitus-Erkrankung einer Risikogruppe an, sodass im Fall einer Erkrankung an COVID-19 nach einer Rückkehr nach Algerien im Hinblick auf die dortigen medizinischen Verhältnisse die reale Gefahr bestehe, auf Grund eines schweren Krankheitsverlaufes in Lebensgefahr zu geraten.
17 Die Revision bringt zu Recht vor, dass das BVwG diese Beurteilung nicht ohne Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen hätte treffen dürfen:
18 Gemäß § 52 Abs. 1 AVG sind Sachverständige beizuziehen, wenn die Aufnahme eines Beweises durch Sachverständige notwendig ist. Die Beiziehung eines Sachverständigen ist regelmäßig dann als „notwendig“ im Sinn dieser Bestimmung anzusehen, wenn zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das das entscheidende Organ selbst nicht verfügt (vgl. VwGH 2.2.2021, Ra 2020/19/0411; 21.4.2021, Ra 2020/18/0326, mwN).
19 Wie die Revision darlegt, impliziert nicht jede Erkrankung an Diabetes mellitus (hier: Typ II) die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe mit der Folge, dass bei einer Erkrankung an COVID-19 mit einem sehr schweren bzw. lebensbedrohlichen Krankheitsverlauf zu rechnen ist. Beispielhaft zeigt sich dies auch an § 2 Abs. 1 Z 8 COVID-19-Risikogruppe-Verordnung, BGBl. II Nr. 203/2020, der jene Ausprägungen dieser Erkrankung festlegt, die als medizinische Indikation für die Zuordnung zur COVID-Risikogruppe (iSd. § 735 ASVG) gelten.
20 Das angefochtene Erkenntnis beschränkt sich insoweit auf die bloße Feststellung, dass der Mitbeteiligte an Diabetes mellitus (Typ II) erkrankt sei und deswegen im Hinblick auf COVID-19 einer Risikogruppe angehöre. Das BVwG hätte jedoch unter Beiziehung eines medizinischen Sachverständigen die Ausprägung der Diabetes mellitus-Erkrankung des Mitbeteiligten und die sich daraus ergebende individuelle Risikosituation im Fall einer Erkrankung an COVID-19, die notwendige medizinische Behandlung im Fall einer solchen Erkrankung und die Möglichkeit, diese Behandlung in seinem Herkunftsstaat zu erlangen, sowie die Folgen, die das Fehlen der notwendigen Behandlung auf die Gesundheit des Mitbeteiligten hätte, feststellen müssen. Auf Grund solcher Feststellungen hätte das BVwG die Beurteilung treffen dürfen, ob beim Mitbeteiligten von einer realen Gefahr auszugehen war, die im Sinn der zitierten Rechtsprechung die Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde.
21 Das BVwG hat sein Erkenntnis dadurch mit Rechtswidrigkeit wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.
22 Die Revision zeigt überdies auf, dass das angefochtene Erkenntnis auch aus einem anderen Grund rechtswidrig ist:
23 Das BVwG stellte fest, der Mitbeteiligte sei u.a. drei Mal von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (im Sinn des § 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden. Das BVwG hätte daher, unter der Annahme, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 vorlagen, zu prüfen gehabt, ob gemäß § 8 Abs. 3a AsylG 2005 der Antrag auf Zuerkennung dieses Status deshalb abzuweisen gewesen wäre, weil ein Aberkennungsgrund nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005, konkret: jener der Z 3, vorlag. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einer solchen Verurteilung zwar nicht zwingend der Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 abzuerkennen. Vielmehr ist eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen eine solche Verurteilung jedoch ein gewichtiges Indiz für die Aberkennung darstellt (vgl. grundlegend VwGH 6.11.2018, Ra 2018/18/0295).
24 Eine solche Prüfung hat das BVwG aber zur Gänze unterlassen und sein Erkenntnis dadurch auch mit - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet.
25 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 1. September 2021
Schlagworte
Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung ArztEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190439.L00Im RIS seit
04.10.2021Zuletzt aktualisiert am
04.10.2021