TE Bvwg Erkenntnis 2021/5/17 W102 2219190-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.05.2021
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Entscheidungsdatum

17.05.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W102 2219190-1/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner ANDRÄ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch BBU Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.04.2021 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, wird stattgegeben und diesem gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , geb. am XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 18.10.2016 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am 18.10.2016 gab der Beschwerdeführer zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, dass in Afghanistan Krieg und Unsicherheit herrsche. Ca. ein Jahr vor seiner Flucht sei er in ein Gefecht zwischen den Taliban und den Amerikanern gekommen. Er sei in einem Auto, das von Daikundi nach Kabul gefahren sei, beschossen worden. Das Auto habe wegfahren können und sei kurz danach von den Taliban aufgegriffen worden. Da die Kampfhandlungen so heftig gewesen seien, hätten die Taliban sie nicht mehr gefangen halten können und hätten sie freigelassen. In Afghanistan herrsche große Gefahr für Hazara und Schiiten. Sein Onkel väterlicherseits sei aufgrund des Krieges umgekommen.

In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 16.04.2019 führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass er Afghanistan einerseits aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit verlassen habe und andererseits, weil er Atheist sei. Weiters sei Afghanistan ein Kriegsland, weshalb es keine Möglichkeit gebe dort normal zu leben.

2.       Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 26.04.2019, zugestellt am 02.05.2019, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde hinsichtlich Spruchpunkt I. aus, dass der Beschwerdeführer keine individuelle Gefahr oder Verfolgung glaubhaft gemacht habe. Es würden keine Zweifel bestehen, dass der Beschwerdeführer keine verwurzelte Abneigung gegen den islamischen Glauben habe und ihm daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Verfolgung drohe. Er gehöre als Hazara zwar einer ethnischen Minderheit an, die Situation der Hazara habe sich jedoch deutlich verbessert. Weder die Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Schiiten noch die Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit der Hazara würden alleine ausreichen, um von einer Gefahr einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse bzw. Glaubensgemeinschaft auszugehen. Die allgemeine Lage in Afghanistan sei nicht so, dass bereits jedem, der sich dort aufhält, der Status eines Asylberechtigten zuerkannt, werden müsste. Bezüglich Spruchpunkt II. hielt die belangte Behörde fest, dass dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif und Herat zustehe.

3.       Gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.04.2019 richtet sich die am 14.05.2019 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde.

Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 13.04.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, seine bevollmächtigte Rechtsvertreterin und eine Dolmetscherin für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen im Wesentlichen aufrecht.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

?        ÖSD Zertifikate A1, A2 und B1

?        Teilprüfungszeugnis Externistenprüfungskommission der Pflichtschulabschluss-Prüfung XXXX vom 12.11.2018 sowie vom 20.11.2018, 17.12.2018, 06.02.2019, 26.02.2019

?        Bestätigung ePSA Teilnahme und Mathematik-Prüfung vom 11.12.2018

?        Teilnahmebestätigung ÖIF Werte- und Orientierungskurs vom 16.03.2018

?        Youthpass Erasmus+

?        Zertifikat Talenteentwicklung XXXX vom 28.02.2019

?        Zertifikat XXXX vom 07.07.2017

?        Teilnahmebestätigung LegalLiteracy Project vom 14.01.2019

?        Bestätigung ehrenamtliche Tätigkeit XXXX vom 05.06.2018

?        Bewerbung um eine Lehrstelle als Elektrotechniker vom 05.02.2019

?        Empfehlungsschreiben InterAktion – Verein für ein interkulturelles Zusammenleben vom 08.04.2018

?        Schulbesuchsbestätigung XXXX vom 23.09.2020

?        Bescheinigung XXXX (Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft) vom 09.01.2020

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, wurde im Jahr XXXX geboren und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer wurde in einem Dorf in der Provinz Daikundi geboren. Er besuchte acht Jahre lang die Schule in seinem Heimatdorf. Neben der Schule half er im Restaurant seiner Eltern mit.

Die Eltern des Beschwerdeführers sowie seine drei Geschwister leben nach wie vor in der Provinz Daikundi.

Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise im Jahr 2016 durchgehend im Bundesgebiet auf. Er besuchte laufend Deutschkurse und absolvierte die ÖSD-Prüfungen A1, A2 und B1. Der Beschwerdeführer besucht XXXX . Er hat Teilprüfungen der Pflichtschulabschluss-Prüfung abgelegt.

1.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer empfand bereits im Herkunftsstaat im Jugendalter Zweifel am Islam. Seit seiner Einreise in Österreich bezeichnet er sich selbst als Atheist. Er glaubt an die Evolutionstheorie. Der Beschwerdeführer hat sich aus freier Überzeugung vom Islam abgewandt. Er besucht keine Moschee, lebt nicht nach den Regeln des Islam und weigert sich, zu fasten und zu beten. Diese Lebensweise möchte er beibehalten. Zudem ist er aus der islamischen Religionsgemeinschaft in Österreich ausgetreten.

Im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen dem Beschwerdeführer Übergriffe von privater Seite sowie staatliche strafrechtliche Verfolgung bis hin zu Todesstrafe, falls er sich zu seiner Abwendung vom Islam bekennt. Diese Gefahr besteht landesweit.

2. Beweiswürdigung:

2.1.    Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zu Identität, Staatsangehörigkeit, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, Muttersprache, sonstigen Sprachkenntnissen sowie Lebensverhältnissen im Herkunftsstaat beruhen auf den gleichbleibenden und plausiblen Angaben des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sowie vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch die belangte Behörde hegte keine Zweifel an den diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.

Zum Verbleib seiner Angehörigen gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesamt sowie vor dem Bundesverwaltungsgericht gleichbleibend an, dass sich seine Familienangehörigen nach wie vor im Heimatdorf aufhalten würden (AS 151, OZ 12, S.4).

Die Feststellungen zu der Ausbildung des Beschwerdeführers in Österreich ergibt sich aus den vorgelegten ÖSD-Zertifikaten (AS 181-185), der Schulbesuchsbestätigung vom 23.09.2020 (vorgelegt am 12.10.2020) sowie den vorgelegten Teilprüfungszeugnissen der Pflichtschulabschluss-Prüfung (AS 171-179).

2.2.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur religiösen Überzeugung des Beschwerdeführers beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt am 16.04.2019 sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 13.04.2021, sowie auf dem persönlichen Eindruck, den der erkennende Einzelrichter des Bundesverwaltungsgerichts bei dieser Gelegenheit vom Beschwerdeführer gewinnen konnte.

Zunächst ist anzumerken, dass der Beschwerdeführer während des gesamten Verfahrens gleichbleibend angab, dass er seit seinem 14. Lebensjahr Atheist und Anhänger der Evolutionstheorie nach Darwin ist (AS 147; AS 155; OZ 12, S. 3ff.). Weiters trug der Beschwerdeführer die persönliche Verknüpfung seiner Ablehnung des Islams mit seinen negativen Erlebnissen in Afghanistan mit Überzeugungskraft vor (OZ 12, S. 3: „In Afghanistan gibt es schon seit sehr langer Zeit Kämpfe. Die Regierung kämpft gegen bewaffnete Gruppierungen wie z.B. Taliban. Jeder glaubt, dazu berechtigt zu sein. Beide kämpfen im Namen der Religion. In Österreich habe ich auch andere Religionen kennengelernt. Mir ist klar geworden, dass der Name der Religion oftmals ausgenützt wird und dass dies zu Streitigkeiten und Kämpfen führt. Ein weiterer Grund ist, dass Kinder in religiösen Lernstätten, wie z.B. Moscheen, geschlagen werden. Das habe auch ich persönlich erlebt.“). In der mündlichen Verhandlung erweckte der Beschwerdeführer zudem den Eindruck, dass er sich auch mit anderen Religionen beschäftigt hat. So konnte er nachvollziehbar darlegen, dass für ihn kein Unterschied zwischen dem Christentum oder dem Islam besteht, weil beide Religionen ein Leben nach dem Tod, Paradies und Hölle sowie Strafen beinhalten würden (OZ 12, S. 3). Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes ist eine Auseinandersetzung des Beschwerdeführers mit Religion und Glauben folglich klar ersichtlich.

Der Schilderung des Beschwerdeführers ist zu entnehmen, dass er seine Familie bisher noch nicht von seiner Einstellung zum Glauben unterrichtet hat, weil sie ihn in diesem Fall ablehnen und bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch verfolgen würde (OZ 12, S. 4). Dies ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes nachvollziehbar, weil die Abkehr vom Islam in Afghanistan zur sozialen Ächtung führen kann. Dies hat der Beschwerdeführer auch in Österreich erlebt. So wurde er aufgrund seiner Einstellung zum Islam aufgrund einer Diskussion in seiner Unterkunft von anderen Asylwerbern bedroht (OZ 12, S. 4). Dass der Beschwerdeführer in Folge nur wenige Personen, nämlich seine engsten Freunde und die Mitarbeiter der Caritas, von seiner Einstellung zu Religion, in Kenntnis setzte, ist daher plausibel und zeigt, dass der Beschwerdeführer sich auch öffentlich (in einem geschützten Rahmen) zum Atheismus bekennt. Demnach braucht der Beschwerdeführer derzeit nicht mit sozialer Ächtung aus seinem Umfeld wegen seiner Missachtung des Islam zu rechnen und erscheint auch unter diesem Gesichtspunkt plausibel, dass er nicht nach den Regeln des Islam lebt. Diesbezüglich gab der Beschwerdeführer glaubhaft an, dass er in Österreich bisher nie gebetet, gefastet oder eine Moschee besucht hat (OZ 12, S. 3-4). Weiters konnte er nachvollziehbar darlegen, dass er mittlerweile auch vegetarisch leben würde und islamische Opferfeste mit Tierschlachtungen ablehnt (OZ 12, S 4-5). Weiters lehnt der Beschwerdeführer den Umgang des Islam mit Frauen ab (OZ 12, S. 3).

Festzuhalten ist weiters, dass der Beschwerdeführer aus der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ausgetreten ist (Bescheinigung vom 09.01.2020). Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass eine solche Bescheinigung keine Außenwirkung aufweist und auch nicht in Afghanistan einsehbar oder bekannt ist. Dennoch zeigt es deutlich, dass es dem Beschwerdeführer ein Bedürfnis ist, seine Einstellung zum Islam auch nach außen zu tragen und sich öffentlich zu seinem Abfall vom Islam zu bekennen.

Insgesamt kommt das Bundesverwaltungsgericht zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer sich tatsächlich aus freier Überzeugung nicht zum Islam bekennt und – wie von ihm beschrieben – nicht nach den Regeln des Islam lebt und dies insbesondere auch beibehalten möchte.

Die Feststellung, dass dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Übergriffe von privater Seite sowie staatliche strafrechtliche Verfolgung bis hin zu Todesstrafe droht, weil er sich vom Islam abgewandt hat, beruht auf der vom Bundesverwaltungsgericht mit Ladung vom 30.03.2021 eingebrachten EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (Abschnitt Common analysis: Afghanistan, Kapitel II. Refugee status, Unterkapitel 2.16. Individuals considered to have committed blasphemy and/or apostasy, S. 87f.). Dieser ist zu entnehmen, dass Apostasie mit Todesstrafe, Haftstrafe oder Konfiskation von Eigentum bestraft wird und als schwere Straftat einzustufen ist. Verfolgungsfälle sind in den vergangenen Jahren dokumentiert. Atheisten könnten ihre Ansichten bzw. ihr Verhältnis zum Islam nicht offen kundtun, ohne dem Risiko von Sanktionen oder Gewalt ausgesetzt zu sein. Auch die Familie sei betroffen. Die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel 5. Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen, Buchstabe b) Konversion vom Islam und c) Andere Handlungen, die gegen die Scharia verstoßen, S. 72 f.) - mit Ladung vom 30.03.2021 in das Verfahren eingebracht - berichten ebenso davon, dass der Glaubensabfall mit Todesstrafe geahndet werde. Neben der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung wird auch von gesellschaftlicher Ächtung, Gewalt durch Familienangehörige und andere Mitglieder der Gemeinschaft, die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte berichtet. Die Berichte nehmen keinen Teil des Staatsgebietes davon aus, weswegen festgestellt wurde, dass die Gefahr landesweit besteht.

Zur Plausibilität und Seriosität der herangezogenen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsstaat ist auszuführen, dass das European Asylum Support Office (EASO) nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgende Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet ist. Damit durchlaufen die länderkundlichen Informationen, die diese Einrichtungen zur Verfügung stellen, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat. Den UNHCR-Richtlinien ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken ("Indizwirkung"), wobei diese Verpflichtung ihr Fundament auch im einschlägigen Unionsrecht findet (Art. 10 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 2013/32/EU [Verfahrensrichtlinie] und Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]; VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114) und der Verwaltungsgerichtshof auch hinsichtlich der Einschätzung von EASO von einer besonderen Bedeutung ausgeht und eine Auseinandersetzung mit den "EASO-Richtlinien" verlangt (VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0405). Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich daher auf die angeführten Länderberichte, wobei eine beweiswürdigende Auseinandersetzung im Detail oben erfolgt ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zum Fluchtvorbringen einer asylrechtliche relevanten Verfolgung wegen Apostasie

Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.

Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person unter anderem, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Religion verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierung ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN).

Nach dem gemäß § 2 Abs. 1 Z 12 AsylG unmittelbar anwendbaren Art. 10 Abs. 1 lit. b) der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes Abl L 337/9 vom 20.12.2011 (Statusrichtlinie) umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Geschützt ist demnach die Entscheidung aus innerer Überzeugung religiöse zu leben, aber auch die Entscheidung, aufgrund religiösen Desinteresses jegliche religiöse Betätigung zu unterlassen (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht. § 3, K40).

Auch der Verwaltungsgerichtshof hat zum Religionsbegriff der GFK unter Verweis auf die oben zitierte Bestimmung der Statusrichtlinie bereits ausgesprochen, dass dieser auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst (VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395). Asylrelevant kann demnach nicht nur die Konversion zu einer anderen Religion sein, sondern auch die bloße Abkehr von einer Glaubensgemeinschaft, ohne sich hernach einer anderen Glaubensgemeinschaft anzuschließen.

Nach dem mit „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ übertitelten Art. 10 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. C 202 vom 7.6.2016, S. 389–405, umfasst dieses Recht die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen.

Im Wesentlichen inhaltsgleich gewährt auch Art. 9 EMRK als in der EMRK gewährleistetes Grundrecht, die gemäß Art. 6 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union (EUV) als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind, Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.

Nach diesen normativen Vorgaben (auch unter Berücksichtigung der bereits zitierten Bestimmungen der Statusrichtlinie) umfasst der Religionsbegriff des Art. 1 Abschnitt A, Z 2 GFK damit nicht nur die individuelle Glaubensfreiheit als Kern der Religionsfreiheit („forum internum“), sondern auch das öffentliche Bekenntnis und die Freiheit zur Ausübung (bzw. Nichtausübung) der Religion („forum externum“). Demnach ist es einem Asylwerber für den Rückkehrfall nicht zumutbar, seine innere Überzeugung verstecken zu müssen.

In Bezug auf die asylrechtliche Relevanz von Konversionen setzt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Judikatur voraus, dass der Betroffene einen inneren Entschluss zum Glaubenswechsel gefasst hat (zuletzt VwGH 07.05.2018, Ra 2018/20/0186). Die bloße Behauptung eines „Interesses am Christentum“ reicht zur Geltendmachung einer asylrechtlich relevanten Konversion zum Christentum nicht aus (VwGH 20.06.2017, Ra 2017/01/0076).

Das Bundesverwaltungsgericht geht angesichts der bereits näher erläuterten Gleichstellung von theistischen, atheistischen und nichttheistischen Glaubensüberzeugungen durch die Statusrichtlinie und die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs von der Übertragbarkeit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs zur Konversion auch auf Fälle der bloßen Abkehr vom Glauben aus. Voraussetzung für die Asylrelevanz einer solchen Abkehr vom Glauben ist daher, dass diese aufgrund eines inneren Entschlusses erfolgt.

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt konnte der Beschwerdeführer glaubhaft machen, dass er sich aus freier Überzeugung nicht zum Islam bekennt und nicht nach dessen Regeln lebt. Wie ebenso festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt drohen dem Beschwerdeführer deshalb – wenn er seiner inneren Überzeugung im Herkunftssaat in seiner täglichen Lebensführung folgt und etwa seine Ablehnung des Islam kundtut oder nicht nach den Regeln des Islam lebt – im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat Übergriffe von privater Seite sowie strafrechtliche Verfolgung bis hin zu Todesstrafe wegen seiner Abkehr vom Islam. Damit konnte der Beschwerdeführer glaubhaft machen, dass ihm im Sinne der oben zitierten Bestimmungen und Rechtsprechung im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung droht.

Es sind im Verfahren auch keine Asylausschlussgründe gemäß § 6 AsylG hervorgekommen.

3.2. Zum Nichtvorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative

Nach § 3 Abs. 3 Z 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht.

Gemäß § 11 Abs. 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann.

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt bezieht sich die Gefährdung des Beschwerdeführers aufgrund seiner Abkehr vom Islam auf das gesamte Staatsgebiet des Herkunftsstaates. Damit steht dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG nicht zur Verfügung.

3.3. Zum übrigen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Nachdem dem Beschwerdeführer bereits aufgrund seiner Abkehr vom Islam Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit dem übrigen Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers (Verfolgung wegen Volksgruppenzugehörigkeit).

3.4. Zur Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers

Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG kommt einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wird das Einreise- und Aufenthaltsrecht des Asylberechtigten unmittelbar kraft Gesetzes bestimmt. Die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter hat somit nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht zu erfolgen. Auch gemäß § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 kommt dem Asylberechtigten eine entsprechende Aufenthaltsberechtigung zu, ohne dass eine darüberhinausgehende Erteilung dieser Berechtigung vorzunehmen wäre (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373).

Dem Beschwerdeführer war daher spruchgemäß nach § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Ihm kommt damit unmittelbar kraft Gesetzes (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373) eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu, die (vorerst) für drei Jahre gilt.

4. Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 vorliegt. Das Bundesverwaltungsgericht folgt in seiner rechtlichen Beurteilung der möglichen Asylrelevanz der Abkehr des Beschwerdeführers vom Islam der unter A) zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, der zufolge der Religionsbegriff der GFK auch atheistische Glaubensüberzeugungen umfasst (VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395), wobei sich das Bundesverwaltungsgericht zusätzlich an der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Notwendigkeit des Vorliegens eines inneren Entschlusses bei Konversionen (etwa VwGH 07.05.2018, Ra 2018/20/0186, VwGH 20.06.2017, Ra 2017/01/0076 und VwGH 29.05.2019, Ra 2019/20/0230) orientieren konnte. Ansonsten waren – insbesondere für die Frage, ob der Beschwerdeführer das Vorliegen einer inneren Glaubensüberzeugung glaubhaft machen konnte – beweiswürdigende Erwägungen maßgeblich.

Schlagworte

Apostasie Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren begründete Furcht vor Verfolgung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative mündliche Verhandlung Nachfluchtgründe Religionsfreiheit religiöse Gründe Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W102.2219190.1.00

Im RIS seit

01.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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