Entscheidungsdatum
11.06.2021Norm
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15Spruch
W159 2237244-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI über die Beschwerde des mj. XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 23.10.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.05.2021, zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 iVm 34 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gem. § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Die mj. Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, der Volksgruppe der Hazara zugehörig, schiitischen moslemischen Glaubens und ledig gelangte mit seiner (Zieh-) Mutter am 26.02.2020 legal nach Österreich und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers gab an, dass sie den Beschwerdeführer an Kindesstatt angenommen habe, da seine Eltern bei einem Autounfall verstarben als er etwa sechs Monate war. Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers gab an, dass sie die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers sei.
In der Erstbefragung durch die Niederösterreichische Fremden- und Grenzpolizeiliche Abteilung, XXXX gab die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers zu ihrem Fluchtgrund an, sie habe Afghanistan vor etwa 15 Jahren mit ihren Kindern verlassen, weil die Nichten ihres Mannes entführt worden seien und sie Angst um ihre Töchter gehabt hätte. Die Familie habe sich im Iran illegal aufgehalten.
In der niederschriftlichen Einvernahme am 06.08.2020 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz gab die (Zieh-) Mutter zu ihrem Fluchgrund befragt an, sie sei in Daikundi geboren worden, aufgewachsen und habe dort geheiratet. Sie gehöre der Volksgruppe der Hazara, dem Stamm der Sadat an und sei schiitische Muslima.
Zu ihren Kindern befragt gab die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers an, ihre Tochter XXXX sei verheiratet, etwa 24 Jahre alt und würde in Afghanistan leben. XXXX würde in Wien leben. Ihre Zwillingsschwester XXXX sei bei ihrem Vater in Serbien. Ihr Sohn XXXX sei etwa 16 Jahre alt und würde in XXXX im Camp aufhältig sei. Der Junge (Beschwerdeführer) der mit ihr gekommen sei, sei der Sohn ihres Schwagers (vom Bruder ihres Mannes). Seine Eltern seien bei einem Autounfall gestorben, sie habe ihn aufgenommen und aufgezogen. Der Beschwerdeführer nehme an, dass sie seine Mutter sei, denn die Eltern seien gestorben, als er sechs Monate alt gewesen sei. Alle Kinder seien afghanische Staatsangehörige. Sie würde nunmehr den Jungen im Verfahren vertreten.
Das Zielland der Reise sei Österreich gewesen, die Gesetze seien gut, Frauen und Männer seien gleichberechtigt. In Afghanistan und im Iran würden die Frauen nicht geschätzt werden. Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers und seine Schwester hätten im Iran gearbeitet um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Der (Zieh-) Vater des Beschwerdeführers sei in Afghanistan gewesen, um seine, von den Kutschis entführte Nichte zu finden.
Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers gab an, sie sei in ihrem Heimatstaat nicht vorbestraft, sei nicht inhaftiert gewesen, habe keine Probleme mit Behörden gehabt, es würden keine staatlichen Fahndungsmaßnahmen wie Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbrief vorliegen, sie sei nicht politisch tätig sowie sie und/oder ihre Familienmitglieder seien keine Mitglieder einer politischen Partei gewesen. Sie hätte jedoch Probleme aufgrund ihres Religionsbekenntnisses, ihrer Volksgruppenzugehörigkeit und mit Privatpersonen, den Kutschis gehabt. Sie habe nicht an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teilgenommen.
Mit Bescheid vom 23.10.2020, Zl. XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz im Spruchpunkt I. vom 26.02.2020 hinsichtlich der der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen. Im Spruchpunkt II. wurde gem. § 8 Abs. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und im Spruchpunkt III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG für ein Jahr erteilt.
Das BFA stellte fest, dass der Beschwerdeführer afghanischer Staatsangehöriger sei, der Volksgruppe der Hazare angehöre sowie schiitischer Muslim sei. Er würde aus der Provinz Daikundi stammen und sich da seine Eltern bei einem Autounfall verstorben seien, in der Obhut der Tante befinden. Der Beschwerdeführer würde über keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfügen. Der Beschwerdeführer sei mit seiner Tante illegal am 26.02.2020 in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Im Spruchpunkt I. des Bescheides wurde angegeben, dass der Beschwerdeführer keine Gründe der Genfer Flüchtlingskonvention für das Verlassen ihres Heimatlandes vorgebracht hätte. Im Spruchpunkt II. wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer bei einer Zurückweisung, Zurück- oder Abschiebung nach Afghanistan in eine für ihn Existenz bedrohende Notlage geraten würde und er seinen Lebensunterhalt nicht selbstständig sichern könnte. Mit Spruchpunkt III. wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.
Der Beschwerdeführer und die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers erhoben gegen Spruchpunkt I., ihrer Bescheide, vertreten durch die XXXX , fristgerecht wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens, Beschwerde. Es wurde auf das Fluchtvorbringen der (Zieh-) Mutter erörtert. In den anschließenden Ausführungen wurde auf die Länderinformationen bzw. Berichte bezüglich der Hazara und Kutschis Bezug genommen. Es wurde eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht beantragt.
Das Bundesverwaltungsgericht beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 04.05.2021 an, an welcher die (Zieh-) Mutter, ihre Rechtsvertretung, XXXX und ein Dolmetscher teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde war entschuldigt nicht erschienen.
Die Rechtsvertretung regte die Führung eines Familienverfahrens hinsichtlich des Beschwerdeführers (Obsorgebeschluss wurde bereits vorgelegt) an und verwies auf die Entscheidung des VfGH zur Zahl G298/2019 vom 26.06.2020. Hier führte der VfGH aus, dass es keinen Grund für eine Differenzierung zwischen leiblichen Eltern und gesetzlicher Vertretung gäbe. Die Legaldefinition des § 2 Abs. 1 Z 22 lit. d AsylG wurde dbzgl. schon angepasst. Im ggst. Fall handele es sich somit um ein Familienverfahren.
Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers erschien zur Verhandlung mit locker gebundenem, schwarz-grauem Kopftuch. Sie hielt die Beschwerde und ihr bisheriges Vorbringen aufrecht. Sie gab an, sie sei afghanische Staatsangehörige, gehöre der Ethnie Sadat an und sei schiitische Muslima. Sie habe in Afghanistan und nachher im Iran gelebt und teilweise im Iran ihre Kinder alleinerziehend großgezogen. Sie hätte sich ohne ihren Mann durchschlagen müssen. Sie habe auch gearbeitet. Sie hätte auf niemanden gewartet, um ihr zu helfen, weswegen sie begonnen hätte Kleidung zu nähen. Sie sei nie zur Schule gegangen. Sie habe vier eigene Kinder und einen Ziehsohn.
Ihre Tochter XXXX würde an der TU XXXX studieren, ihre andere Tochter würde alleine in Großbritannien leben, sie habe sich mit Hilfe ihrer Englischkenntnisse bis nach Großbritannien durchgeschlagen. Ihr Mann sei seit etwa fünf Monaten in Österreich und seit zwei Monaten würden sie wieder zusammenleben. Ihr Ziehsohn, XXXX habe keine eigenen Fluchtgründe, er sei immer ihr Kind gewesen. Er würde hier in Österreich zur Schule gehen.
Hier in Österreich würde sie einen Deutschkurs besuchen. Sie habe auch einen Alphabetisierungskurs besucht. Sie könne schon ein wenig lesen und schreiben und sei bestrebt ihre Deutschkenntnisse zu verbessern.
Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers gab an, ihr Leben habe sich hier in Österreich wesentlich verändert. Sie sei dankbar dafür, sie sei frei, dürfe lernen und ihre Wege alleine, selbst erledigen. Sie sei daran interessiert in einem Beruf, vielleicht wieder als Schneiderin, Fuß zu fassen. Sie sei bestrebt, dass sich ihre Kinder ihren Partner selbst aussuchen können. Ihre Tochter habe die Freiheit zwischen Beruf und Familie, oder beides zu wählen.
Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers gab, sie wolle ihr in Österreich auch von ihren Rechten Gebrauch machen, denn in Afghanistan und im Iran sei sie immer nur verpflichtet gewesen. Sie gab an, sie verfüge über ein eigenes Konto mit einer Bankomatkarte und verwalte das Familienbudget. Sie treffe eigene Entscheidungen oder Entscheidungen mit ihrem Mann auf Augenhöhe.
Am 18.05.2021 wurde durch die Rechtsvertretung der (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers, XXXX , eine Stellungnahme zur mündlichen Beschwerdeverhandlung vom 04.05.2021 eingebracht. Es wurde darauf hingewiesen, dass nach der mittlerweile stRsp des VwGH Frauen Asyl beanspruchen können, die aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt (vgl. Erkenntnis des VwGH vom 22.03.2017, Ra 2016/18/0388).
Für die Beschwerdeführerin sei eine solche Lebensweise, in der die Anerkennung und die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommen würde, ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie sei eine Frau, welche in ihrer Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen und Gesellschaftsbild orientiert sei.
Zum Verhältnis des Beschwerdeführers und seiner (Zieh-) Mutter wurde angeführt, dass die (Zieh-) Mutter Obsorgeberechtigte des Beschwerdeführers, XXXX , StA. Afghanistan sei. Es sei der Obsorgebeschluss in Vorlage gebracht worden. Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers und der Beschwerdeführer würden in einem gemeinsamen Haushalt leben und bestünde zwischen den beiden faktisch, eine Mutter- Kind Beziehung. „Ein minderjähriges Kind steht zu seinem gesetzlichen Vertreter in vielen Fällen in einem Verhältnis, das dem zwischen Eltern und Kind entspricht.“
Bei dem Ziehsohn der BF handele es sich sohin um einen Familienangehörigen iSd. Legaldefinition gem. § 2 Abs.1 Z 22 lit. d AsylG. „der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten sowie ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind, für das einem Asylwerber, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten die gesetzliche Vertretung zukommt, sofern die gesetzliche Vertretung jeweils bereits vor der Einreise bestanden hat.“
Wie bereits dargelegt, hatte (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers bereits vor der Einreise nach Österreich- nämlich unmittelbar nach dem Tod der Eltern des Beschwerdeführers – die Obsorge bezüglich ihres Neffen inne. Nach der Einreise in Österreich, erging ein Obsorgebeschluss, der diesen Status bestätigte.
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH sei ein ausländisches Rechtsverhältnis nicht allein nach dem entsprechendem Recht, sondern auch nach der Anwendungspraxis des jeweiligen Staates zu beurteilen (VwGH vom 27.06.2017, Ra 2016/18/0277).
Den Länderberichten sei zu entnehmen, dass es in Afghanistan üblich sei, die Obsorge ohne rechtliche Formalitäten anzunehmen. Zu einer gerichtlichen Entscheidung kommt es nur, im Falle von Rechtsstreitigkeiten. Eine Bestimmung für Adoption gäbe es im islamischen Recht, auf welchem das afghanische Recht beruhe, nicht. Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers habe habe nach dem Tod der Eltern des Beschwerdeführers die faktische Obsorge für ihren Neffen, XXXX inne. Dieser sei somit als Familienangehöriger im Sinne des § 2 Abs 1 Z 22 AsylG 2005 anzusehen und es sei ein Familienverfahren im Sinne des § 34 AsylG 2005 zu führen.
Dem Beschwerdeführer sei, sowie seiner (Zieh-) Mutter gem. § 34 AslyG ebenfalls der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:
Die Beschwerdeführer ist minderjähriger Staatsangehöriger von Afghanistan, der Volksgruppe der Hazara angehörig, schiitischen muslimischen Glaubens, ledig und führt den Namen „ XXXX “. Er ist mit seiner (Zieh-) Mutter am 26.02.2020 illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Im Bundesgebiet hält er sich mit seinen (Zieh-) Eltern und seiner älteren (Zieh-) Schwester auf. Diese sind ebenso Staatsangehörige von Afghanistan. Die (Zieh-) Mutter war schon in Afghanistan bzw. im Iran mit der gesetzl. Vertretung des BF betraut, in Österreich wurde ein förmlicher Obsorgebeschluss erlassen.
Glaubhaft ist, dass die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers eine westlich orientierte Frau ist, die seit ihrer Ankunft ein freies und selbstbestimmtes Leben führt. Die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers ist dabei sich in Österreich zu integrieren.
Der (Zieh-) Mutter des minderjährigen Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom heutigen Tag der Status einer Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Der BF ist Familienangehöriger i.S. des § 2 Z 22 AsylG.
Beweis wurde erhoben: durch die Einvernahmen der (Zieh-)Mutter des Beschwerdeführers
- durch Erstbefragung durch Niederösterreich Fremden- und Grenzpolizeiliche Abteilung, XXXX am 26.02.2020.
- durch Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz am 06.08.2020,
- durch Befragung im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlungen des Bundesverwaltungsgerichtes am 04.05.2021,
- durch Vorhalt des aktuellen Länderinformationsblatts der Staatendokumentation
- sowie durch Einsichtnahme in den die (Zieh-) Mutter des Beschwerdeführers betreffenden Strafregisterauszug durch das Bundesverwaltungsgericht
2. Beweiswürdigung:
Der Mutter des Beschwerdeführers wurde der Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF zuerkannt, ihr kommt damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zu.
Aufgrund dieses Umstandes war es nicht erforderlich, eigene Länderfeststellungen zu treffen. Eigene asylrelevante und aktuelle Asylgründe wurden nicht vorgebracht.
Zu A)
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Asylantrag gestellt hat, soweit der Antrag nicht gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. 2004 Nr. L 304/12 [Statusrichtlinie] verweist). Damit will der Gesetzgeber an die Gesamtheit der aufeinander bezogenen Elemente des Flüchtlingsbegriffs der GFK anknüpfen (VwGH 24.03.2011, 2008/23/1443). Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG 2005 ist der Asylantrag bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offen steht oder wenn er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG 2005) gesetzt hat.
Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (idF des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) – deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben – ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“ (vgl. VfSlg. 19.086/2010; VfGH 12.6.2010, U 613/10)
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011; 17.03.2009, 2007/19/0459; 28.05.2009, 2008/19/1031). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771; 17.03.2009, 2007/19/0459; 28.05.2009, 2008/19/1031; 06.11.2009, 2008/19/0012). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011; 28.05.2009, 2008/19/1031). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Es liegen keine eigenen aktuellen und asylrelevanten Verfolgungsgründe der mj. Beschwerdeführers vor.
§ 34 Abs. 1 AsylG 2005 lautet:
„Stellt ein Familienangehöriger (§ 2 Z 22) von einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist; einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder einem Asylwerber einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.“
Gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 122/2009 hat die Behörde aufgrund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3); die Fortsetzung eines bestehenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK mit dem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, in einem anderen Staat nicht möglich ist und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7 AsylG 2005).
Familienangehörige sind gemäß § 2 Z 22 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 135/2009, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits im Herkunftsstaat bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.
Bei dem Begriff „Familienleben im Sinne des Art. 8 MRK“ handelt es sich nach gefestigter Ansicht der Konventionsorgane um einen autonomen Rechtsbegriff der Konvention (vgl. EGMR, Urteil v. 13.6.1997, Fall MARCKX, Ser. A, VOL. 31, Seite 14, § 31).
Nach dem oben zitierten EGMR-Urteil sind sowohl die Beziehungen der Eltern untereinander, als auch jeweils jene zu den Kindern durch Art. 8 MRK geschützte familiäre Bande. Bei einer diesbezüglichen Familie ergeben sich die von der MRK-Rechtsprechung zusätzlich geforderten engen Bindungen der Familienmitglieder untereinander aus ihrem alltäglichen Zusammenleben, gemeinsamer Sorge und Verantwortung füreinander, sowie finanzieller und anderer Abhängigkeit.
Der VfGH erkannte, dass die Differenzierung von einem gesetzlichen Vertreter eines minderjährigen Kindes und dem minderjährigen Kind bezüglich der Zuerkennung des nicht selben Schutzstatus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz widerspreche. Ein vernünftiger Grund für eine Ungleichbehandlung sei nicht erkennbar: Ein minderjähriges Kind steht zu seinem gesetzlichen Vertreter in vielen Fällen in einem Verhältnis, das dem zwischen Eltern und Kind entspräche.“ (Vgl. VfGH vom 26.06.2020, G 298/2019)
Bei Beschwerdeführer handelt es sich um einen (Zieh-)Sohn der Asylberechtigten XXXX ; St.A. Afghanistan. Er ist ihr Neffe. Seine Eltern wurden bei einem Verkehrsunfall in Afghanistan getötet. Seit seinem sechsten Lebensmonat wächst er bei seiner Tante auf und sieht in ihr seine Mutter. Sie war schon informell mit der Obsorge in Afghanistan bzw. im Iran betraut. In Österreich, erging ein Obsorgebeschluss, der diesen Status bestätigte. Es handelt sich sohin um einen Familienangehörigen iSd. Legaldefinition gem. § 2 Abs.1 Z 22 lit. d AsylG. „der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten sowie ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind, für das einem Asylwerber, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten die gesetzliche Vertretung zukommt, sofern die gesetzliche Vertretung jeweils bereits vor der Einreise bestanden hat.“
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH ist ein ausländisches Rechtsverhältnis nicht allein nach dem entsprechendem Recht, sondern auch nach der Anwendungspraxis des jeweiligen Staates zu beurteilen (VwGH vom 27.06.2017, Ra 2016/18/0277).
Den Länderberichten ist zu entnehmen, dass es in Afghanistan üblich ist, die Obsorge ohne rechtliche Formalitäten anzunehmen. Zu einer gerichtlichen Entscheidung kommt es nur, im Falle von Rechtsstreitigkeiten. Eine Bestimmung für Adoption gibt es in islamischen Recht, auf welchem das afghanische Recht beruht, nicht. Der Beschwerdeführer ist somit als Familienangehöriger im Sinne des § 2 Abs 1 Z 22 AsylG 2005 anzusehen und es ist ein Familienverfahren im Sinne des § 34 AsylG 2005 zu führen.
Die Unmöglichkeit der Fortsetzung des Familienlebens in einem anderen Staat wird in der Regel dann gegeben sein, wenn kein anderer Staat ersichtlich ist, der dem Asylberechtigten und seinem Angehörigen Asyl oder eine dem Asylrecht entsprechende dauernde Aufenthaltsberechtigung gewährt.
Ehegatten führen ebenso wie Kinder mit ihren Eltern ipso iure ein Familienleben.
Mit seiner (Zieh-) Mutter führt der Beschwerdeführer ein Familienleben. Er und seine (Zieh-) Mutter sind Familienangehörige gemäß § 2 Z 22 AsylG 2005.
Im Fall des Beschwerdeführers liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Asyl im Familienverfahren vor, weil dem Antrag seiner Mutter stattgegeben wurde. Das Ermittlungsverfahren ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Mutter des Beschwerdeführers eine „westliche Lebensweise“ angenommen hat. Sie konnte zum Entscheidungszeitpunkt eine entsprechende innere Wertehaltung glaubhaft dem Bundesverwaltungsgericht vermitteln. Aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt sich, dass die Furcht der Mutter des Beschwerdeführers vor Verfolgung im Sinne der GFK wohlbegründet ist.
Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte, wonach der Beschwerdeführer ein Familienleben getrennt von seiner Mutter und seiner Familie in einem anderen Staat zumutbar ist oder möglich wäre, sodass die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl im Zuge eines Familienverfahrens gegeben sind.
Dem Beschwerdeführer war daher Asyl zu gewähren.
Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz am 26.02.2020 – und somit nach dem 15.11.2015 – gestellt wurde, wodurch insbesondere die §§ 2 Abs. 1 Z 15 und 3 Abs. 4 AsylG 2005 idF BGBl. I 24/2016 („Asyl auf Zeit“) gemäß § 75 Abs. 24 AsylG 2005 im konkreten Fall Anwendung finden.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzlichen Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Wie unzweifelhaft der rechtlichen Beurteilung zu entnehmen ist, weicht die gegenständliche Entscheidung weder von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es zu irgendeinem Sachverhaltsaspekt des gegenständlichen Falles an einer Rechtsprechung und kann auch nicht davon gesprochen werden, dass die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in Bezug auf den gegenständlichen Fall als uneinheitlich zu beurteilen wäre. Im Übrigen liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der im vorliegenden Fall zu lösenden Rechtsfragen vor.
Vielmehr wurden die in dem vorliegenden Fall zu lösenden Rechtsfragen auf Basis der bisherigen Judikatur der Höchstgerichte entschieden.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Asyl auf Zeit Asylgewährung von Familienangehörigen Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung Familienangehöriger Familienleben Familienverfahren Flüchtlingseigenschaft mündliche VerhandlungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W159.2237244.1.00Im RIS seit
01.10.2021Zuletzt aktualisiert am
01.10.2021