TE Bvwg Erkenntnis 2021/6/14 W253 2183884-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.06.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

14.06.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W253 2183884-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.12.2017, Zl. XXXX , nach öffentlicher, mündlicher Verhandlung am XXXX 2021, zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am XXXX 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am XXXX 2015 wurde der Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes befragt. Zusammengefasst gab er an, dass er ledig und in Nangarhar geboren worden sei. Er sei sunnitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Befragt zu seinem Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an, dass in Afghanistan Krieg gewesen sei, er habe sich dort immer „fremd“ gefühlt. Das Leben sei schwer gewesen, er habe nicht in die Schule gehen können und arbeiten müssen. Das Leben wäre fast nicht zu bezahlen gewesen.. Ebenso seien Medikamente nicht finanzbierbar gewesen. Einmal sei jemand maskiertnach Hause gekommen und habe nach dem Beschwerdeführer gefragt. Der Vater des Beschwerdeführer habe gesagt, dass dieser nicht da sei. Vorher hätten Unbekannteein paar junge Männer aus der Nachbarschaft mitgenommen. Darum habe sein Vater sein Grundstück verkauft, um die Reise des Beschwerdeführers zu finanzieren.

3. Am 05.02.2016 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ein Abschlussbericht der Landespolizeidirektion (LPD) XXXX ein, demzufolge der Beschwerdeführer im Verdacht stehe, einen schweren Raub begangen zu haben.

4. Am 07.12.2017 nahm der Beschwerdeführer Einsicht in den gegenständlichen Verwaltungsakt.

5. Die Einvernahme vor dem BFA fand am XXXX 2017 statt. Zusammengefasst gab der Beschwerdeführer an, dass er in Paschtu (Muttersprache) nicht schreiben und lesen könne, er habe auf der Baustelle gearbeitet, schweißen könne er auch. Den letzten Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern habe er gehabt als er in der Türkei gewesen sei, er wisse nicht wo seine Angehörigen zurzeit in Afghanistan leben. Darüber hinaus legte der Beschwerdeführer einen Ausweis für die Betrauung mit der Sicherung des Schulweges im Stadtgebiet XXXX , einen Entlassungsbrief der internistischen Notaufnahme LKH XXXX , einen Arztbericht der internistischen Notaufnahme des LKH XXXX und eine Anwesenheitsbestätigung in der Ambulanz der Augenheilkunde des LKH XXXX vor.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass in Afghanistan unbekannte Männer der Taliban versucht hätten ihn mitzunehmen, er sei minderjährig gewesen und habe Angst vor ihnen gehabt. Bereits 2013 hätten sie den Beschwerdeführer schon einmal mitnehmen wollen, woraufhin er in den Iran geflüchtet sei. Nach einem fünfmonatigen Aufenthalt im Iran, sei er abgeschoben worden und wieder zwei Jahre in Afghanistan gewesen, wobei nach wie vor die Taliban ihn hätten mitnehmen wollen. Insgesamt hätten die Taliban sieben Mal versucht den Beschwerdeführer mitzunehmen. Sein Vater habe dies abwenden können, da sich der Beschwerdeführer bei seinem Onkel versteckt habe. Der Vater sei auch von den Taliban geschlagen worden, aber er habe geantwortet, dass er nicht wüsste wo der Beschwerdeführer sei. Sein Onkel habe ein Teil vom Grundstück seines Vaters verkauft und die Reise des Beschwerdeführers organisiert, ca. zwei Wochen nach der letzten Bedrohung habe der Beschwerdeführer dann das Land verlassen, weil sie ihn überall gesucht hätten. Die Taliban würden versuchen junge Leute zu rekrutieren, diese auszubilden und Zivilisten umzubringen, er wisse auch nicht, warum er für die Taliban damals so wichtig gewesen sei.

6. Mit Bescheid des BFA vom 15.12.2017 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und es wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV). Im Bescheid wurde weiters festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass nicht festgestellt habe werden können, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan einer staatlichen Bedrohung bzw. Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Sein Fluchtvorbringen sei nicht glaubhaft und erreiche keine Asylrelevanz. Er habe keine – in der GFK taxativ aufgezählten – Fluchtgründe geltend gemacht. Es hätten sich im Verwaltungsverfahren keine begründeten Hinweise auf eine Flüchtlingseigenschaft ergeben.

7. Am 12.01.2018 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Begründet wurde diese damit, dass der Beschwerdeführer eine Verfolgung durch die Taliban vorgebracht habe, sein Vorbringen sei detailliert. Seine Heimatprovinz zeige auch erhöhte Talibanaktivitäten. Das BFA habe nicht berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer die Bedrohung durch die Taliban (maskierte Männer) schon in der Erstbefragung vorgebracht habe, dies mache sein Vorbringen glaubwürdiger. Das BFA habe nach mangelhaftem Ermittlungsverfahren und Verletzung des Grundsatzes des Parteiengehörs, das Verfahren zusätzlich mit einer mangelhaften Beweiswürdigung und Begründung belastet. Für ihn treffe die Definition eines Flüchtlings im Sinne der GFK zu, weil sich die Verfolgungshandlungen und asylrelevante Diskriminierungen darunter subsumieren lassen würden. Bloße Benachteiligungen und Schikanen würden für sich allein genommen zwar noch keine asylrelevante Intensität begründen, da sich die Eingriffe wie im Falle des Beschwerdeführers gehäuft hätten, dergestalt ein Verbleib im Heimatland unzumutbar sei, sei auch dies als Verfolgung zu werten. Dem Beschwerdeführer stehe auch entgegen der Ansicht des BFA keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, da er sich in einem anderen Landesteil mangels Kontaktmöglichkeiten und der schlechten Versorgungslage, die nur mit persönlichen Kontakten verbessert werden könne, gar nicht niederlassen könne. Er habe zu seiner Familie in Nangarhar keinen Kontakt mehr. Selbst im Falle der Wiederherstellung des Kontaktes sei zweifelhaft, ob die Familie bereit wäre diesen wieder zu unterstützen. Daneben sei er auch Analphabet und habe in Afghanistan niemals eine fixe Arbeit gehabt, er habe lediglich Hilfsarbeiten durchgeführt. Das BFA hätte demnach dem Beschwerdeführer den Status als subsidiär Schutzberechtigter zuerkennen müssen. Außerdem habe das BFA eine mangelhafte Interessensabwägung vorgenommen und sei daher zu Unrecht zu dem Schluss gelangt, dass die Verhängung einer Rückkehrentscheidung zulässig wäre. Der Beschwerdeführer bemühe sich zu integrieren, er arbeite an seinen Deutschkenntnissen sowie unentgeltlich als Schülerlotse, was seine gute Integration im Heimatort zeigen würde.

8. Am 15.01.2018, einlangend mit 22.01.2018, wurde die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

9. Mit Schreiben vom 05.03.2018 wurde eine Meldung der LPD XXXX nachgereicht, der zufolge der Beschwerdeführer im Verdacht stehe, eine Körperverletzung begangen zu haben. Der betreffende Abschlussbericht wurde mit Schreiben vom 18.04.2018 übermittelt.

10. Am 03.09.2018 langte eine Verständigung von der Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer wegen § 12 2. Fall StGB § 142 StGB § 91 StGB beim Bundesverwaltungsgericht ein.

11. Mit Schreiben vom 05.03.2019 informierte das BFA das Bundesverwaltungsgericht von einer weiteren Anklageerhebung gegen den Beschwerdeführer wegen § 83 StGB und § 107 StGB.

12. Mit Schreiben vom 22.03.2019 wurde eine Meldung - erstellt von der LPD XXXX - über die Straftat des Beschwerdeführers nach § 27 Abs. 1 SMG dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

13. Am 23.04.2019 ging beim Gericht eine Mitteilung ein, der zufolge das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 und 2 SMG vorläufig nach § 35 Abs. 9 SMG zurückgelegt wurde.

14. Mit Schreiben vom 28.10.2019 wurde die Verständigung vom (vorläufigen) Rücktritt von der Verfolgung gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 SMG vorgelegt.

15. Mit Schreiben vom 20.01.2020 wurde eine den Beschwerdeführer betreffende Strafverfügung der LPD XXXX übermittelt.

16. Am 25.09.2020 wurde eine Berichterstattung der LPD XXXX übersandt, laut der der Beschwerdeführer an einer gegenseitigen Körperverletzung mit einer anderen Person beteiligt gewesen sei.

17. Mit Schreiben vom 10.05.2020 wurde eine den Beschwerdeführer betreffende Ermahnung sowie fünf Strafverfügungen übermittelt.

18. Aus einem am 21.12.2020 bei Gericht eingelangtem Abschlussbericht der LPD XXXX geht hervor, dass eine Person in Verdacht stehe, unter anderem zum Nachteil des Beschwerdeführers eine Körperverletzung begangen zu haben.

19. Per Schreiben vom 02.02.2021 wurde dem Bundesverwaltungsgericht ein Abschlussbericht - abermals von der LPD XXXX - vorgelegt, dem zufolge der Beschwerdeführer in eine tätliche Auseinandersetzung involviert gewesen sei.

20. Am XXXX 2020 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Rechtsvertreterin und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Darüber hinaus wurde die Zeugin XXXX vom erkennenden Richter einvernommen. Dazu wurde ein Mutter-Kind Pass der Zeugin (Mutter) vorgelegt. Weiters brachte der erkennende Richter das Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom 31.03.2021, die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 und die EASO Country Guidance 2020 in das gegenständliche Verfahren ein. Für eine allfällige schriftliche Stellungnahme wurde eine Frist von zwei Wochen eingeräumt.

21. Mit Schreiben vom 20.04.2021 wurde eine Verständigung über die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Grundversorgung vorgelegt.

22. Am 27.04.2021 wurde ein Protokollsvermerk und eine gekürzte Urteilsausfertigung nachgereicht. Demgemäß wurde der Beschwerdeführer mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 26.03.2021, zu XXXX , gemäß §§ 15 Abs. 1, 83 Abs. 1 StGB sowie §§ 15 Abs.1, 135 StGB zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen, wobei die Höhe eines Tagessatzes mit 4,- EUR bestimmt wurde, verurteilt. Für den Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe wurden 45 Tage Ersatzfreiheitsstrafe festgelegt.

23. Am 27.04.2021 erstattete der Beschwerdeführer eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen ausführte, dass anhand der zu Verfügung stehenden Länderberichten mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in eine aussichtlose Situation geraten würde. Es könne also keinesfalls davon ausgegangen werden, dass es ihm – gerade unter Berücksichtigung seiner besonderen Gefährdungsmomente: keine Bildung, keine besondere Berufserfahrung, keine finanziellen Mittel, kein Unterstützungsnetzwerk - im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative möglich sein würde, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Daher sei dem Beschwerdeführer in eventu der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Abgesehen davon, sei ihm in eventu eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG zu gewähren, da dieser über ein schützenswertes Privat- und Familienleben im Bundesgebiet verfüge. Der Beschwerdeführer und seine Freundin würden ein gemeinsames Kind erwarten. Dazu wurde eine Buchungsbestätigung zum Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss (Volkshochschule XXXX ) vorgelegt.

24. Mit Schreiben vom 14.05.2021 wurde eine Mitteilung über die Aufnahme des Beschwerdeführers in die Grundversorgung übersandt.

25. Per Dokumentenvorlage vom 08.06.2021 wurden die Meldezettel des Beschwerdeführers und seiner Freundin vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht auf Grundlage der Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie durch ein Organ des BFA, dessen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht sowie der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister sowie das Grundversorgungs-Informationssystem fest. Aus den diesbezügliche Angaben und Informationen werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

1.1.    Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am XXXX 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vollinhaltlich ab und es wurde ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Es wurde eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer erlasen und es wurde festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für eine freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen festgesetzt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, woraufhin vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX 2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt wurde, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen.

1.2.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der volljährige Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, trägt den im Spruch angeführten Namen und führt das dort angegebene Geburtsdatum. Er gehört der Volksgruppe der Paschtunen an und bekennt sich zum sunnitischen Islam. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht auch Dari.

Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX , Dorf XXXX , und wuchs dort im Verband seiner Familie auf. Im Jahr 2013 befand er sich für fünf Monate im Iran, wobei er dort auch ca. zwei Monate lang arbeitete. In weiterer Folge wurde er aus dem Iran nach Afghanistan abgeschoben und lebte wiederum bis zu seiner Ausreise nach Österreich – welche sein Onkel (vs) organisierte - in seinem Heimatdorf.

Die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers leben mittlerweile in Pakistan, er hat auch Kontakt zu seinen Eltern.

In Afghanistan leben nach Angaben des Beschwerdeführers außerdem noch ein Onkel und eine Tante väterlicherseits sowie zwei Onkel mütterlicherseits. Der Beschwerdeführer steht mit diesen Angehörigen nicht in Kontakt. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise lebte sein Onkel (vs) im Heimatdorf des Beschwerdeführers, sein Onkel (ms) in einem nur kurz entfernten anderen Ort und seine Tante (vs) in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer hat keine Schul- bzw. Berufsausbildung und wurde nicht alphabetisiert, er verfügt über eine zweijährige Berufserfahrung als Bauarbeiter und Schweißer.

Der Beschwerdeführer ist nach der afghanischen Kultur sozialisiert und ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

Der Beschwerdeführer spricht verkehrstaugliches Deutsch und hat einen Deutschkurs besucht. Er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung. Er bemüht sich um einen Pflichtschulabschluss und nimmt seit Mai 2021 an einem Vorbereitungskurs teil. Darüber hinaus war er als Schülerlotse ehrenamtlich tätig und besuchte ein Fitnessstudio.

Seit ca. eineinhalb Jahren führt der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin namens XXXX eine Beziehung. Die Freundin erwartet im XXXX ein gemeinsames Kind. Seit XXXX 2021 ist er bei seiner Freundin gemeldet, diese hat überdies drei weitere Kinder und arbeitet geringfügig. Ein (finanzielles) Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden besteht nicht. Die beiden beabsichtigen nächstes Jahr zu heiraten. Dennoch weist ihre Beziehung keine besondere Intensität auf.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich ansonsten über keine familiären Anknüpfungspunkte.

Gegen den Beschwerdeführer wurde am 13.11.2015 – aufgrund des unter anderem gegen ihn gerichteten Verdachtes des schweren Raubes - ein Betretungsverbot für das gesamte Areal seiner Betreuungsstelle ausgesprochen. Das diesbezügliche Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.

Am 14.12.2018 wurde beim Beschwerdeführer durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ca. 14,1 Gramm Cannabiskraut sichergestellt. Die Staatsanwaltschaft XXXX legte hierzu – zu XXXX – das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 und 2 SMG vorläufig nach § 35 Abs. 9 SMG zurück.

Mit Urteil des Bezirksgerichts XXXX vom 26.03.2021, zu XXXX , wurde der Beschwerdeführer gemäß §§ 15 Abs. 1, 83 Abs. 1 StGB sowie §§ 15 Abs.1, 135 StGB zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen, wobei die Höhe eines Tagessatzes mit 4,- EUR bestimmt wurde, verurteilt. Für den Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe wurden 45 Tage Ersatzfreiheitsstrafe festgelegt.

Diese Verurteilung umfasst nachstehende Taten des Beschwerdeführers:

?        Am 22.09.2020 versuchte der Beschwerdeführer eine andere Person, durch Versetzen eines Faustschlags in den Gesichtsbereich, am Körper zu verletzen.

?        Am 19.11.2020 hat der Beschwerdeführer dadurch, dass er das Handy von XXXX an sich nahm und sich mit diesem entfernte, XXXX geschädigt, in dem er eine fremde bewegliche Sache aus deren Gewahrsam dauernd entzog, ohne die Sache sich oder einem Dritten zuzueignen, wobei die Tat beim Versuch geblieben ist.

Am 12.06.2017 wurde ihm von der LPD XXXX , XXXX eine Ermahnung erteilt, weil er am 13.03.2017 einen Autobus benutzt und sich dadurch die Beförderung durch ein dem öffentlichen Verkehr dienenden Einrichtung verschafft hat, ohne das nach den Tarifbestimmungen festgesetzte Entgelt zu entrichten.

Der Beschwerdeführer wurde zudem wegen folgenden Verwaltungsübertretungen rechtskräftig bestraft:

?        mit Strafverfügung der LPD XXXX vom 19.08.2019, XXXX , weil er am 22.07.2019 durch lautes Schreien in ungebührlicher Weise störenden Lärm erregt hat,

?        mit Strafverfügung der LPD XXXX vom 13.11.2019, XXXX , weil er am 12.11.2019 den gebotenen Sicherheitsabstand zu einem Einsatzbeamten nicht eingehalten, laut mit dem Einsatzbeamten geschrien und wild mit den Armen in Richtung des Gesichts des einschreitenden Beamten gestikuliert hat,

?        mit Strafverfügung der LPD XXXX vom 02.12.2019, XXXX , weil er am 20.11.2019 durch herumschreien und durch lautes Zurufen eine Amtshandlung behindert hat. Des Weiteren wandten sich Passanten am Vorplatz von der Amtshandlung ab. Er rief zu einem Passanten lautstark die Worte „Fuck you“,

?        mit Strafverfügung der LPD XXXX vom 07.07.2020, XXXX , weil er am 24.06.2020 zweimal durch lautes Schreien in ungebührlicher Weise störenden Lärm erregt hat und sich im Zuge einer Amtshandlung durch wildes Gestikulieren und wiederholtes Zugehen auf die einschreitenden Beamten aggressiv verhalten hat,

?        mit Strafverfügung der LPD XXXX vom 09.09.2020, XXXX , weil er am 08.09.2020 einen Autobus benutzt und sich dadurch die Beförderung durch einer dem öffentlichen Verkehr dienenden Einrichtung verschafft hat, ohne das nach den Tarifbestimmungen festgesetzte Entgelt zu entrichten und hat bei der Betretung im Beförderungsmittel nach Aufforderung den Fahrpreis und einen allfälligen in den Tarifbestimmungen oder Beförderungsbedingungen vorgesehenen Zuschlag nicht unverzüglich und auch nicht binnen zwei Wochen bezahlt sowie

?        mit Strafverfügung der LPD XXXX vom 06.10.2020, XXXX , weil er am 22.09.2020 in aggressiver Weise herumgeschrien, vor den Beamten wild mit seinen Händen herum gestikuliert und trotz mehrfacher Abmahnung sein Verhalten nicht eingestellt hat.

1.3.    Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer war von Seiten der Taliban weder Mitnahme- noch Rekrutierungsversuchen ausgesetzt.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Der Beschwerdeführer ist wegen seines Aufenthalts in einem westlichen Land oder wegen seiner Wertehaltung in Afghanistan im Falle einer Rückkehr keinen psychischen oder physischen Eingriffen in seine körperliche Integrität ausgesetzt.


1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Nangarhar aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Der Beschwerdeführer ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan (in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat) nicht in Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Er hat derzeit nur zu seinen Eltern in Pakistan Kontakt, er könnte jedoch über sie Kontakt zu seinen weiteren Familienmitgliedern - allen voran zu seinem Onkel (vs), welcher die Ausreise des Beschwerdeführers organisierte - in Afghanistan aufnehmen. Seine Eltern sowie, im Falle einer erfolgreichen Kontaktaufnahme, sein Onkel (vs) und andere Familienmitglieder könnten ihn im Fall der Rückkehr zumindest vorübergehend finanziell unterstützen.

Der Beschwerdeführer kann neben der Unterstützung seiner Eltern und möglicherweise anderen Familienmitgliedern auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Diese umfasst jedenfalls die notwendigen Kosten der Rückreise.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten, nach einer Ansiedlung in der Stadt Herat/Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif oder Herat ausschließen könnten, können nicht festgestellt werden. Er kann dort seine Existenz – zumindest anfänglich – mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Es kann nicht festgestellt werden, dass er nicht in der Lage ist in Herat oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Herat und Mazar-e Sharif sind über die dortigen Flughäfen sicher zu erreichen.

1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

Aus dem Länderinformationsblatt für Afghanistan (Stand 31.03.2021) wird auszugsweise, soweit gegenständlich maßgeblich, wie folgt angeführt:

1.5.1. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 17.3.2020). Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hochburg in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen (USDOD 1.7.2020). Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht (SIGAR 30.7.2020).

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (SIGAR 30.1.2020). Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt (BBC 1.4.2020). Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind (TD 2.4.2020). Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt (BBC 1.4.2020; vgl. HRW 13.1.2021), was den afghanischen Friedensprozess gefährden könnte (SIGAR 30.1.2021).

Die Sicherheitslage im Jahr 2020

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.2.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (AAN 16.8.2020).

Die Taliban starteten wie üblich eine Frühjahrsoffensive, wenn auch unangekündigt, und verursachten in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 43 Prozent aller zivilen Opfer, ein größerer Anteil als 2019 und auch mehr in absoluten Zahlen (AAN 16.8.2020). Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu (SIGAR 30.7.2020). Während im Jahr 2020 Angriffe der Taliban auf größere Städte und Luftangriffe der US-Streitkräfte zurückgingen, wurden von den Taliban durch improvisierte Sprengsätze (IEDs) eine große Zahl von Zivilisten getötet, ebenso wie durch Luftangriffe der afghanischen Regierung. Entführungen und gezielte Tötungen von Politikern, Regierungsmitarbeitern und anderen Zivilisten, viele davon durch die Taliban, nahmen zu (HRW 13.1.2021; vgl. AAN 16.8.2020).

In der zweiten Jahreshälfte 2020 nahmen insbesondere die gezielten Tötungen von Personen des öffentlichen Lebens (Journalisten, Menschenrechtler usw.) zu. Personen, die offen für ein modernes und liberales Afghanistan einstehen, werden derzeit landesweit vermehrt Opfer von gezielten Attentaten (AA 14.1.2021, vgl. AIHRC 28.1.2021).

Obwohl sich die territoriale Kontrolle kaum verändert hat, scheint es eine geografische Verschiebung gegeben zu haben, mit mehr Gewalt im Norden und Westen und weniger in einigen südlichen Provinzen, wie Helmand (AAN 16.8.2020).

Zivile Opfer

Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (UNAMA2.2021; vgl. AIHRC 28.1.2021) und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (UNAMA 2.2021).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druck- platten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (UNAMA 2.2021).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffe waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (AIHRC 28.1.2021).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (AIHRC 28.1.2021).

[…]

Während des gesamten Jahres 2020 dokumentierte UNAMA Schwankungen in der Zahl der zivilen Opfer parallel zu den sich entwickelnden politischen Ereignissen. Die „Woche der Gewaltreduzierung“ vor der Unterzeichnung des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban in Doha am 29.2.2020 zeigte, dass die Konfliktparteien die Macht haben, Schaden an der Zivilbevölkerung zu verhindern und zu begrenzen, wenn sie sich dazu entschließen, dies zu tun. Ab März wuchs dann die Besorgnis über ein steigendes Maß an Gewalt, da UNAMA zu Beginn des Ausbruchs der COVID-19-Pandemie eine steigende Zahl von zivilen Opfern und Angriffen auf Gesundheitspersonal und -einrichtungen dokumentierte. Regierungsfeindliche Elemente verursachten mit 62% weiterhin die Mehrzahl der zivilen Opfer im Jahr 2020. Während UNAMA weniger zivile Opfer dem Islamischen Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISIL-KP, ISKP) und den Taliban zuschrieb, hat sich die Zahl der zivilen Opfer, die durch nicht näher bestimmte regierungsfeindliche Elemente verursacht wurden (diejenigen, die UNAMA keiner bestimmten regierungsfeindlichen Gruppe zuordnen konnte), im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt (UNAMA 2.2021; vgl. AAN 16.8.2020). Pro-Regierungskräfte verursachten ein Viertel der getöteten und verletzten Zivilisten im Jahr 2020 (UNAMA 2.2021; vgl. HRW 13.1.2021). Nach den Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind von allen zivilen Opfern in Afghanistan im Jahr 2020 die Taliban für 53 % verantwortlich, regierungsnahe und verbündete internationale Kräfte für 15 % und ISKP (ISIS) für fünf Prozent. Bei 25 % der zivilen Opfer sind die Täter unbekannt und 2 % der zivilen Opfer wurden durch pakistanischen Raketenbeschuss in Kunar, Chost, Paktika und Kandahar verursacht (AIHRC 28.1.2021).

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl in den ersten fünf Monaten 2019, als auch im letzten Halbjahr 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 12.2019; vgl. USDOD 1.7.2020). Die Gesamtzahl der öffentlichkeitswirksamen Angriffe ist sowohl in Kabul als auch im ganzen Land in den letzten anderthalb Jahren stetig zurückgegangen (USDOD 12.2019). Zwischen 1.6.2019 und 31.10.2019 fanden 19 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 17) (USDOD 12.2019), landesweit betrug die Zahl 88 (USDOD 12.2019). Angriffe auf hochrangige Ziele setzen sich im Jahr 2021 fort (BAMF 18.1.2021).

Öffentlichkeitswirksame Angriffe durch regierungsfeindliche Elemente setzten sich fort. Der Großteil der Anschläge richtet sich gegen die ANDSF und die internationalen Streitkräfte; dazu zählte ein komplexer Angriff der Taliban auf den Militärflughafen Bagram im Dezember 2019. Im Februar 2020 kam es in der Provinz Nangarhar zu einer sogenannten ’green-on-blue-attack’: der Angreifer trug die Uniform der afghanischen Nationalarmee und eröffnete das Feuer auf internationale Streitkräfte, dabei wurden zwei US-Soldaten und ein Soldat der afghanischen Nationalarmee getötet. Zu einem weiteren Selbstmordanschlag auf eine Militärakademie kam es ebenso im Februar in der Stadt Kabul; bei diesem Angriff wurden mindestens sechs Personen getötet und mehr als zehn verwundet (UNGASC 17.3.2020). Dieser Großangriff beendete mehrere Monate relativer Ruhe in der afghanischen Hauptstadt (DS 11.2.2020; vgl. UNGASC 17.3.2020). Seit Februar haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen dieANDSF aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen um Provinzhauptstädte - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden (USDOD 1.7.2020). Die Taliban setzten außerdem bei Selbstmordanschlägen gegen Einrichtungen der ANDSF in den Provinzen Kandahar, Helmand und Balkh an Fahrzeugen befestigte improvisierte Sprengkörper (SVBIEDs) ein (UNGASC 17.3.2020).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Taliban

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Mitte Juni 2020 berichtete das Magazin Foreign Policy, dass Akhundzada und Jalaluddin Haqqani und andere hochrangige Taliban-Führer sich mit dem COVID-19-Virus angesteckt hätten und dass einige von ihnen möglicherweise sogar gestorben seien sowie dass Mullah Mohammad Yaqoob Taliban- und Haqqani-Operationen leiten würde. Die Taliban dementierten diese Berichte (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020, RFE/RL 2.6.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen absolviert haben und ethnische Paschtunen sind (EASO 8.2020c; vgl. Osman 1.6.2020). Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 (EASO 8.2020c; vgl. NYT 12.9.2019) oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020, UNSC 27.5.2020). Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 Prozent zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021).

Haqqani-Netzwerk

Das formell 1996 gegründete Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation (ASP 1.9.2020), Bestandteil der Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020). Es verfügt über Kontakte zum IS/ISKP (EASO 8.2020c; vgl RA KBL 12.10.2020). Das Netzwerk ist nach seinem Gründer Jalaluddin Haqqani benannt (CRS 12.02.2019), einem führenden Mitglieddes antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist sein Sohn Serajuddin Haqqani [auch Sirajuddin Haqqani] (EASO 8.2020c; cf. UNSC 27.5.2020)

Als von den US-Truppen und der afghanischen Armee als „tödlichste und ausgefeilteste Aufständischengruppe in Afghanistan“ (ASP 1.9.2020) bzw. „gefährlichster“ Arm der Taliban bezeichnet, hat das Haqqani-Netzwerk seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019 und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019). Das Netzwerk ist vor allem in den südlichen und östlichen Teilen des Landes und in den Provinzen Paktika, Helmand, Kandahar und Khost (RA KBL 12.10.2020; vgl. EASO 8.2020 sowie in Paktia und Teilen Ghaznis aktiv (ASP 1.9.2020; vgl. TD 31.12.2019).

Die afghanische Regierung entließ drei führende Mitglieder des Netzwerks im Zuge des Gefangenenaustausch im November 2019 (RA KBL 12.10.2020; vgl. NYT 19.11.2019, BBC 19.11.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP)

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019) bzw. 4.000 und 5.000 Kämpfern (EASO 8.2020c). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (VOA 21.5.2019).

Der ISKP geriet in dessen Hochburgen in Ostafghanistan nachhaltig unter Druck (UNGASC 17.3.2020; vgl. RA KBL 12.10.2020), da sich jahrelang die Militäroffensiven der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte auf diese konzentrierten. Auch die Taliban intensivierten in jüngster Zeit ihre Angriffe gegen den ISKP in dieser Region (SIGAR 30.1.2020). So sollen 5.000 Talibankämpfer aus der Provinz Kandahar gekommen sein, um den ISKP in Nangarhar zu bekämpfen (DW 26.2.2020; vgl. MT 27.2.2020). Im November 2019 ist die wichtigste Hochburg des islamischen Staates in Ostafghanistan zusammengebrochen (NYT 2.12.2019; vgl. SIGAR 30.1.2020 wobei über 1.400 Kämpfer und Anhänger des ISKP, darunter auch Frauen und Kinder, kapitulierten (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020, UNGASC 17.3.2020). Der islamische Staat soll jedoch weiterhin in den westlichen Gebieten der Provinz Kunar präsent sein (UNGASC 17.3.2020). Die landesweite Mannstärke des ISKP hat sich seit Anfang 2019 von 3.000 Kämpfern auf zwischen 200 (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020) und 300 Kämpfer reduziert (NYT 2.12.2019).

Angriffe des ISKP gingen zurück, aber die Gruppe war für mehrere tödliche Bombenanschläge verantwortlich (HRW 13.1.2021). 49 Angriffe werden dem ISKP im Zeitraum 8.11.2019-6.2.2020 zugeschrieben, im Vergleichszeitraum des Vorjahres wurden 194 Vorfälle registriert. Im Berichtszeitraum davor wurden 68 Angriffe registriert (UNGASC 17.3.2020).

Die Macht des ISKP in Afghanistan ist kleiner als jene der Taliban; auch hat er viel Territorium verloren. Der ISKP war bzw. ist nicht Teil der Friedensverhandlungen mit den USA und ist weiterhin in der Lage, tödliche Angriffe durchzuführen (BBC 25.3.2020). Aufgrund des Territoriumsverlustes ist die Rekrutierung und Planung des ISKP stark eingeschränkt (NYT 2.12.2019).

Der ISKP verurteilt die Taliban als 'Abtrünnige’, die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Angesichts der Aufnahme von Gesprächen der Taliban mit den USA predigte der ISKP seine Mission weiterhin als eine reinere Form des Dschihad im Gegensatz zur Öffnung der Taliban für US-Gespräche (EASO 8.2020c; vgl. SaS 10.2.2020). Nach Angaben der UNO zielt ISKP darauf ab, von den Taliban und Al-Qaida abtrünnige Rekruten zu gewinnen, insbesondere solche, die sich jeglichen Vereinbarungsgesprächen mit den US-amerikanischen oder afghanischen Regierungen widersetzen (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Am 4.4.2020 verhaftete die Nationale Sicherheitsdirektion Afghanistans (NDS) den IS-Führer in Afghanistan (AnA 30.4.2020; vgl. HRW 6.4.2020). Die Gruppe ist jedoch immer noch aktiv und führt weiterhin Angriffe durch (DW 3.8.2020; vgl. AVA 1.11.2020).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission), ist die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von ISKP-Angriffen im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 21 Prozent gesunken. Die Gesamtzahl der durch ISKP-Angriffe in Afghanistan im Jahr 2020 getöteten oder verletzten Zivilisten beträgt 403; während die Gesamtzahl der durch ISKP in Afghanistan im Jahr 2019 getöteten oder verletzten Zivilisten 515 betrug (AIHRC 28.1.2018).

Al-Qaida und mit ihr verbundene Gruppierungen

Gemäss UNO-Bericht vom Mai 2020 ist Al-Qaida in 12 Provinzen mit 400-600 Bewaffneten verdeckt aktiv (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Al-Qaida unterhält Beziehungen zu den Taliban und eine begrenzte Präsenz in Afghanistan (UNSC 27.5.2020), wobei sie ihre Aktivitäten meist unter dem Dach anderer AGEs, insbesondere der Taliban, durchführt (UNAMA 22.2.2020; vgl. EASO 8.2020c). Nach Ansicht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen stellen Al-Qaida und andere ausländische Terroristen, die unter dem Schutz und Einfluss der Taliban stehen, eine langfristige globale Bedrohung dar (UNSC20.1.2020):

Während in der Vergangenheit beide Gruppierungen immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont hatten (UNSC 15.1.2019), bestritten die Taliban kürzlich, Verbindungen zu Al-Qaida zu haben, und gingen nach dem US-Abkommen im Juni 2020 so weit, zu leugnen, dass Al-Qaida in Afghanistan überhaupt existiert (LWJ 15.6.2020; vgl. EASO 8.2020c). Im Zuge des US-Taliban-Abkommen haben die Taliban zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020 EASO 8.2020c).

Im Oktober 2020 wurde der ranghohe Al-Qaida-Chef Abu Muhsin al-Masri von einer Spezialeinheit der afghanischen Streitkräfte in Ghazni in einen Dorf, welches unter Talibankontrolle steht getötet. Die afghanische Regierung sieht darin einen eindeutigen Beweis, dass die Taliban ungeachtet der laufenden Friedensverhandlungen nach wie vor enge Beziehungen zu Terrorgruppen pflegen (DW 25.10.2020; vgl. NZZ 24.10.2020, VOA 10.11.2020) und nach Angaben der Vereinten Nationen ist Al-Qaida immer noch stark in die Taliban in Afghanistan eingebettet (BBC 29.10.2020; vgl. AnA 2.6.2020). Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen (FAZ 29.1.2021).

Rekrutierung Minderjähriger

Das Problem der Rekrutierung von Kindern, einschließlich Zwangsrekrutierung sowie Entführungen und sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch regierungsfeindliche Gruppen, Milizen oder afghanische Sicherheitskräfte besteht weiter fort. Im Jahr 2019 waren es laut UNAMA insgesamt 64 Jungen vor allem im Norden des Landes, welche durch die Taliban sowie durch afghanische Sicherheitskräfte rekrutiert wurden (UNAMA 7.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die Taliban wenden, laut Berichten von NGOs und UN, Täuschung, Geldzusagen, falsche religiöse Zusammenhänge oder Zwang an, um Kinder zu Selbstmordattentaten zu bewegen (USDOS 11.3.2020; vgl. EASO 6.2018, DAI/CNRR 10.2016), teilweise werden die Kinder zur Ausbildung nach Pakistan gebracht (EASO 6.2018). Im Jahr 2019 waren es laut UNAMA insgesamt 64 Jungen vor allem im Norden des Landes, welche durch die Taliban sowie durch afghanische Sicherheitskräfte rekrutiert wurden (UNAMA 7.2020; vgl. AA 16.7.2020).

1.5.2. Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (Nangarhar)

Nangarhar liegt im Osten Afghanistans, an der afghanisch-pakistanischen Grenze. Die Provinz grenzt im Norden an Laghman und Kunar, im Osten und Süden an Pakistan (Tribal Distrikts Kurram, Khyber und Mohmand der Provinz Khyber Pakhtunkhwa) und im Westen an Logar und Kabul (NPS Nangarhar o.D.a; vgl. UNOCHA 16.4.2010, UNOCHA Nangarhar 4.2014). Die Provinzhauptstadt von Nangarhar ist Jalalabad (NPS Nangarhar o.D.; vgl. OPr Nangarhar 1.2.2017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara- e-Nur, Deh Bala [auch bezeichnet als Haska Mena; vgl. TBIJ 13.11.2019, VoA 28.6.2019], Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, SherZad, Shinwar und Surkh Rud (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Nangarhar 2019, UNOCHA Nangarhar 4.2014, NPS Nangarhar o.D.) sowie dem temporären Distrikt Spin Ghar (NSIA 1.6.2019 vgl. IEC Nangarhar 2019).

Nangarhar ist eine der am dichtest besiedelten Provinzen Afghanistans und das wirtschaftliche Zentrum der Ostregion des Landes (AREU 6.2020). Die National Statistics and Information Aut- hority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung von Nangarhar im Zeitraum 2020/21 auf 1.701.698 Personen; davon 271.867 Einwohner in der Hauptstadt Jalalabad (NSIA 1.6.2020). Die Bevölkerung besteht mehrheitlich aus Paschtunen, gefolgt von Pashai, Arabern und Tadschiken (NPS Nangarhar o.D.). Viele Mitglieder der Sikh- und Hindu-Gemeinschaft aus Jalalabad (EASO 5.8.2020) habenAfghanistan in den letzten Jahrzehnten verlassen (Wire 5.4.2020). Nach einem Angriff auf die Sikh-Gemeinschaft in Kabul im März 2020 kündigte die verbleibend Hindu- und Sikh-Gemeinschaft von Jalalabad an, vollständig in ein anderes Land zu übersiedeln (KP 4.4.2020).

Die Straße von Kabul nach Jalalabad und weiter zum Grenzübergang Torkham mit Pakistan (Dawn 14.12.2019; vgl. MoPW 16.10.2015, Zenger 10.10.2020) ist Teil der Asiatischen Fernstraße AH-1 Tokio-Edirne (ESCAP 8.8.2019) sowie des Autobahnprojektes Peschawar-Kabul-Du- schanbe (Dawn 14.12.2019) und führt durch die Distrikte Surkhrod, Jalalabad, Behsud, Rodat, Batikot, Shinwar, Muhmand Dara (UNOCHA Nangarhar 4.2014). In Pakistan soll die Strecke von Peschawar über den Khyber-Pass zur Grenze in Torkham zur Autobahn ausgebaut werden. Auf afghanischer Seite gibt es Stand Dezember 2019 jedoch keine Aktivitäten eines Ausbaus der Strecke Torkham-Kabul (Dawn 14.12.2019).

Der Flughafen Jalalabad wird von der NATO militärisch (USDOD 1.7.2020; vgl. BW 12.7.2020); bei Bedarf auch zivil genutzt, vor allem während der Hadsch nach Mekka (BW 12.7.2020). Das United Nations Humanitarian Air Service (UNHAS), ein Flugbetreiber vorwiegend für Mitarbeiter humanitärer Hilfsorganisationen, der UN und Diplomaten, fliegt Jalalabad Stand Oktober 2020 zwei Mal wöchentlich von Kabul aus an (WFP/UNHAS 27.9.2020). Linienflüge durch zivile Fluggesellschaften finden Stand 13.11.2020 nicht statt (F24 13.11.2020). Ein neuer Flughafen für die zivile Nutzung soll im Gebiet von Kozkunar errichtet werden. Baubeginn für das 40 Millionen US-Dollar teure Projekt war im Juli 2020, es soll in zwei Jahren abgeschlossen sein (BW 12.7.2020).

An der Fernstraße Kabul-Jalalabad attackieren Aufständische Konvois der Sicherheitskräfte (TN 7.7.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 wurden bei Verkehrsunfällen an dieser Strecke mindestens 45 Personen getötet und ca. 100 Personen verletzt (PAJ 30.12.2019). Die Grenzabfertigung in Torkham geht langsam vor sich (Zenger 10.10.2020). An den Straßen in der Provinz heben die Taliban Steuern ein (AREU 6.2020). Die gebirgige Landschaft ermöglicht auch Aufständischen unkontrollierte Grenzüberquerungen in die ehemaligen Stammesgebiete Pakistans (VOA 28.6.2019; vgl. UNSC 27.5.2020).

Hintergrundinformationen zum Konflikt und Akteuren

Nangarhar galt als eine der ISKP-Hochburgen Afghanistans (RAND 14.9.2020; vgl. UNSC 1.2.2019).

Die Stärke des ISKP insbesondere in Nangarhar und den angrenzenden östlichen Provinzen wurde 2019 auf 2.500-4.000 Kämpfer geschätzt (UNSC 13.6.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019).

Anhaltender Druck der US-amerikanischen und afghanischen Streitkräfte (USDOD 1.7.2020; vgl. NYT 2.12.2019, SIGAR 30.1.2020, UNSC 27.5.2020, taz 14.5.2020) und der Taliban (USDOD 1.7.2020; vgl. NYT 2.12.2019, SIGAR 30.1.2020, RAND 14.9.2020, UNSC 27.5.2020, PM 23.12.2019, taz 14.5.2020) resultierten in Niederlagen des ISKP im November 2019 in Nangarhar und im März 2020 in Kunar (VoA 12.5.2020; vgl. NYT 2.12.2019; vgl. SIGAR 30.1.2020, UNSC 27.5.2020). Der ISKP musste die Kontrolle von Gebieten in Nangarhar aufgeben (USDOD 1.7.2020; vgl. UNSC 27.5.2020), verfügt aber nach wie vor über ein operatives Netzwerk in Kabul und eine Präsenz im Osten Afghanistans (VoA 12.5.2020; vgl. taz 14.5.2020).

Zahlreiche hochrangige IS-Mitglieder sind nach der militärischen Niederlage nach Pakistan geflohen (AAN 1.3.2020).

Sowohl die Taliban als auch die Regierungstruppen haben Gebietsgewinne erzielt. Die Regierung kontrolliert nun den größten Teil der Niederungen. Die Taliban wiederum dehnten ihre Kontrolle auf die abgelegenen, gebirgigen Gebiete der Provinz aus. Regierungstruppen kontrollieren fast vollständig zehn der 22 Distrikte Nangarhars (Behsud, Kama, Dara-ye Nur, Batikot, Kot, Shinwar, Dur Baba, Pachir wa Agam, Achin und Momand Dara). In acht weiteren Distrikten (Gushta, Spinghar, Lalpur, Nazyan, Rodad, Kuz Kunar, Deh Bala und Chaparhar) ist sie stärker vertreten als die Taliban. Die Taliban kontrollieren große Teile von vier Distrikten (Sherzad, Khogyani, Hesarak und Surkhrod). Die übrigen Gebiete werden von den pakistanischen Gruppen Lashkar-e Islam, Tehrik-e Taleban Pakistan und Jabhat ul-Ahrar kontrolliert. Die zivilen Verwaltungen in den Distrikten Sherzad und Hesarak haben ihren Sitz in der Provinzhauptstadt Jalalabad und die Sicherheitskräfte in diesen Distrikten verbleiben weitgehend in den Distriktzentren und den nahe gelegenen Dörfern (AAN 1.3.2020). Während die afghanischen Streitkräfte zuvor nur für kurze Zeit Gebiete vom ISKP räumen konnten, ist es nach November 2019 gelungen, diese Gebiete zu halten und die Rückkehr von ISKP-Kämpfern zu verhindern (UNSC 27.5.2020).

Al Qaida ist in Nangarhar versteckt aktiv. Auch pakistanische Aufständischengruppierungen sind in Nangarhar unter der Schirmherrschaft der Taliban präsent (UNSC 27.5.2020).

In den Distrikten Achin, Khogyani und Sherzad betreiben lokale Gemeinschaften Bürgerwehren. Sie erhalten militärische und logistische Unterstützung von der NDS und den USA und spielten eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS (AAN 1.3.2020). In Nangarhar sind militärische Spezialeinheiten, auch als counter-terrorism pursuit teams bezeichnet, aktiv. Sie werden inoffiziell von der US Central Intelligence Agency (CIA) ausgebildet und beaufsichtigt. Ihnen werden außergerichtliche Tötungen, Massenexekutionen und Folter vorgeworfen, die straflos bleiben. Die in Nangarhar aktive Einheit wird als NDS-02 bezeichnet (HRW 31.10.2019; vgl. WIIPA 21.8.2019).

Auf Regierungsseite befindet sich Nangarhar im Verantwortungsbereich des 201. Afghan National Army (ANA) Corps, das der NATO-Mission Train Advise Assist Command - East (TAAC-E) untersteht, welche von US-amerikanischen und polnischen Streitkräften geleitet wird (USDOD 1.7.2020).

Internationale Kräfte haben sich aus Teilen Nangarhars im Mai 2020 zurückgezogen und die Verantwortung der ANA übergeben (ST 5.10.2020).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die zivile Bevölkerung

[…]

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA576 zivile Opfer (190 Tote und 386 Verletzte) in der Provinz Nangarhar. Dies entspricht einem Rückgang von 46% gegenüber 2019. Die Hauptursache dafür waren Selbstmordanschläge, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und Bodenkämpfe (UNAMA 2.2021).

Nachdem im November 2019 von der Regierung die Zerschlagung des ISKP erklärt wurde, hat die Nationalarmee die Kontrolle über die Distrikte Spin Ghar, Achin, Haska Mina und Shinwari übernommen. Gemäß Angaben von Bewohnern hat sich die Sicherheitslage in diesen Distrikten deutlich verbessert (ST 5.10.2020; vgl. NAT 21.11.2019, Obs 3.12.2019). Berichte aus dem Distrikt Achin besagen, dass nach der Räumung vom ISKP die Infrastruktur weitgehend zerstört war und Gefahr durch Minen und Kampfmittelrückstände bestand (NAT 21.11.2019; vgl. Obs 3. 12.2019). Nach der Räumung des Distriktes Khogyani vom ISKP durch die Taliban wurden die Gesundheitseinrichtungen wieder geöffnet (PM 23.12.2019).

Im Jahr 2020 wird die Sicherheitslage in Nangarhar weiterhin als volatil bezeichnet (UNOCHA 4.11.2020; vgl. UNOCHA2.9.2020, UNOCHA24.6.2020, KN 10.6.2020). In Jalalabad führen die Sicherheitskräfte Operationen gegen Schläferzellen des IS durch (UNSC 27.5.2020). Angriffe in der Stadt Jalalabad, die oftmals dem IS zugeschrieben werden (ACLED 18.8.2020; vgl. RTL 5.8.2020, UNSC 5.8.2020), zeigen, dass die Gruppe immer noch in der Lage ist, komplexe Angriffe durchzuführen (ACLED 18.8.2020; vgl. UNSC 27.5.2020).

Im Oktober 2020 wird von Kämpfen in den Distrikten Sherzad und Khogyani berichtet (UNOCHA 4.11.2020; UNOCHA 22.10.2020). Es kommt staatlicherseits zu Luftangriffen gegen die Taliban (ANI 6.2.2021; PAJ 20.1.2021; ACLED 28.10.2020; PI 15.2.2020) und zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Taliban (PAJ 6.10.2020; AJ 3.10.2020; MEN- AFN 18.9.2020; AT 7.7.2020). Aufständische führen Angriffe auf zivile Ziele (BW 3.9.2020; TN 14.6.2020; NDTV 12.5.2020; RSF 10.12.2020) und Sicherheitskräfte durch (BAMF 1.2.2021; AJ 30.1.2020).

1.5.3. Balkh

Balkh liegt im Norden Afghanistans und grenzt im Norden an Usbekistan, im Nordosten an Tadschikistan, im Osten an Kunduz und Baghlan, im Südosten an Samangan, im Südwesten an Sar-e Pul, im Westen an Jawzjan und im Nordwesten an Turkmenistan (UNOCHA Balkh 13.4.2014; vgl. GADM 2018). Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Balkh, Char Bolak, Char Kent, Chimtal, Dawla

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten