TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/20 W117 2244752-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.08.2021
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Entscheidungsdatum

20.08.2021

Norm

BFA-VG §22a Abs1 Z3
B-VG Art133 Abs4
FPG §76 Abs2 Z1
VwG-AufwErsV §1 Z1
VwGVG §35 Abs1

Spruch


W117 2244752-2/8E

Im Namen der Republik!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. DRUCKENTHANER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gregor KLAMMER gegen die Anhaltung in Schubhaft seit 04.08.2021, zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA-VG idgF, § 76 Abs. 2 Z. 1 FPG idgF Folge gegeben und festgestellt, dass die Anhaltung des Beschwerdeführers seit 04.08.2021, 00:00 Uhr, rechtswidrig war.

II. Gemäß § 35 Abs. 1 VwGVG idgF iVm § 1 Z. 1 VwG-AufwErsV idgF, hat der Bund (Bundesminister für Inneres) dem Beschwerdeführer Aufwendungen in Höhe von € 767,60 Euro binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

B)


Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang und Sachverhalt:

Zur Person des Beschwerdeführers:

Am 09.11.2017 brachte der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den ersten Antrag auf internationalen Schutz ein.

Bereits der niederschriftlichen Befragung vom 09.11.2017 vor dem Stadtpolizeikommando Wels, gab der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund folgendes an:

„Es war viel Krieg, die Taliban kamen immer wieder, sie wo/Iten uns mitnehmen in den Krieg. Sie wollten Geld von meinem Vater für den Dschihad. Mein Vater hat gesagt er gibt ihnen kein Geld. Die Taliban haben daraufhin gemeint sie bringen seinen Sohn um. Mein Vater hat daraufhin zu mir gesagt ich soll flüchten."

Nach Zulassung seines Verfahrens wurde sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz I iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBI. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen. Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz I Ziffer 13 AsylG wurde auch der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz I Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBI. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBI. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist. Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG wurde die Frist für Ihre freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung bestimmt.

Die gegen diese Entscheidung der Verwaltungsbehörde eingebrachte Beschwerde wurde durch das Bundesverwaltungsgericht verworfen und ist das Asylverfahren des Beschwerdeführers seit 20.07.2020 rechtskräftig negativ abgeschlossen.

Der Beschwerdeführer wurde durch das Landesgericht Innsbruck am 14.05.2020, unter der Zahl 027HV 123/2019b, rechtskräftig mit 14.05.2020 nach § 107 (1) StGB, zu einer Geldstrafe von 80 Tags zu je 4,00 EUR (320,00 EUR) im NEF 40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, davon Geldstrafe von 40 Tags zu je 4,00 EUR (160,00EUR) im NEF 20 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, bedingt, Probezeit 3 Jahre verurteilt (Jugendstraftat).

Der Beschwerdeführer hatte am 01.09.2019 in Lienz sein Opfer zumindest mit Verletzungen am Körper gefährlich bedroht um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er sein Opfer am linken Unterarm erfasste und ihm die geballte Faust vor ihr Gesicht hielt und ihre Frage, ob er sie nun auch schlagen werde, damit beantwortete, dass dies kein Problem sei.

Weiter hatte er das zweite Opfer mit der Äußerung „Schlampe, ich bring dich um!" gefährlich bedroht. Der unbedingte Teil der Geldstrafe wurde am 22.06.2020 vollzogen.
Einundzwanzig (21) Tage nach seiner ersten Tat wurde er erneut straffällig und durch das Landesgericht Innsbruck am 15.07.2020, unter der Zahl 023 HIV 11/2020d, rechtskräftig mit 15.07.2020, nach § 15 StGB, § 87 (I) StGB, zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 6 (sechs) Monaten, Probezeit 3 (drei) Jahr, und zu einer Geldstrafe von 360 Tagsätzen zu je €4,00, 1440 € gesamt, im NEF 180 Tage Ersatzfreiheitsstrafe, verurteilt. Aufgrund dessen, dass er zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt war, wurde er aufgrund einer Jugendstraftat verurteilt.

Er hatte am 22.09.2019 in Lienz dem Opfer eine schwere Körperverletzung absichtlich versucht, zuzufügen, indem er ein Küchenmesser (Klingenlänge 10cm) von hinten in den Rücken stachen, wobei er dem Opfer eine ca. 15cm lange Stichverletzung im Bereich des Rippenbogens zugefügt hatte.

Am 22.10.2020 wurde ein Heimreisezertifikat für den Beschwerdeführer beantragt.

Der Beschwerdeführer reiste aber in der Folge illegal in die Schweiz aus und stellte in der Schweiz am 03.08.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz, wo er am 05.08.2020 erkennungsdienstlich behandelt wurde.

Am 21.07.2021 wurde er von der Schweiz nach Österreich rücküberstellt, aufgrund der Asylantragstellung erkennungsdienstlich behandelt und einvernommen und gab an:

„Der alte Fluchtgrund bleibt aufrecht. Die Sicherheitslage ist schlecht. Viele Ortschaften wurden von den Taliban eingenommen es werden viele Soldaten getötet. Ich habe keine Möglichkeit zurückzukehren ich gelte als ungläubig.“

(…) Wegen mir bekommt mein Vater Drohungen es wird gesagt wenn ich nicht zurückkehre wird meiner Familie etwas passieren. Ich bekomme auch Probleme von den Taliban. Ich bekomme Informationen von den Nachbarn falls ich zurückkehre wird mir etwas passieren.“

Mit Mandatsbescheid vom 22.07.2021, IFA-Zahl/Verfahrenszahl: 1173339202/210991457, ordnete die Verwaltungsbehörde gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme an.

Neben der Darstellung der bisherigen asylrechtlichen Situation führte die Verwaltungsbehörde auch noch umfassend – siehe vorhin – zur Delinquenz des Beschwerdeführers aus; zu seiner aktuellen rechtlichen Lage hielt die Verwaltungsbehörde fest:

„Es ist ein Asylverfahren anhängig, Sie verfügen über faktischen Abschiebeschutz die

Entscheidung ist noch nicht durchführbar.“

In rechtlicher Hinsicht führte die Verwaltungsbehörde im Hinblick auf die massive Straffälligkeit weiters aus:

„Durch Ihr persönliches Verhalten ist die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet und stellen Sie auch eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr dar. die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, weil Sie durch Ihr Verhalten gezeigt haben, dass Sie äußerst aggressiv und gewalttätig sind. Nur 21 Tage Ihrer ersten Tat, begingen Sie Ihre zweite Tat, wo Sie sogar nicht zurückschreckten ein Messer als Waffe zu benutzen. (…) Dass Sie nicht zurückschrecken, auf jemanden einzustechen und gewaltbereit sind, wurde als erschwerend erkannt, und floss in das Ermittlungsverfahren ein.

Daher liegt in Ihrem Fall eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit iSd §§ 67 FPG und 76 Abs. 2 Z 1 FPG vor.

Am 17.08.2021 erhob der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter Schubhaftbeschwerde und beantragte vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan, welche die Schubhaftzweckverwirklichung – die Abschiebung nach Afghanistan – verunmöglichen würden, die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Schubhaft ab dem 04.08.2021 und die Aufhebung der aktuellen Schubhaft sowie den Zuspruch der Kosten des Verfahrens.

Die Verwaltungsbehörde legte fristgerecht den Akt vor und teilte mit Email vom 18.08.20212 mit, dass der Beschwerdeführer am Folgetag nach dessen asylrechtlicher Einvernahme (zum Folgeantrag) aus der Schubhaft entlassen würde.

Am 19.08.2021 wurde der Beschwerdeführer (dann auch) aus der Schubhaft wegen „Wegfall des Schubhaftgrundes“ entlassen.

Zur Möglichkeit der Schubhaftzweckverwirklichung, der tatsächlichen Abschiebung des Beschwerdeführers:

Seit dem 25.07.2021 hatte sich die Lage in Afghanistan weiter dramatisch verschlechtert; die radikal-islamische Terrorgruppierung der Taliban hatte in der Folge ab Anfang August auch immer mehr Provinzhauptstädte in geradezu rasend schneller Zeit unter Kontrolle gebracht, und schien schon damals die afghanische Regierung dem Vormarsch machtlos gegenüberzustehen.

Der EGMR hatte am 02.08.2021 mit einer sogenannten „Vorläufigen Maßnahme“, zugestellt per Fax und auf dem (normalen) Postweg, nach Art 39 der Verfahrensordnung unter der Zahl ECHR-LE2.2bR VKO/KWE/jl zur Beschwerde des nach Afghanistan abzuschiebenden R.A. (Beschwerdenummer 38335/21) die Rückführung dieser Person bis 31. August 2021 stoppte.

Bereits am 03.08.2021 war diese Entscheidung den Medien zu entnehmen, zum Beispiel Kurier-online-Ausgabe v. 03.08.2021.

Unter anderem wurde die österreichische Regierung eingeladen, bis 31.August 2021, folgende Fragen zu beantworten:

1. Wie plant ihre Regierung im Lichte der berichteten Entscheidung des afghanischen Ministers für Flüchtlings- und Rückführungsangelegenheiten, so wie (es) den EU-Regierungen mitgeteilt (wurde), Abschiebungen vom 8. Juli bis 8. Oktober 2021 nicht mehr zu akzeptieren, die für 3. August 2021 vorgesehene Rückführung des Antragstellers?

2. Besteht im Lichte der jüngsten Entwicklungen, die offensichtlich vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und dem Bundesverwaltungsgericht in ihren jüngsten Entscheidungen nicht berücksichtigte Sicherheitssituation in Afghanistan betreffend, welche seit Beginn Juli 2021 den afghanischen Minister für Flüchtlings- und Rückführungsangelegenheiten veranlasste, keine zwangsweisen Rückführungen mehr zu akzeptieren, was (wiederum) Grund für die Regierungen in Finnland, Schweden und Norwegen war, alle Rückführungen nach Afghanistan bis auf weiteres auszusetzen, das „real risk“ eines irreparablen Schadens hinsichtlich der Konventionsrechte des Antragstellers unter dem Aspekt des Art 3 , wenn er, wie aktuell vorgesehen, am 03.08.2021 abgeschoben würde.

3. Hat der Beschwerdeführer alle ihm verfügbaren Rechtsbehelfe/Rechtsmittelverfahren ausgeschöpft, innerhalb derer die inländischen Gerichte in der Lage waren/sind, die jüngsten Änderungen hinsichtlich der Sicherheitssituation in Afghanistan und deren Auswirkungen auf die Konventionsrechte des Antragstellers vor seiner Rückführung nach Afghanistan, zu berücksichtigen?

Diese in dieser Vorläufigen Maßnahme an die österreichische Regierung herangetragenen Fragen bliebe bis heute unbeantwortet.

Die afghanische Botschafterin in Österreich hielt am 06.08.2021 in einem Interview mit dem ORF fest, dass in Afghanistan „Krieg herrscht. Das Leben der Abgeschobenen steht auf dem Spiel.“ Die afghanische Regierung schaffe es nicht, Unterkünfte und Essen für die 100.000 aktuell Vertriebenen zur Verfügung zu stellen, umso weniger sei es möglich, abgeschobene Rückkehrer zu versorgen.

Botschafterin Manizha Bakhtari ersuchte die EU daher im Interview mit Ö1, den dreimonatigen Abschiebestopp, den die Regierung in Kabul im Juli erbeten hat, nicht nur umzusetzen, sondern auf vorerst unbestimmte Zeit zu verlängern. Sobald sich die Sicherheitslage verbessere, sollten die Rückführungen wiederaufgenommen werden. Bakhtari zufolge ist die Sicherheitslage dramatisch: Seit April habe es mehr als 5.500 Attacken und Anschläge durch die Taliban gegeben. Mehr als 4.000 Soldaten und 2.000 Zivilistinnen und Zivilisten, darunter auch Kinder, seien ums Leben gekommen.

Hervorzuheben ist weiters, dass Deutschland bereits am 03.08.2021 eine Abschiebung von sechs Afghanen aus Sicherheitsgründen abbrach; dass die deutsche Bundesregierung zum damaligen Zeitpunkt die Abschiebung in absehbarer Zukunft nachzuholen beabsichtigte, war eher als bloße Absichtserklärung ohne realen Hintergrund zu werten, denn gab der deutsche Außenminister am 11.08.2021 öffentlich bekannt:

„Die afghanische Regierung hatte uns schon vor einiger Zeit gebeten, Abschiebungen bis Oktober auszusetzen“.

Festgehalten wird, dass mit Deutschland auch die Niederlande am 11.08.2021 ankündigten, „Abschiebungen für die nächsten Monate auszusetzen“ (ZIB 2).

Die Frankfurter Allgemeine (Autoren Johannes Leithäuser, Rainer Hermann) hielt am 04.08.2021 fest, dass die Bundesregierung Deutschlands die Abschiebung von sechs Afghanen (unmittelbar vor dem Abflug) abgebrochen hatte – man wollte die afghanischen Behörden nicht mit „verschiebbaren Abschiebevorgängen“ belasten. Ein Sprecher des deutschen Bundesinnenministeriums sagte am 04.08.2018, der Flug mit den sechs „ausreisepflichtigen afghanischen Männern“ hättee am späten Dienstag starten sollen. Nach Informationen über mehrere Explosionen am Zielort Kabul sei die Aktion jedoch abgebrochen worden, da nicht mehr gewährleistet gewesen sei, dass dort „die sichere Übernahme“ reibungslos hätte stattfinden können (…). Das Innenministerium gab damals noch an, der verschobene Flug würde nachgeholt werden, „so zeitnah das möglich ist“. Es sei damit zu rechnen, dass es „in Kabul immer wieder mal“ zu solchen Anschlägen komme. Aus einer Einzelfallentscheidung könnten keine allgemeingültigen Schlüsse gezogen werden. (…)

Nach übereinstimmenden Medienberichten (Krone etc.) betraf das Scheitern einer geplanten Rückführung am 03.08.2021 auch Österreich. Man habe keine Landeerlaubnis erhalten.

Der Schubhaftzweck war daher ab den 04.08.2021 nicht mehr realisierbar.

In der Folge hatten nach übereinstimmenden Medienberichten die Taliban zwischenzeitlich am Freitag, dem 06.08.2021, den Sprecher der Regierung und des Präsidenten ermordet; weiters hatten sie zeitnah eine zweite Provinzhauptstadt, nämlich Sheberghan in der Provinz Jowzjan im Norden des Landes, in Afghanistan erobert haben; Sheberghan liegt rund 130 Kilometer von Mazar-i-Sharif entfernt an einer wichtigen Ost-West-Verbindung in Nordafghanistan. Die Stadt mit geschätzt 130.000 Einwohnerinnen und Einwohnern galt als wichtiges Tor zu den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes. (orf.at, 07.08.2021)

Kurz darauf, nämlich am 08.08.2021, nahmen die Taliban nach übereinstimmenden Medienberichten die Provinzhauptstadt Kunduz im Norden des Landes ein.

Damit brachten die Taliban innerhalb von drei Tagen fünf Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle. Seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan Anfang Mai liefen bereits mehrere Offensiven der Taliban. Erst konnten sie vor allem im ländlichen Raum große Gebietsgewinne verzeichnen. Sie kontrollierten zwischenzeitlich bereits mehr als die Hälfte der rund 400 Bezirke des Landes und auch mehrere Grenzübergänge. Ab 07./08.08. verlagerten sich die Kämpfe zunehmend in die Hauptstädte der 34 Provinzen (orf.at, 08.08.2021).

Nach Medienberichten schaute die afghanische Regierung tatenlos zu: Am frühen Sonntagabend (08.08.2021) wurde Taloqan, die Hauptstadt der Provinz Tachar im Nordosten des Landes, eingenommen.„Die Sicherheitskräfte von Taloqan hätten sich aus der Stadt zurückgezogen, sagte Provinzrat Rohullah Raufi, um zivile Opfer und Zerstörung zu vermeiden. Ein Mitglied des Militärs erklärte, das sei geschehen, „nachdem die Regierung keine Hilfe geschickt hat“. Die Stadt mit etwa 260.000 Einwohnerinnen und Einwohnern war seit mehreren Wochen umzingelt.“ (orf.at „Taliban setzen Offensive in Afghanistan fort“).

Am 11.08.2021 kündigten Deutschland und die Niederlande an, „Abschiebungen für die nächsten Monate auszusetzen“ (ZIB 2), der deutsche Außenminister Heiko Maas gab in einem Statement bekannt:
„Die afghanische Regierung hatte uns schon vor einiger Zeit gebeten, Abschiebungen bis Oktober auszusetzen, dem kommen wir jetzt nach, ich halte das auch für richtig (…)“

Nach Medienberichten vom 12.08.2021 war auch die „Drittgrößte afghanische Stadt Herat gefallen (orf.at).

Zuvor hatten die Taliban die afghanische Provinzhauptstadt Ghazni nur 150 Kilometer vor den Toren Kabuls erobert.

Herat war die elfte Provinzhauptstadt, die innerhalb einer Woche von den Taliban erobert wurde. Sicherheitskreise in Herat erklärten: „Wir mussten die Stadt verlassen, um weitere Zerstörung zu verhindern.“ Sie bestätigten damit entsprechende Angaben der Islamisten.

Der Vorsitzende des Provinzrates von Ghazni, Nassir Ahmed Fakiri, seinerseits betonte: „Die Taliban haben die Kontrolle über die wichtigsten Bereiche der Stadt erlangt.“ Die strategisch wichtige Stadt Ghazni liegt an einer zentralen Verbindungsstraße zwischen Kabul und Kandahar. Die afghanischen Streitkräfte sind zunehmend von Verstärkung über den Landweg abgeschnitten. Mit dem Verlust von Ghazni dürfte der Druck auf die ohnehin überlastete Luftwaffe wachsen.“

Am 13.08.2021 hatten die Taliban zwischenzeitlich Kandahar „vollkommen erobert“, wie folgendem Online-Artikel aus orf.at (und vielen anderen Medien) zu entnehmen ist:

„VOLLKOMMEN EROBERT“

„Taliban übernehmen Kandahar

Kandahar, die zweitgrößte Stadt Afghanistans, ist an die militant-islamistischen Taliban gefallen. Die wichtigsten Regierungseinrichtungen der rund 600.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden, im Süden des Landes gelegenen Stadt seien in den Händen der Islamisten, bestätigten zwei Parlamentarier und ein Provinzrat am Freitag (orf.at, 13.08.2021).
„Kandahar ist vollkommen erobert“, hatte zuvor auch ein Taliban-Sprecher via Twitter mitgeteilt. „Die Mudschaheddin haben den Märtyrerplatz in der Stadt erreicht.“ Die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz ist das wirtschaftliche Zentrum des Südens und war der Geburtsort der Taliban-Bewegung in den 1990er Jahren. Kandahar diente zudem als Hauptstadt der Islamisten während ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001.

Mehr als drei Wochen lang sei es innerhalb der Stadt zu schweren Zusammenstößen zwischen der Regierung und den Taliban in Kandahar gekommen, bevor die Sicherheitskräfte die Stadt evakuiert hätten, sagte der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin, der die Provinz im Parlament vertritt. Die Regierungstruppen hätten schließlich die wichtigsten Regierungsbehörden verlassen – laut dpa kontrollierten diese aber weiterhin den Flughafen von Kandahar, der während des 20-jährigen Einsatzes der US-Streitkräfte der zweitgrößte Stützpunkt in Afghanistan war.“

Im selben Online-Artikel wird die Dominanz der Taliban aktuell wie folgt dargestellt:

„15 Provinzhauptstädte in Hand der Taliban

Mit dem Zusammenbruch der Stadt Kandahar und der am Freitag ebenfalls gemeldeten Eroberung von Laschkargah und Firus Koh haben die Taliban nun innerhalb einer Woche 15 Hauptstädte der 34 Provinzen des Landes überrannt. Laschkargah in der Provinz Helmand sei in die Hände der Islamisten gefallen, sagte ein Vertreter der afghanischen Sicherheitsbehörden Freitagfrüh laut AFP. Er bestätigte damit entsprechende Angaben der Taliban. Die Armee und Regierungsvertreter hätten die seit Wochen schwer umkämpfte 200.000-Einwohner-Stadt verlassen.

Ebenfalls Freitagfrüh wurde die Eroberung von Firuzkoh und damit der Hauptstadt der im Westen Afghanistans gelegenen Provinz Ghor bestätigt. Die Stadt mit geschätzt 130.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sei ohne jeglichen Widerstand von den Islamisten übernommen worden, sagte der Provinzrat Fasel-ul Hak Ehsan. Die Sicherheitskräfte und mehrere Regierungsvertreter hätten sich in eine Militärbasis in der Stadt zurückgezogen.“

Bereits am Donnerstag hatten die Taliban die drittgrößte Stadt Herat und die strategisch wichtige Stadt Ghazni eingenommen. Von den wichtigen Städten hält die Regierung nur noch die Hauptstadt Kabul, Mazar-i-Sharif im Norden und Jalalabad im Osten. Die Taliban kontrollieren inzwischen etwa zwei Drittel Afghanistans. Von US-Geheimdiensten wird nicht ausgeschlossen, dass sie Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen übernehmen könnten.“

Ebenfalls ist entsprechend umfassenden Medienberichten vom 13.08.2021 die Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan durch Frankreich und Dänemark zu entnehmen:

„Frankreich und Dänemark setzen Abschiebungen aus

Nach Deutschland und den Niederlanden setzten am Donnerstag auch Frankreich und Dänemark Abschiebungen nach Afghanistan offiziell aus. Bereits seit Anfang Juli habe es keine Rückführungen mehr in den Krisenstaat gegeben, teilte das Innenministerium in Paris mit. Frankreich beobachte die Situation gemeinsam mit seinen europäischen Partnern genau.

Das dänische Migrationsministerium erklärte, der Bitte Afghanistans nachzukommen und die Abschiebung von Asylwerbern bis 8. Oktober auszusetzen. Dänemark hatte noch unlängst gemeinsam mit Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Griechenland die EU in einem Brief zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gedrängt – trotz des Vormarsches der Taliban.“

Auch der Vizekanzler betonte schon im Oe24-Sommergespräch am 12.08.2021 unzweifelhaft die faktische und rechtliche Unmöglichkeit von Abschiebungen nach Afghanistan:

„Kogler: Abschiebungen „faktisch nicht möglich“

In Österreich will unterdessen das ÖVP-geführte Innenministerium in Wien weiter an Rückführungen festhalten. Die Grünen stellen sich dagegen. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) erklärte laut Aussendung gegenüber Oe24.tv, dass Abschiebungen „faktisch nicht möglich“ seien, „weil es für die Flieger gar keine Landeerlaubnis in Afghanistan gibt“.

Kogler sagte: „Wie es in Afghanistan zugeht, ist richtig schlimm. Das hat auch Konsequenzen. Auch wenn die eine oder andere Stimme aus dem Innenministerium anderes sagt: Abschiebungen gibt es derzeit nicht nach Afghanistan.“ Rechtlich würden Einzelfallprüfungen dazu führen, dass das „nicht mehr infrage kommt“. Abschiebeflüge seien auch in den nächsten Wochen „so gut wie unvorstellbar“, so der Vizekanzler.“

Am 15.08.2021 war dann der Vormarsch der Taliban mit der Einnahme des ganzes Landes durch die Taliban abgeschlossen. In der Folge berichteten die Medien von chaotischen Ereignissen am Flughafen in Kabul:

In sozialen Netzwerken gingen Bilder um, die zeigten, wie verzweifelte Zivilisten eine bereits überfüllte und verbogene Stiege hinaufkletterten, um ein geparktes Passagierflugzeug zu besteigen. Andere Bilder zeigten, wie Menschen aus beträchtlicher Höhe von einem Militärflugzeug fallen. Es wurde gemutmaßt, dass sich die Menschen im Bereich der Flugzeugräder der Militärmaschine versteckt hatten.

Mittlerweile haben alle europäischen Staaten Abschiebungen nach Afghanistan eingestellt, auch Österreich.

Faktisch wird allerdings ohnehin nicht mehr nach Afghanistan abgeschoben. „Das weiß die ganze Bundesregierung, und das wird so sein“, bestätigte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) beim ORF- „Sommergespräch“.

Auch Bundespräsident Dr. Alexander Van der Bellen sprach sich eindeutig gegen Abschiebungen aus:

Bundespräsident Van der Bellen sieht Abschiebungen nach Afghanistan aufgrund der aktuellen politischen Entwicklungen "fehl am Platz". Eine solche Vorgehensweise stehe im Widerspruch zur in der Österreichischen Verfassung verankerten Europäischen Menschenrechtskonvention, befand das Staatsoberhaupt am Dienstag in sozialen Medien.

(Kurier, 17.8.2021, https://kurier.at/politik/inland/abschiebungen-nach-afghanistanfuer-

van-der-bellen-fehl-am-platz/401474749)

Auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres ersuchte am 16.08.2021 die Staaten von Abschiebungen Abstand zu nehmen (Kurier, wo).

Aktuell bauen die Taliban nach Medienberichten eine neue afghanische Regierung auf. Wie eine Regierung in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban in Zukunft aussehen wird, ist noch unbekannt. Ähnlich wie bei der vorherigen Herrschaft der militanten Islamisten könnte ein Führungsrat das Land regieren. Das sagte ein ranghoher Taliban-Vertreter am Mittwoch. „Eine Demokratie wird es aber keine sein.“ (…) Die von ihm skizzierte Machtstruktur ähnelt der Herrschaft der Taliban zwischen 1996 und Ende 2001, bevor sie nach den Anschlägen vom 11. September durch eine von den USA geführte Allianz gestürzt wurden.

Islamische Gelehrte befinden über Frauenrechte

In Afghanistan hielt sich unterdessen das Misstrauen gegenüber den neuen Machthabern – trotz der Versprechen der Taliban, auf Racheakte zu verzichten, auch andere politische Kräfte an der Macht zu beteiligen und Frauenrechte innerhalb islamischer Gesetze zu respektieren. Viele befürchten eine Rückkehr der Schreckensherrschaft der Islamisten der 1990er Jahre, während der etwa Frauen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren und die Vorstellungen der Islamisten mit barbarischen Strafen durchgesetzt wurden.

Hashimi sagte, die Rechte von Frauen sollen künftig von einem Rat islamischer Gelehrter festgelegt werden. Diese Gelehrten würden letztlich über Arbeit und Bildung für Frauen, ob Mädchen zur Schule gehen dürfen und wie sich Frauen zu kleiden haben, entscheiden. Sie würden auch darüber entscheiden, ob Frauen einen kopftuchähnlichen Hijab, eine den ganzen Körper umhüllende Burka oder nur einen Schleier und eine Abaja – eine Art Ganzkörpergewand, bei der das Gesicht unbedeckt ist – oder etwas anderes tragen sollen, so Hashimi. „Das bleibt ihnen überlassen. (…) Am Dienstag hatte Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid gesagt, die Rechte von Frauen würden respektiert, sie dürften arbeiten, studieren und aktiv an der Gesellschaft teilnehmen – „aber im Rahmen des Islams“. (orf.at, 18.08.2021).

Einem UNO-Dokument zufolge intensivieren die Taliban ihre Jagd auf alle Personen, die mit den NATO- und US-Streitkräften zusammengearbeitet haben. Die Flucht aus Afghanistan wird unterdessen zunehmend schwieriger – auf dem Kabuler Flughafen ereigneten sich Augenzeugen zufolge „dramatische Szenen“. Die Taliban wiesen die Vorwürfe jedoch zurück. Sie würden allen eine sichere Ausreise ermöglichen (orf.at, 19.08.2021)

Zuletzt hatte der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 18. August 2021, E 3115/2021-4, dem von einem aktuell in Schubhaft befindlich gewesenen Beschwerdeführer gestellten Antrag, seiner Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, gemäß § 85 Abs. 2 und 4 VfGG Folge gegeben, weil dem zwingende öffentliche Interes-sen nicht entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen mit dem Vollzug des angefochtenen Erkenntnisses für den Beschwer-deführer ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre. Der Verfassungsgerichtshof führte (auf seiner Homepage) begründend aus:

„Vor dem Hintergrund der aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan ist für den VfGH nicht zu erkennen, dass eine zeitnahe – die gesetzlichen Höchstgrenzen der Anhaltung in Schubhaft berücksichtigende – Abschiebung des Antragstellers in seinen Herkunftsstaat möglich ist. Die Verhängung und Aufrechterhaltung der Schubhaft (und der damit einhergehende Freiheitsentzug) erweisen sich jedoch nur dann als verhältnismäßig, wenn das zu sichernde Verfahren letztlich zu einer Abschiebung führen kann.

Der Beschwerdeführer hatte sich zuvor an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewandt. Mit Schreiben vom 2. August 2021 ersuchte der EGMR die Abschiebung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat Afghanistan bis 31. August 2021 auszusetzen. Nach der heutigen Entscheidung des VfGH sind die Voraussetzungen für eine einstweilige Maßnahme des EGMR nach Artikel 39 der Verfahrensordnung des EGMR im beim VfGH anhängigen Verfahren nicht gegeben.“

Eine Änderung dieser Sachverhaltskonstellation seit 04.08.2021 ist auf absehbare Zeit nicht erkennbar.

Beweiswürdigung:

Obige Sachverhaltsfeststellungen zur Person des Beschwerdeführers sind unstrittig – die Beschwerde führen diesbezüglich auch nichts aus. Das Bundesverwaltungsgericht teilt daher die Ansicht der Verwaltungsbehörde hinsichtlich der vom Beschwerdeführer in Freiheit ausgehenden Gefahr – siehe auch noch Anmerkungen im Rahmen der rechtlichen Beurteilung.

Jene (Feststellungen) zur Frage der Verwirklichung des Schubhaftzweckes ergaben sich aus den als notorisch anzusehenden Medienberichten.

Die Verwaltungsbehörde hat mit ihrer Entlassung vom gestrigen Tag wegen „Wegfall des Schubhaftgrundes“, der eben in der Verwirklichung der Abschiebung bestand, zu dessen Zweck der Beschwerdeführer in Schubhaft genommen wurde, diesem Ergebnis (aus den Medienberichten) zugestimmt..

Dass sich die Lage in Afghanistan auf absehbare Zeit – konkret: innerhalb der nächsten 10 Monate, siehe rechtliche Beurteilung – nicht ändern wird, ist insofern auch als notorisch anzusehen, als die amerikanischen Truppen ab 31.08.2021 Afghanistan gänzlich verlassen haben werden und ab diesem Zeitpunkt die Taliban völlig unkontrolliert schalten und walten können, wie es Ihnen beliebt.

Unzweifelhaft ergibt sich also aus den Medienberichten, dass der Schubhaftzweck ab dem 04.08.2021 nicht mehr verwirklichbar ist; das Bundesverwaltungsgericht hatte dies auch bereits in einer Reihe anderer Erkenntnisse ausgesprochen – zum Beispiel: W 250 2245221-1 v. 16.08.2021 u.a.

Insbesondere mussten die der österreichischen Regierung gestellten Fragen des EGMR mangels bekannter Antwort seitens des Bundesministers für Inneres unbeantwortet bleiben.

Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben, da der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage und des Inhaltes der Beschwerde geklärt war und Widersprüchlichkeiten in Bezug auf die für die gegenständliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltselemente nicht vorlagen.

Rechtliche Beurteilung:

Gesetzliche Grundlagen

Der mit „Schubhaft“ betitelte § 76 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, lautet entscheidungswesentlich:

„§ 76. (1) Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.

(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn

1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,

2. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

3. (…).

Hinsichtlich der Dauer der Anhaltung ist wiederum § 80 FPG maßgeblich; dieser lautet entscheidungswesentlich:

§ 80 (1) Das Bundesamt ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert. Die Schubhaft darf so lange aufrechterhalten werden, bis der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist oder ihr Ziel nicht mehr erreicht werden kann.

(…)

(5) Abweichend von Abs. 2 und vorbehaltlich der Dublin-Verordnung darf die Schubhaft, sofern sie gegen einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, angeordnet wurde, bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme die Dauer von 10 Monaten nicht überschreiten. (…).

Der mit „Rechtsschutz bei Festnahme, Anhaltung und Schubhaft“ überschriebene § 22a des BFA-Verfahrensgesetzes lautet entschheidungswesentlich:

㤠22a. (1) Der Fremde hat das Recht, das Bundesverwaltungsgericht mit der Behauptung der Rechtswidrigkeit des Schubhaftbescheides, der Festnahme oder der Anhaltung anzurufen, wenn

1. (…),

2. (…), oder

3. gegen ihn Schubhaft gemäß dem 8. Hauptstück des FPG angeordnet wurde.

(…)

(5) Gegen die Anordnung der Schubhaft ist eine Vorstellung nicht zulässig.“

Zu Spruchteil A. – Spruchpunkt I. – Schubhaftbescheid, Anhaltung in Schubhaft

Im vorliegenden Fall wurde Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2 Z. 1 FPG zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet.

Grundsätzlich ist der Verwaltungsbehörde diesbezüglich auch nicht entgegenzutreten, da sich nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH v. 19.11.2020, Ra 2020/21/0424) „diese Bestimmung als Umsetzung des Haftgrundes des Art. 8 Abs. 3 lit. e der Aufnahme-RL (Richtlinie 2013/33/EU) in seiner Ausprägung Erfordernis der Haft aus Gründen der öffentlichen Ordnung darstellt, sodass in dessen Rahmen nunmehr (auch außerhalb von durch die Z 3 des § 76 Abs. 2 FrPolG 2005 erfassten "Dublin-Konstellationen") Schubhaft grundsätzlich auch gegen Fremde mit Bleiberecht in Betracht kommt (siehe VwGH 27.4.2020, Ra 2019/21/0367; VwGH 12.11.2019, Ra 2019/21/0305)“ und der Beschwerdeführer eine große Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Österreich ist.

Dem aber ungeachtet vertritt der Verwaltungsgerichtshof die Ansicht, dass auch derartigen auf §76 Abs.2 Z 1 FPG basierenden Schubhaften nur folgender eingeschränkter Anwendungsbereich zukommt:

VwGH vom 19.11.2020, Ra 2020/21/0424 (mit weiteren Nachweisen) – Hervorhebung durch den Einzelrichter:

„Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 1 FrPolG 2005 darf ‚aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann verhängt werden, wenn das in dieser Bestimmung genannte zu sichernde Verfahren‚ über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme' auch in eine Abschiebung münden kann‘ (vgl. VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0177; VwGH 17.4.2020, Ro 2020/21/0004; VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0116, Rn. 12; VwGH 29.9.2020, Ro 2020/21/0011). Die Freiheitsentziehung darf ausschließlich das Ziel verfolgen, einen Fremden außer Landes zu schaffen.

Eine Schubhaft darf darum nicht verhängt werden, wenn sie allein dem Zweck dient, den für eine Entscheidung über einen Asylantrag maßgeblichen Sachverhalt festzustellen. Aus der Zweckbindung der Freiheitsentziehung folgt, dass sie unzulässig ist, wenn ein Fremder aus faktischen Gründen nicht abgeschoben werden kann: Das Ziel - die Außerlandesschaffung - kann dann nämlich nicht erreicht werden. Entsprechendes gilt, wenn sich erst im Laufe einer Haft herausstellt, dass eine Zweckerfüllung unmöglich ist: In diesem Fall ist die Freiheitsentziehung zu beenden. Daraus folgt, dass die Anordnung und der Vollzug einer auf § 76 Abs. 2 Z 1 FrPolG 2005 gestützten, der Verfahrenssicherung dienenden Schubhaft dann nicht in Betracht kommt, wenn von vornherein feststeht, dass eine Abschiebung in den Zielstaat (innerhalb der Schubhafthöchstdauer) nicht realisierbar sein wird. In diesem eingeschränkten Sinn ist die genannte Bestimmung in verfassungskonformer Auslegung zu verstehen (…).

Hinsichtlich des zeitlichen Rahmens, führte der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 19.11.2020, Ro 2020/21/0015 aus – Hervorhebung durch den Einzelrichter:

„Schon nach dem Wortlaut des § 80 Abs. 5 FrPolG 2005, verdeutlicht durch die Gesetzesmaterialien zum FrÄG 2017 (ErläutRV 1523 BlgNR 25. GP 36 f) wird darauf abgestellt, dass die Schubhaft zunächst gegen den Fremden zur Sicherung des Verfahrens über einen (anhängigen) Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme verhängt wurde. In diesem Fall darf die Anhaltung in Schubhaft gemäß dem ersten Satz dieser Bestimmung nicht nur sechs Monate, wie nach § 80 Abs. 2 Z 2 FrPolG 2005 grundsätzlich normiert, sondern - bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme - zehn Monate dauern.“

Für die Frage der Rechtfertigung der bisherigen (und allenfalls weiteren) Anhaltung – im Hinblick auf den Folgeantrag des Beschwerdeführers führte der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27.08.2020, Ro 2020/21/0003, noch folgendes aus:

„Es spricht grundsätzlich nichts dagegen - über die nach § 40 Abs. 5 BFA-VG 2014 maximale Anhaltedauer von 72 Stunden hinaus - iSd. § 76 Abs. 2 Z 1 iVm. dem letzten Satz des § 76 Abs. 2 FrPolG 2005 unter Bezugnahme auf § 40 Abs. 5 BFA-VG 2014 und damit aus unionsrechtlichem Blickwinkel ebenfalls auf Art. 8 Abs. 3 lit. d der Aufnahme-RL gestützt (demnach ohne dass es einer Gefährdung nach § 67 FrPolG 2005 bedürfte) Schubhaft zu verhängen. Dass eine solche Schubhaft allein auf den im Rahmen der Anhaltung gestellten Antrag auf internationalen Schutz zurückzuführen sei, trifft nicht zu. Es bedarf nämlich - neben dem Vorliegen von Fluchtgefahr und der Verhältnismäßigkeit von Schubhaft - ergänzend des in § 40 Abs. 5 BFA-VG 2014 angesprochenen missbräuchlichen Verhaltens, also dass der Antrag auf internationalen Schutz "einzig und allein" zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden (vgl. VwGH 19.9.2019, Ra 2019/21/0204).“

Für den gegenständlichen Fall bedeutet dies:

Ungeachtet der prinzipiellen Anwendbarkeit des §76 Abs. 2 Z 1 FPG war, wie sich aus den Medienberichten ergebend und auch festgestellt, die Verwirklichung des Abschiebezwecks ab dem 04.08.2021 nicht mehr möglich und wird vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung auch nicht im Rahmen der nächsten 10 Monate möglich sein und hatte der Beschwerdeführer, der bereits im ersten Verfahren die Furcht vor den Taliban ins Treffen führte, den nunmehrigen Asylantrag, gemessen am Maßstab des VwGH, nicht "einzig und allein" zu dem Zweck gestellt, seine Abschiebung zu verzögern; mit anderen Worten: Ein missbräuchlich gestellter Asylfolgeantrag liegt gegenständlich nicht vor.

Dies aber hat wiederum die Rechtswidrigkeit der Anhaltung ab diesem Zeitpunkt bis zur tatsächlichen Entlassung am 19.08.2021 zur Folge.

Der Vollständigkeit halber sei angeführt, dass (auch) der gegenständliche Fall die Grenzen dessen aufzeigt, was Schubhaft zu leisten imstande ist: Ein offensichtlich für die Sicherheit des Staates gefährlicher Straftäter musste freigelassen werden, weil das Instrument der Schubhaft auf derartige Fälle nicht anwendbar ist und eine entsprechende Regelung seitens des Gesetzgebers fehlt.

Zu Spruchpunkt III. und IV. (Kosten)

Gemäß § 35 Abs. 1 VwGVG hat die im Verfahren über Beschwerden wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt obsiegende Partei Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen durch die unterlegene Partei.

Ihm gebührt daher gemäß § 35 Abs. 1 und Abs. 2 VwGVG iVm § 1 Z. 1 VwG-AufwErsV Kostenersatz in der Höhe von EUR 767,60. Darin enthalten ist auch der Kostenersatz im Umfang der Eingabengebühr, da diese entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ebenfalls zu ersetzen ist (vgl. VwGH vom 28.05.2020, Ra 2019/21/0336).

Da der Beschwerdeführer vollständig obsiegte, waren ihm die Kosten zuzusprechen; dementsprechend war das Kostenbegehren der Verwaltungsbehörde zu verwerfen.

Zu Spruchpunkt V. (Revision)

Da der gegenständliche Fall rein tatsachenlastig war, war die ordentliche Revision zuzulassen.

Schlagworte

Abschiebungshindernis Folgeantrag Kostenersatz öffentliche Interessen öffentliche Sicherheit Rechtswidrigkeit Rückkehrentscheidung Schubhaft Sicherheitslage Straffälligkeit strafrechtliche Verurteilung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W117.2244752.2.00

Im RIS seit

01.10.2021

Zuletzt aktualisiert am

01.10.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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