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82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art139 Abs1 Z1Leitsatz
Gesetzwidrigkeit der COVID-19-LockerungsV betreffend das Verbot des Betretens von Gastgewerbebetriebsstätten für Kunden in der Zeit von 01.00 bis 05.00 Uhr mangels nachvollziehbarer Dokumentation der EntscheidungsgrundlagenSpruch
I. 1. §6 Abs2 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl II Nr 197/2020, idF BGBl II Nr 287/2020 war gesetzwidrig.
2. Die als gesetzwidrig festgestellte Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.
II. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, der Verfassungsgerichtshof möge feststellen, dass §6 Abs2 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 287/2020 gesetzwidrig war.
II. Rechtslage
1. §§1 und 3 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz – im Folgenden: COVID-19-MG), BGBl I 12/2020, idF BGBl I 23/2020 (§1) und BGBl I 12/2020 (§3) lauteten auszugsweise:
"Betreten von Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und
Dienstleistungen sowie Arbeitsorte
§1. Beim Auftreten von COVID-19 kann der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz durch Verordnung das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen oder Arbeitsorte im Sinne des §2 Abs3 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit jene Betriebsstätten betreten werden dürfen, die vom Betretungsverbot ausgenommen sind. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten werden dürfen.
[…]
Strafbestimmungen
§3. (1) Wer eine Betriebsstätte betritt, deren Betreten gemäß §1 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen.
(2) Wer als Inhaber einer Betriebsstätte nicht dafür Sorge trägt, dass die Betriebsstätte, deren Betreten gemäß §1 untersagt ist, nicht betreten wird, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 30 000 Euro zu bestrafen. Wer als Inhaber einer Betriebsstätte nicht dafür Sorge trägt, dass die Betriebsstätte höchstens von der in der Verordnung genannten Zahl an Personen betreten wird, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen.
[…]."
2. §6 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend Lockerungen der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 ergriffen wurden (COVID-19-Lockerungsverordnung – COVID-19-LV), BGBl II 197/2020, idF BGBl II 287/2020 (die angefochtene Bestimmung ist hervorgehoben) lautete wie folgt:
"Gastgewerbe
§6. (1) Das Betreten von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe ist unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen zulässig.
(2) Der Betreiber darf das Betreten der Betriebsstätte für Kunden nur im Zeitraum zwischen 05.00 und 01.00 [Uhr] des folgenden Tages zulassen. Restriktivere Sperrstunden und Aufsperrstunden aufgrund anderer Rechtsvorschriften bleiben unberührt.
(3) Der Betreiber hat sicherzustellen, dass die Konsumation von Speisen und Getränken nicht in unmittelbarer Nähe der Ausgabestelle erfolgt.
(4) Der Betreiber hat die Verabreichungsplätze so einzurichten, dass zwischen den Besuchergruppen ein Abstand von mindestens einem Meter besteht. Dies gilt nicht, wenn durch geeignete Schutzmaßnahmen zur räumlichen Trennung das Infektionsrisiko minimiert werden kann.
(5) Vom erstmaligen Betreten der Betriebsstätte bis zum Einfinden am Verabreichungsplatz hat der Kunde gegenüber anderen Personen, die nicht zu seiner Besuchergruppe gehören, einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Beim Verlassen des Verabreichungsplatzes hat der Kunde gegenüber anderen Personen, die nicht zu seiner Besuchergruppe gehören, einen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten.
(6) Selbstbedienung ist zulässig, sofern durch besondere hygienische Vorkehrungen das Infektionsrisiko minimiert werden kann.
(7) Die Abs1 bis 10 gelten nicht für Betriebsarten der Gastgewerbe, die innerhalb folgender Einrichtungen betrieben werden:
1. Krankenanstalten und Kureinrichtungen;
2. Pflegeanstalten und Seniorenheime;
3. Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung von Kindern und Jugendlichen einschließlich Schulen und Kindergärten;
4. Betrieben, wenn diese ausschließlich durch Betriebsangehörige genützt werden dürfen;
5. Massenbeförderungsmittel."
III. Anlassverfahren, Antragsvorbringen und Vorverfahren
1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1.1. Mit Straferkenntnis des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Innsbruck vom 2. Oktober 2020 wurde dem Beschwerdeführer des Verfahrens vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol (im Folgenden: antragstellendes Gericht) zur Last gelegt, er habe am 27. August 2020 in der Zeit zwischen zumindest 01:23 Uhr und 01:53 Uhr in seiner Funktion als handelsrechtlicher Geschäftsführer eines näher bezeichneten Lokals und sohin als zur Vertretung nach außen berufenes Organ der genannten GmbH, die Gewerbeinhaberin des in der Betriebsart Diskothek geführten Gastgewerbebetriebes sei, nicht dafür Sorge getragen, dass die Betriebsstätte außerhalb des in §6 Abs2 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020 "idgF" normierten Zeitraums zwischen 01:00 Uhr und 05:00 Uhr von Kunden nicht betreten werde. Zur angeführten Zeit hätten sich im Gastgewerbebetrieb zumindest sechs Gäste aufgehalten und Getränke konsumiert. Eine Ausnahme nach §11 Abs9 der Verordnung sei nicht vorgelegen. Über den Beschwerdeführer des Verfahrens vor dem antragstellenden Gericht wurde daher eine Geldstrafe verhängt.
1.2. Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer des Verfahrens vor dem antragstellenden Gericht Beschwerde.
2. Das antragstellende Gericht legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar:
2.1. Zu den Prozessvoraussetzungen führt das antragstellende Gericht aus, dass das in §1 Abs2 VStG normierte "Günstigkeitsprinzip" im vorliegenden Fall nicht anzuwenden sei: Zwar sehe §1 Abs2 VStG vor, dass sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht richte, es sei denn, dass das zur Zeit der Entscheidung geltende Recht in seiner Gesamtauswirkung für den Täter günstiger wäre. Dies gelte allerdings nicht für "Zeitgesetze": Dabei handle es sich um Gesetze, die von vornherein nur für einen bestimmten Zeitraum gegolten hätten und der Wegfall der Regelung somit nicht auf einem geänderten Unwerturteil des Normgebers basiere (vgl VwGH 22.7.2019, Ra 2019/02/0107). Die COVID-19-LV idF BGBl II 287/2020 sei zwischenzeitlich mehrfach abgeändert und spätestens mit der COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung – COVID-19-SchuMaV, BGBl II 463/2020, aufgehoben worden. Die Aufhebung der Verordnung sei jedoch eindeutig auf eine Änderung der für die Anordnung relevanten Sachlage zurückzuführen und nicht auf eine nachträglich andere Beurteilung der Gefährlichkeit des Virus. Da die Handlung des Beschwerdeführers unter den zum Tatzeitpunkt geltenden §6 Abs2 COVID-19-LV idF BGBl II 287/2020 zu subsumieren und die behördlichen Verfolgungshandlungen auch in Übereinstimmung mit dieser Rechtsgrundlage gesetzt worden seien, sei §6 Abs2 dieser Verordnung im vorliegenden Verfahren präjudiziell. Dass die Verordnung bereits außer Kraft getreten sei, sei unter Verweis auf obige Ausführungen zu §1 Abs2 VStG unbeachtlich.
2.2. In der Sache führt das antragstellende Gericht zusammengefasst aus, der Verfassungsgerichtshof habe mit seinem [im Antrag in Auszügen wiedergegebenem] Erkenntnis vom 14. Juli 2020, V411/2020, ausgesprochen, dass der Gesetzgeber mit §1 COVID-19-MG dem Verordnungsgeber (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) einen Einschätzungs- und Prognosespielraum übertragen habe, ob und inwieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich halte, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Unternehmen, ihrer Arbeitnehmer und Kunden zu treffen habe. Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichte §1 COVID-19-MG vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B-VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraumes im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhalte, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fuße und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt sei. Die diesbezüglichen Anforderungen dürften naturgemäß nicht überspannt werden, sie würden sich maßgeblich danach bestimmen, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar sei. Auch in diesem Zusammenhang komme dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.
2.3. Das antragstellende Gericht verweist weiters auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Oktober 2020, G272/2020 ua In dieser Entscheidung sei der Verfassungsgerichtshof zu dem [im Antrag wörtlich wiedergegebenen] Ergebnis gekommen, dass die dort angefochtenen §6 Abs1 und 4 COVID-19-LV idF BGBl II 207/2020 und §6 Abs5 COVID-19-LV idF BGBl II 231/2020 gegen §1 COVID-19-MG verstoßen würden, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen habe, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt hätten, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar sei, warum der Verordnungsgeber die mit diesen Regelungen getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten habe.
2.4. Mit Schriftsatz vom 27. November 2020 sei seitens des antragstellenden Gerichtes das Ersuchen an das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz um Übermittlung der Verordnungsakten betreffend die Novellen der COVID-19-LV, BGBl II 266/2020, sowie BGBl II 287/2020 binnen vierzehn Tagen ergangen; dies zur Beurteilung der Frage, inwiefern das antragstellende Gericht die bezughabende Verordnung dem Verfassungsgerichtshof von Amts wegen vorzulegen habe. Das Ersuchen habe den Hinweis enthalten, dass im Falle, dass dem Ersuchen nicht entsprochen werde, davon ausgegangen werde, dass eine Begründung der Maßnahme gleich wie bei den vorherigen Fassungen der Verordnungen nicht vorliege. Ein Einlangen der Verordnungsakten des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz sei nicht erfolgt. Nach Ansicht des antragstellenden Gerichtes träfen die obigen Ausführungen demnach auch auf den hier verfahrensrelevanten §6 Abs2 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 287/2020 zu.
3. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (im Folgenden: BMSGPK) hat den Verordnungsakt zur Verordnung BGBl II 287/2020 vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der er ausführt, mangels inhaltlicher Bedenken des antragstellenden Gerichtes sehe er von einer inhaltlichen Stellungnahme zu §6 Abs2 COVID-19-LV idF BGBl II 287/2020 ab. Dadurch solle nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass die angefochtene Bestimmung inhaltlich als gesetz- oder verfassungswidrig angesehen werde. Zur behaupteten fehlenden Begründung verweist der BMSGPK auf den der Äußerung angeschlossenen Verordnungsakt.
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001, 16.927/2003).
1.2. Dem antragstellenden Gericht ist nicht entgegenzutreten, wenn es davon ausgeht, dass es §6 Abs2 COVID-19-LV idF BGBl II 287/2020 im Anlassverfahren anzuwenden hat. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof ist in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken beschränkt (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).
2.2. Der Antrag ist begründet.
2.3. Der Verfassungsgerichtshof hat mit seinem Erkenntnis vom 14. Juli 2020, V411/2020, ausgesprochen, dass der Gesetzgeber mit §1 COVID-19-MG [idF BGBl I 23/2020] dem Verordnungsgeber (BMSGPK) einen Einschätzungs- und Prognosespielraum, ob und wieweit er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 auch erhebliche Grundrechtsbeschränkungen für erforderlich hält, überträgt, womit der Verordnungsgeber seine Entscheidung als Ergebnis einer Abwägung mit den einschlägigen grundrechtlich geschützten Interessen der betroffenen Unternehmen, ihrer Arbeitnehmer und Kunden zu treffen hat. Der Verordnungsgeber muss also in Ansehung des Standes und der Ausbreitung von COVID-19 notwendig prognosehaft beurteilen, inwieweit in Aussicht genommene Betretungsverbote oder Betretungsbeschränkungen von Betriebsstätten zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geeignete (der Zielerreichung dienliche) erforderliche (gegenläufige Interessen weniger beschränkend und zugleich weniger effektiv nicht mögliche) und insgesamt angemessene (nicht hinnehmbare Grundrechtseinschränkungen ausschließende) Maßnahmen darstellen.
2.3.1. Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers umfasst insoweit auch die zeitliche Dimension dahingehend, dass ein schrittweises, nicht vollständig abschätzbare Auswirkungen beobachtendes und entsprechend wiederum durch neue Maßnahmen reagierendes Vorgehen von der gesetzlichen Ermächtigung des §1 COVID-19-MG vorgesehen und auch gefordert ist.
2.3.2. Angesichts der damit inhaltlich weitreichenden Ermächtigung des Verordnungsgebers verpflichtet §1 COVID-19-MG vor dem Hintergrund des Art18 Abs2 B-VG den Verordnungsgeber im einschlägigen Zusammenhang auch, die Wahrnehmung seines Entscheidungsspielraums im Lichte der gesetzlichen Zielsetzungen insoweit nachvollziehbar zu machen, als er im Verordnungserlassungsverfahren festhält, auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt ist. Die diesbezüglichen Anforderungen dürfen naturgemäß nicht überspannt werden, sie bestimmen sich maßgeblich danach, was in der konkreten Situation möglich und zumutbar ist. Auch in diesem Zusammenhang kommt dem Zeitfaktor entsprechende Bedeutung zu.
2.4. All dies hat der Verfassungsgerichtshof bei seiner Prüfung, ob der BMSGPK den gesetzlichen Vorgaben bei Erlassung der angefochtenen Regelung des §6 Abs2 COVID-19-LV idF BGBl II 287/2020 entsprochen hat, zu berücksichtigen. Dass es damit dafür, ob die angefochtenen Verordnungsbestimmungen mit den Zielsetzungen des §1 COVID-19-MG im Einklang stehen, auch auf die Einhaltung bestimmter Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verfahren der Verordnungserlassung ankommt, ist kein Selbstzweck. Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu (vgl auch VfGH 1.10.2020, G272/2020 ua; 1.10.2020, V405/2020; 1.10.2020, V429/2020).
2.5. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 1. Oktober 2020, V429/2020, ausgesprochen, dass §6 COVID-19-LV idF BGBl II 197/2020 gesetzwidrig war. Mit Erkenntnis vom selben Tag, G272/2020 ua, hat der Verfassungsgerichtshof §6 Abs1 und 4 COVID-19-LV idF BGBl II 207/2020 als gesetzwidrig aufgehoben sowie ausgesprochen, dass §6 Abs5 COVID-19-LV idF BGBl II 231/2020 gesetzwidrig war. Diese Bestimmungen verstießen gegen §1 COVID-19-MG, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit diesen Regelungen getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat.
2.6. Mit der Verordnung BGBl II 207/2020 ("1. COVID-19-Novelle") wurde §6 COVID-19-LV mit Wirkung vom 15. Mai 2020 neu gefasst und damit auch erstmals die Sperrstundenregelung für Kunden von Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe in §6 Abs2 COVID-19-LV angeordnet. Damit wurde deren Betreten – ausgenommen restriktiverer (Auf-)Sperrstunden nach anderen Rechtsvorschriften – zunächst im Zeitraum zwischen 06:00 Uhr und 23:00 Uhr zugelassen. Zur Verordnung BGBl II 207/2020 hat der Verfassungsgerichtshof bereits festgehalten, dass dem der Verordnung zugrunde liegenden Verordnungsakt keine Entscheidungsgrundlagen, Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der zu erlassenden Regelung betreffen, zu entnehmen sind (vgl VfGH 1.10.2020, G272/2020 ua).
2.7. Die Regelung des §6 Abs2 COVID-19-LV wurde in weiterer Folge mit der Verordnung BGBl II 266/2020 (Erweiterung des Zeitraumes des zulässigen Betretens auf 06:00 Uhr bis 01:00 Uhr) und der Verordnung BGBl II 287/2020 (Erweiterung des Zeitraumes des zulässigen Betretens auf 05:00 Uhr bis 01:00 Uhr) geändert. Als Grundlagen für die Erlassung (ua) der angefochtenen Bestimmung des §6 Abs2 COVID-19-LV in der hier angefochtenen Fassung BGBl II 287/2020 finden sich in dem vom BMSGPK im vorliegenden Verfahren vorgelegten Verordnungsakt zur Verordnung BGBl II 287/2020 (6. COVID-19-LV-Novelle) nachstehende Unterlagen und Angaben:
2.7.1. Unter der Überschrift "Fahrplan für die 6. Novelle der Lockerungsverordnung" liegt ein Papier ein, das allgemein schlagwortartig Regelungen auflistet, die jeweils ab 1. Juli 2020 bzw 1. August 2020 und 1. September 2020 gelten sollen. Im Hinblick auf die angefochtene Bestimmung findet sich darin Folgendes:
"Ab 1.7.
[…]
? Ausweitung der Sperrstunde auf 5:00-1:00 (derzeit 6:00-1:00) […]"
2.7.2. Dem Verordnungsakt liegen weiters mehrere Entwürfe und die kundgemachte Verordnung sowie mehrere E-Mails von diversen Stellen innerhalb und außerhalb des Ressorts ein, die jedoch keine die Erlassung der Verordnung begründenden Aspekte enthalten. Auf den Stand der möglichen Entwicklungsszenarien von COVID-19 bezugnehmende und die (in Aussicht genommenen) Maßnahmen dazu und zu den sonstigen zu berücksichtigenden Interessen in Beziehung setzende Unterlagen oder Angaben finden sich nicht.
2.8. Damit genügt der angefochtene §6 Abs2 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 287/2020 den Vorgaben des §1 COVID-19-MG nicht: Entscheidungsgrundlagen, Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der zu erlassenden Regelung betreffen, fehlen im Verordnungsakt gänzlich. Es ist aus den vorgelegten Verordnungsakten nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID-19 den Verordnungsgeber bei seiner Entscheidung hinsichtlich der in §6 Abs2 COVID-19-LV idF BGBl II 287/2020 genannten Sperrstundenregelung für Betriebsstätten sämtlicher Betriebsarten der Gastgewerbe geleitet haben.
2.9. §6 Abs2 COVID-19-LV, BGBl II 197/2020, idF BGBl II 287/2020 verstößt somit gegen §1 COVID-19-MG, weil es der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass entsprechend nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffene Maßnahme für erforderlich gehalten hat.
2.10. Da §6 Abs2 COVID-19-LV idF BGBl II 287/2020 bereits außer Kraft getreten ist, genügt es festzustellen, dass die Bestimmung gesetzwidrig war.
V. Ergebnis
1. Die COVID-19-LV, BGBl II 197/2020 (seit der Verordnung BGBl II 407/2020 als COVID-19-Maßnahmenverordnung bezeichnet), ist mit Ablauf des 2. November 2020 außer Kraft getreten (vgl §19 Abs1 und 2 COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung, BGBl II 463/2020, und §19 Abs3 COVID-19-Notmaßnahmenverordnung, BGBl II 479/2020). Der Verfassungsgerichtshof hat sich daher gemäß Art139 Abs4 B-VG auf die Feststellung zu beschränken, dass §6 Abs2 COVID-19-LV, BGBl II197/2020, idF BGBl II 287/2020 gesetzwidrig war.
2. Der Ausspruch, dass die unter Punkt 1. genannte Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist, stützt sich auf Art139 Abs6 zweiter Satz B-VG.
3. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Aussprüche erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B-VG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
COVID (Corona), Determinierungsgebot, Legalitätsprinzip, VfGH / Gerichtsantrag, VerordnungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:V21.2021Zuletzt aktualisiert am
04.10.2021