TE Vfgh Erkenntnis 2021/6/25 V55/2021 (V55/2021-10)

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Veröffentlicht am 25.06.2021
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Index

90/01 Straßenverkehrsordnung 1960

Norm

B-VG Art139 Abs1 Z1
StVO 1960 §43 Abs1, §44
GeschwindigkeitsbegrenzungsV des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz vom 17.12.1991
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Aufhebung der Geschwindigkeitsbeschränkung einer oberösterreichischen Gemeinde mangels Bestehens eines Verordnungsaktes; keine Möglichkeit festzustellen, ob ein Ermittlungsverfahren durchgeführt wurde

Spruch

I. Die Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz vom 17. Dezember 1991, Z101 - 5/19, wird als gesetzwidrig aufgehoben.

II. Die Oberösterreichische Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B-VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich, der Verfassungsgerichtshof möge die Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz vom 17. Dezember 1991, Z101 - 5/19, als gesetzwidrig aufheben.

II. Rechtslage

1. Die Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz vom 17. Dezember 1991, Z101 - 5/19, lautet:

"Verordnung

Aus den im Akt ersichtlichen Gründen wird gemäß §43 StVO 1960 i.d.g. Fassung verordnet:

Auf der Dallingerstraße ist in beiden Fahrtrichtungen das Überschreiten einer Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h verboten.

(§52 lita Z10 a und 10 b StVO 1960)

Die Verkehrsregelung (Verkehrsgebote, -beschränkung) gilt dauernd.

[…]"

2. Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 6. Juli 1960, mit dem Vorschriften über die Straßenpolizei erlassen werden (Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960), BGBl 159/1960 in der jeweils maßgeblichen Fassung, lauten:

"§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.

(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung

a) […]

b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,

1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,

2. […].

(1a)–(11) […]

[…]

§44. Kundmachung der Verordnungen.

(1) Die im §43 bezeichneten Verordnungen sind, sofern sich aus den folgenden Absätzen nichts anderes ergibt, durch Straßenverkehrszeichen oder Bodenmarkierungen kundzumachen und treten mit deren Anbringung in Kraft. Der Zeitpunkt der erfolgten Anbringung ist in einem Aktenvermerk (§16 AVG) festzuhalten. Parteien im Sinne des §8 AVG ist die Einsicht in einen solchen Aktenvermerk und die Abschriftnahme zu gestatten. Als Straßenverkehrszeichen zur Kundmachung von im §43 bezeichneten Verordnungen kommen die Vorschriftszeichen sowie die Hinweiszeichen 'Autobahn', 'Ende der Autobahn', 'Autostraße', 'Ende der Autostraße', 'Einbahnstraße', 'Ortstafel', 'Ortsende', 'Internationaler Hauptverkehrsweg', 'Straße mit Vorrang', 'Straße ohne Vorrang', 'Straße für Omnibusse' und 'Fahrstreifen für Omnibusse' in Betracht. Als Bodenmarkierungen zur Kundmachung von im §43 bezeichneten Verordnungen kommen Markierungen, die ein Verbot oder Gebot bedeuten, wie etwa Sperrlinien, Haltelinien vor Kreuzungen, Richtungspfeile, Sperrflächen, Zickzacklinien, Schutzwegmarkierungen oder Radfahrerüberfahrtmarkierungen in Betracht.

(1a)–(5) […]

[…]

§52. Die Vorschriftszeichen

Die Vorschriftszeichen sind

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen,

b) Gebotszeichen oder

c) Vorrangzeichen.

a) Verbots- oder Beschränkungszeichen

1.–9d. […]

10a. 'GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG (ERLAUBTE HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT)'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt an, dass das Überschreiten der Fahrgeschwindigkeit, die als Stundenkilometeranzahl im Zeichen angegeben ist, ab dem Standort des Zeichens verboten ist. Ob und in welcher Entfernung es vor schienengleichen Eisenbahnübergängen anzubringen ist, ergibt sich aus den eisenbahnrechtlichen Vorschriften.

10b. 'ENDE DER GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG'

[Zeichen]

Dieses Zeichen zeigt das Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung an. Es ist nach jedem Zeichen gemäß Z10a anzubringen und kann auch auf der Rückseite des für die Gegenrichtung geltenden Zeichens angebracht werden. Es kann entfallen, wenn am Ende der Geschwindigkeitsbeschränkung eine neue Geschwindigkeitsbeschränkung, sei es auch nicht aufgrund dieses Bundesgesetzes, beginnt.

11.–25b. […]

[…]

§51. Allgemeines über Vorschriftszeichen.

(1)–(4) […]

(5) Mündet in einen Straßenabschnitt, für den durch Vorschriftszeichen Verkehrsbeschränkungen kundgemacht sind, eine andere Straße ein, so können diese Beschränkungen auch schon auf der einmündenden Straße durch die betreffenden Vorschriftszeichen mit einer Zusatztafel mit Pfeilen angezeigt werden. Solche Zeichen sind im Ortsgebiet höchstens 20 m und auf Freilandstraßen höchstens 50 m vor der Einmündung anzubringen.

[…]

§94b. Zuständigkeit der Bezirksverwaltungsbehörde

(1) Behörde im Sinne dieses Bundesgesetzes ist, sofern der Akt der Vollziehung nur für den betreffenden politischen Bezirk wirksam werden soll und sich nicht die Zuständigkeit der Gemeinde oder – im Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist – der Landespolizeidirektion ergibt, die Bezirksverwaltungsbehörde

a) […]

b) für die Erlassung von Verordnungen und Bescheiden,

c)–h) […].

(2) […]"

III. Antragsvorbringen und Vorverfahren

1. Dem Beschwerdeführer im Verfahren vor dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht (im Folgenden: Beschwerdeführer) wurde mit Straferkenntnis der Landespolizeidirektion Oberösterreich eine Übertretung des §52 lita Z10 StVO 1960 zur Last gelegt, weil er am 13. Februar 2020 um 23.00 Uhr in Linz, Dallingerstraße nächst Kotzinastraße 15, in Richtung stadteinwärts ein dem Kennzeichen nach näher bestimmtes Kraftfahrzeug gelenkt und dabei in dem angeführten Bereich, welcher außerhalb eines Ortsgebietes liege, die durch Straßenverkehrszeichen in diesem Bereich kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 51 km/h überschritten habe. Über den Beschwerdeführer wurde daher gemäß §99 Abs2e StVO 1960 eine Geldstrafe in der Höhe von € 350,– (Ersatzfreiheitsstrafe in der Dauer von fünf Tagen und 22 Stunden) verhängt.

2. Aus Anlass des Beschwerdeverfahrens gegen dieses Straferkenntnis stellt das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich den vorliegenden Antrag.

2.1. Das antragstellende Landesverwaltungsgericht führt zur Frage der Präjudizialität der angefochtenen Verordnung aus, dass sich der Strafausspruch des Straferkenntnisses auf die angefochtene Verordnung stütze und dass diese daher im Beschwerdeverfahren zur Beurteilung der Strafbarkeit des Beschwerdeführers heranzuziehen sei.

2.2. In der Folge legt das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof veranlasst haben, wie folgt dar:

2.2.1. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes habe die Behörde vor Erlassung einer Verkehrsbeschränkung nach §43 Abs1 StVO 1960 die im Einzelnen in dieser Bestimmung umschriebenen Interessen daran mit dem Interesse an der ungehinderten Benützung der Straße abzuwägen und dabei die (tatsächliche) Bedeutung des Straßenzuges zu berücksichtigen. Diese gebotene Interessenabwägung erfordere sowohl eine nähere sachverhaltsmäßige Klärung der Gefahren oder Belästigungen für Bevölkerung und Umwelt, vor denen die Verkehrsbeschränkung schützen solle, als auch eine Untersuchung der Verkehrsbeziehungen und der Verkehrserfordernisse durch ein entsprechendes Anhörungs- und Ermittlungsverfahren.

Die verordnungserlassende Behörde habe – soweit dies aus dem im Beschwerdeverfahren vorgelegten Verordnungsakt erkennbar sei – vor Erlassung der angefochtenen Verordnung kein Ermittlungsverfahren durchgeführt und damit auch die gemäß §43 StVO 1960 gebotene Interessenabwägung unterlassen.

2.2.2. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich verweist ferner auf die Pflicht des Verordnungsgebers, den örtlichen Geltungsbereich einer auf §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960 gestützten verkehrsbeschränkenden Maßnahme möglichst genau zu umschreiben. Die Verordnung müsse so bestimmt sein, dass für den Normunterworfenen bereits anhand des Verordnungstextes selbst – und einer allenfalls von der Verordnung mitumfassten planlichen Darstellung – zweifelsfrei zum Ausdruck komme, für welchen Bereich die angeordnete Verkehrsbeschränkung gelte, sodass er sich danach richten könne.

Im vorliegenden Fall seien dem Text der angefochtenen Verordnung keine konkreten Angaben betreffend den örtlichen Geltungsbereich zu entnehmen und es gebe auch keine diesbezügliche planliche Darstellung, sodass der Beginn und das Ende der Verkehrsbeschränkung nicht ausreichend determiniert seien.

2.2.3. Schließlich bringt das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich vor, die angefochtene Verordnung sei nicht ordnungsgemäß kundgemacht worden, weil eine entsprechende Kundmachung weder gemäß §51 Abs5 StVO 1960 in der in die Dallingerstraße einmündenden Kotzinastraße noch nach der Einmündung in der Dallingerstraße selbst erfolgt sei.

3. Die verordnungserlassende Behörde hat die angefochtene Verordnung vorgelegt und mitgeteilt, dass der Bezug habende Verordnungsakt in Verstoß geraten sei und daher nicht übermittelt werden könne. Die verordnungserlassende Behörde teilte ferner mit, dass seitens der Bau- und Bezirksverwaltung ein straßenpolizeiliches Verfahren zur Neuerlassung der in Rede stehenden Geschwindigkeitsbeschränkung eingeleitet worden sei. Eine darüber hinausgehende Äußerung wurde nicht erstattet.

4. Die Oberösterreichische Landesregierung hat keine Äußerung erstattet.

5. Der Beschwerdeführer hat als beteiligte Partei eine Äußerung erstattet, in der er sich den Bedenken des antragstellenden Gerichtes anschließt.

IV. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1. Der Verfassungsgerichtshof geht beginnend mit VfSlg 20.182/2017 davon aus, dass eine "gehörig kundgemachte" generelle Norm – also eine an einen unbestimmten, externen Personenkreis adressierte, verbindliche Anordnung von Staatsorganen – bereits dann vorliegt, wenn eine solche Norm ein Mindestmaß an Publizität und somit rechtliche Existenz erlangt (vgl zB VfSlg 12.382/1990, 16.875/2003, 19.058/2010, 19.072/2010, 19.230/2010 uva.; vgl auch VfGH 18.9.2015, V96/2015, sowie die Rechtsprechung zu nicht ordnungsgemäß kundgemachten Gesetzen VfSlg 16.152/2001, 16.848/2003 und die darin zitierte Vorjudikatur). Es ist nicht notwendig, dass die Kundmachung der Norm in der rechtlich vorgesehenen Weise erfolgt. Demnach haben auch Gerichte gesetzwidrig kundgemachte Verordnungen gemäß Art139 B-VG anzuwenden und diese, wenn sie Bedenken gegen ihre rechtmäßige Kundmachung haben, vor dem Verfassungsgerichtshof anzufechten. Bis zur Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof sind sie für jedermann verbindlich.

Die angefochtene Verordnung ist durch Aufstellung von Straßenverkehrszeichen gemäß §52 lita Z10a und Z10b StVO 1960 kundgemacht worden, sodass sie mit verbindlicher Wirkung für jedermann zustande gekommen ist.

1.2. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was am Vorliegen dieser Voraussetzungen zweifeln ließe.

1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).

Der Antrag ist begründet.

2.2. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich äußert zunächst Bedenken, dass die angefochtene Verordnung mangels Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und damit auch mangels Vornahme der gemäß §43 StVO 1960 gebotenen Interessenabwägung gesetzwidrig sei.

2.3. §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960 sieht die Erlassung dauernder oder vorüber-gehender Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung vor, wenn und soweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert.

2.4. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hat die Behörde vor Erlassung einer verkehrsbeschränkenden Verordnung die im Einzelnen umschriebenen Interessen an der Verkehrsbeschränkung mit dem Interesse an der ungehinderten Benützung der Straße abzuwägen und dabei die (tatsächliche) Bedeutung des Straßenzuges zu berücksichtigen (vgl zB VfSlg 8086/1977, 9089/1981, 12.944/1991, 13.449/1993, 13.482/1993). Die sohin gebotene Interessenabwägung erfordert sowohl die nähere sachverhaltsmäßige Klärung der Gefahren oder Belästigungen für Bevölkerung und Umwelt, vor denen die Verkehrsbeschränkung schützen soll, als auch eine Untersuchung der Verkehrsbeziehungen und der Verkehrserfordernisse durch ein entsprechendes Anhörungs- und Ermittlungsverfahren (vgl zB VfSlg 12.485/1990, 16.805/2003, 17.572/2005). Die Gefahrensituation muss sich für die betreffende Straße deutlich von der allgemeinen, für den Straßenverkehr typischen Gefahrenlage unterscheiden (vgl zB VfSlg 14.000/1994). Wie der Verfassungsgerichtshof in den Erkenntnissen VfSlg 8984/1980 und 9721/1983 ausführte und in zahlreichen nachfolgenden Erkenntnissen wiederholte (vgl VfSlg 13.371/1993, 14.051/1995, 15.643/1999, 16.016/2000, 16.805/2003, 17.572/2005), sind bei der Prüfung der Erforderlichkeit einer Verordnung nach §43 StVO 1960 die bei der bestimmten Straße oder Straßenstrecke, für die die Verordnung erlassen werden soll, anzutreffenden, für den spezifischen Inhalt der betreffenden Verordnung relevanten Umstände mit jenen Umständen zu vergleichen, die für eine nicht unbedeutende Anzahl anderer Straßen zutreffen. Der Verfassungsgerichtshof geht somit in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Behörde bei Anwendung der vom Gesetzgeber mit unbestimmten Begriffen umschriebenen Voraussetzungen für die Erlassung von Verkehrsbeschränkungen oder -verboten durch Verordnung einen Vergleich der Verkehrs- und Umweltverhältnisse anzustellen hat: Die betreffenden Verhältnisse an den Straßenstrecken, für welche beispielsweise eine Geschwindigkeitsbeschränkung in Betracht gezogen wird, müssen derart beschaffen sein, dass sie gegenüber anderen Straßen die Verhängung einer Geschwindigkeitsbeschränkung gebieten.

2.5. Dem Verfassungsgerichtshof ist es angesichts der Mitteilung durch die verordnungserlassende Behörde, dass kein Verordnungsakt existiere, nicht möglich festzustellen, dass die verordnungserlassende Behörde vor Erlassung der angefochtenen Verordnung ein Ermittlungsverfahren durchgeführt hat, in dem die gemäß §43 StVO 1960 vor Verordnungserlassung gebotene Interessenabwägung durchgeführt wurde. Die verordnungserlassende Behörde hat im Verfahren auch nicht vorgebracht, dass ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren stattgefunden hätte.

Das Ermittlungsverfahren dient dem Zweck, eine Untersuchung der Verkehrsbeziehungen und der Verkehrsverhältnisse sowie eine sachverhaltsmäßige Klärung der Gefahren oder Belästigungen für Bevölkerung und Umwelt, vor denen die Verkehrsbeschränkung schützen soll, zu ermöglichen, damit die Behörde auf dieser Grundlage die gemäß §43 StVO 1960 vor Verordnungserlassung gebotene Interessenabwägung zwischen den Interessen an der Verkehrsbeschränkung und dem Interesse an der ungehinderten Benützung der Straße vornehmen kann (vgl zB VfSlg 18.492/2008).

2.6. Da die Durchführung eines Ermittlungsverfahrens sowie die Vornahme der gebotenen Interessenabwägung vor Erlassung der angefochtenen Verordnung nicht dargelegt wurden, findet die angefochtene Verordnung wegen eines Verstoßes gegen §43 Abs1 litb Z1 StVO 1960 keine Deckung im Gesetz. Die angefochtene Verordnung ist schon aus diesem Grund als gesetzwidrig aufzuheben, daher erübrigt sich ein Eingehen auf weitere Bedenken des antragstellenden Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich.

V. Ergebnis

1. Die Verordnung des Bürgermeisters der Landeshauptstadt von Linz vom 17. Dezember 1991, Z101 - 5/19, ist als gesetzwidrig aufzuheben.

2. Die Verpflichtung der Oberösterreichischen Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §59 Abs2 VfGG iVm §4 Abs1 Z2 litb Oberösterreichisches Verlautbarungsgesetz.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Der beteiligten Partei sind die für die abgegebene Äußerung begehrten Kosten nicht zuzusprechen, weil es im Falle eines auf Antrag eines Gerichtes eingeleiteten Normenprüfungsverfahrens Sache des antragstellenden Gerichtes ist, über allfällige Kostenersatzansprüche nach den für sein Verfahren geltenden Vorschriften zu erkennen (zB VfSlg 19.019/2010 mwN).

Schlagworte

Geschwindigkeitsbeschränkung, Verordnungserlassung, Ermittlungsverfahren, Straßenverkehrszeichen, Straßenpolizei, VfGH / Gerichtsantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:V55.2021

Zuletzt aktualisiert am

30.09.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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